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Platonische Liebe.

Evariste Rousseau-Latouche, Abgeordneter eines der aufgeklärtesten Departements, hatte seinen Sitz im linken Zentrum des Parlaments.

In seiner äußeren Erscheinung war er einer von den Herren, die immer so aussehen, als ob sie »der Onkel« wären.

Er war ungefähr 45 Jahre alt, und obwohl er etwas weichlich aussah, war er doch recht widerstandsfähig. Das Alter machte sich zwar schon etwas geltend, die Backen sahen ziemlich aufgedunsen aus; aber er war ein Freund von Schönheitsmitteln und milderte durch deren regelmäßige Anwendung die Kupferröte seines Gesichtes. Er hatte eine große scharf gezeichnete Nase, die Augen waren grau; die volle, sehr rote Unterlippe stand etwas vor, die seine Oberlippe bildete die letzte Linie des Vierecks, mit dem man sein Kinn umschreiben konnte. Seine Hautfarbe war sehr frisch, was sie allerdings wohl teilweise der sorgsamen Pflege und den kosmetischen Mitteln verdankte, die jetzt in Gebrauch sind. Er war so recht der Typus eines tüchtigen Mannes unserer Zeit, der keinen Aberglauben kennt, einen hellen, offenen Kopf hat, sich nicht durch große Worte betören läßt und in allem, was Industrie und Politik betrifft, wirklich sachverständig und gut bewandert ist.

Im Jahre 1876 hatte er Fräulein Friederike d'Allepraine geheiratet. Sie war damals eine Waise von 17 Jahren, und die Dame, unter deren Obhut und Vormundschaft sie lebte, hatte ihm ihre Hand gern bewilligt, weil das vornehme und ernste Aussehen, das angenehme, sichere Auftreten des allgemein geachteten Mannes ihr Vertrauen erweckt hatte. Außerdem paßten die gegenseitigen Verhältnisse sehr gut.

Rousseau-Latouche hatte sich sein Vermögen durch ein großes Leinwandgeschäft erworben. Er hatte sein Geld wirklich durch ehrliche Arbeit verdient, natürlich auch durch vernünftige Verwertung aller ihm günstigen Umstände, die ja nur untüchtige Leute unberücksichtigt lassen. Er galt allgemein für einen höchst achtenswerten Mann.

Was seine Moral betrifft, so bekannte er sich zu den geläufigen Anschauungen der modernen Welt. Seine Grundsätze ließen sich ungefähr folgendermaßen zusammenstellen:

1. Im Punkte der Religion hielt er dafür, daß jeder andere Kultus durchaus so berechtigt sei wie das Christentum, da jede Religion ja ihre glühenden Fanatiker und Märtyrer gehabt hat. Er sah die herrschende Religion wie eine Modesache an, die vorübergeht und die wie ein Nebel durch die aufgehende Sonne der Wissenschaft erhellt wird.

2. Sein politisches Glaubensbekenntnis ging dahin, daß die Zeit des Königtums vorüber sei, nicht nur für Frankreich, sondern auch überall anderswo, und daß man ganz von selbst dazu kommen würde, es überall abzuschaffen.

3. Was angewandte Moral betrifft, so meinte er, es sei stets das gescheiteste, die gesunden Regeln der Ehrbarkeit zu befolgen (soweit dies möglich sei!), ja kein öffentliches Ärgernis zu geben und nicht dem Fortschritt entgegenzustreben.

4. Im geselligen Leben hielt er dafür, daß es das beste sei, das Gerede gewisser altmodischer Leute, die nicht mit der Zeit fortgeschritten sind, lächelnd und kaltblütig über sich ergehen zu lassen, da die letzten von ihnen ja schließlich ebenso von der Bildfläche verschwinden würden wie die letzten Rothäute in Amerika.

Kurz, Rousseau-Latouche war wirklich ein Mann, der sehr viele Sympathien besaß, wie sie heutzutage fast alle die haben, die eine offene (wenn auch leere!) Hand und dazu genug Selbstbeherrschung besitzen, um im rechten Augenblick im Brustton der Überzeugung mit dem Worte »Brüderlichkeit« um sich zu werfen – d. h. mit dem Worte, das heute am populärsten und einträglichsten ist!

Madame Rousseau-Latouche, geborene Friederike d'Allepraine, war körperlich und geistig sehr verschieden von ihrem Manne.

Sie war das, was man »eine schöne Seele« nennt. Ein Wesen vom Jenseits, das an einen irdischen Körper gefesselt schien. Sie war eine ernst und vornehm aussehende Schönheit, von jenem seltenen Glanze, der der Zeit zu trotzen scheint. Sie hatte etwas Imponierendes, und der Zauber, der von ihr ausging, war bedrückend und demütigend. Der keusche kalte Blick ihrer klaren blauen Augen, die durchsichtige Blässe ihres edeln Antlitzes, sowie die Grazie ihres freundlichen, herablassenden Wesens gefiel allen.

Obwohl sie fast dreißig Jahre alt war, vermochte sie noch ernste Lieben und tiefe Leidenschaften einzuflößen. Alle, die sie kannten, selbst die, die nur ganz oberflächlich mit ihr verkehrten, hatten das Gefühl, als ob sie hoch über allen gewöhnlichen Menschen stände, und wenn sie sich auch überaus einfach und bescheiden gab, huldigte doch jeder willig diesem seltenen Ausnahmewesen, das in einer Umgebung lebte, in die es so wenig zu passen schien. Sie eignete sich durchaus nicht für das gesellige Leben; obwohl sie augenscheinlich den besten Willen hatte, ihren Platz auszufüllen, schien es doch immer, als ob sie sich fremd darin fühle. Die Damen erklärten achselzuckend: »Sie ist uns zu sehr überlegen!« und gingen dann mit einem halben Lächeln zu einem anderen Gesprächsstoff über.

Sie hatte einen unverständlichen und ganz außergewöhnlichen Geschmack. Sie liebte die Musik, in der sie ausgebildet war und wirklich ganz Außergewöhnliches leistete; aber nur die ernstesten klassischen Meisterwerke geistlichen Inhaltes fanden Gnade vor ihren Augen, und es fiel ihr nicht ein, den Wünschen und Bitten anderer je das kleinste Zugeständnis zu machen. Ebenso las sie nur Bücher geistigen Inhaltes und reinsten Stiles. Sie war keine Weltdame, und obwohl ihre Stellung sie dazu berechtigte und ihr sogar gewisse Repräsentationspflichten auferlegte, so erschien sie doch nur dann bei offiziellen Festen, wenn sie es ihres Mannes wegen durchaus nicht vermeiden konnte. Sie sprach wenig, liebte die Einsamkeit und hielt sich am liebsten in ihrem Zimmer auf, wo sie die Zeit damit verbrachte, in ihrer einfachen strenggläubigen Weise zu beten. Da sie selbst keine Kinder hatte, war es ihr eine liebe Pflicht, armen Leuten Geld und nützliche Dinge (das letztere lieber wie das erstere) zu bringen, und um sich dieses Vergnügen oft zu verschaffen, gab sie für sich selbst so wenig wie nur möglich aus. Denn obwohl Evariste durchaus nicht geizig war, duldete er doch keinerlei übertriebene Ausgaben und wußte seine Börse stets zur rechten Zeit zu verschließen.

Da Herr Rousseau-Latouche ein aufgeklärter Mann, ein Eklektiker war, der sich an kein bestimmtes System band, ließ er vollständig den Standpunkt gelten, den seine liebe Friederike einnahm. Er erklärte denselben für echt weiblich; im Grunde aber paßte er ihm recht gut. Und zwar aus verschiedenen Gründen.

Einmal war das ja ein Zeichen vornehmer Abstammung, deren kleine Atavismen man verzeihen konnte, um so mehr, da sie ja einer Frau etwas pikantes verleihen. Denn, wenn er selbst auch über solche Kinkerlitzchen lachte, so wußte er doch recht gut, daß sie in gewissen Kreisen, die immerhin einigen Einfluß hatten, noch galten; es war daher recht gut, daß er dort eine fromme Frau vorweisen konnte. Endlich gab dieser ernste Sinn, bis ein festeres Band gefunden, eine gewisse Garantie für das eheliche Glück, besonders bei einem Staats- und Geschäftsmanne, wie er einer war, dessen Tage so ausgefüllt waren und dem wirklich nur wenig Zeit für seine Frau und den häuslichen Herd übrig blieb. Die religiöse Schwärmerei Friederikens erschien ihm wie ein natürlicher Schutz gegen die Versuchungen des modernen Lebens, denen eine schöne, junge Frau ausgesetzt ist, namentlich wenn sie viel auf sich selbst angewiesen ist. Die unantastbare Frömmigkeit seiner lieben Frau erhöhte also nur die Achtung und Liebe, die er für sie empfand. Evariste war ja selbst – besonders im Prinzip – sehr tugendhaft. Aber selbstredend, das Leben, was man so das Leben nennt, kannte er sehr genau und hatte kaum je eine Gelegenheit versäumt, es zu genießen. Man muß nicht pedantisch sein! Das macht ja auch weiter gar nichts aus, wir leben doch in einem aufgeklärten Zeitalter! – – – Warum also sollte dieser kluge Ehemann seine Gemütlichkeit preisgeben, um seine Frau von einem frommen Wahne zu heilen, der ihm nie hinderlich, ja manchmal recht nützlich war?

Fast das ganze Jahr über lebten die Rousseau-Latouches in ihrem hübschen Stadthause an der Avenue des Ternes. Nur im Sommer, während der Parlamentsferien, pflegte Evariste mit seiner jungen Frau sein reizendes Landhaus zu beziehen, das in der Gegend von Sceaux lag. Da man dort zurückgezogen lebte und keine Gäste empfing, waren die Abende manchmal ein bischen langweilig. Aber man stand sehr früh auf, um den herrlichen Sommermorgen zu genießen und konnte also auch gut früher zu Bette gehen.

Große Gärten und ein nettes Wäldchen umgaben das hübsche Landhaus. Da Herr Rousseau-Latouche sehr empfänglich für den Reiz der Natur war, pflegte er schon vor sieben Uhr im bequemen Hausrock mit einem Panamahute und mit einer großen Gartenschere bewaffnet durch die Alleen und Gänge seines Gartens zu wandern, um die Rosen und Zwergobstbäume zu beschneiden, um seine Melonen und Blumen zu begießen und aufzubinden. Erst gegen zwölf Uhr kehrte er heim, um zu frühstücken, dann zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, nahm die Post in Empfang, korrespondierte und las Zeitungen. Die junge Frau beschäftigte sich indessen mit den Armen, die der Pfarrer des Ortes ihr empfohlen hatte, dazu kam die Führung des Haushaltes, vielleicht noch ein wenig Musik und Lektüre. Das war völlig genug, um die sechs Wochen, die man in dieser schönen Abgeschiedenheit verbrachte, angenehm auszufüllen.

Ende Juni letzten Jahres nun bekamen die Rousseau-Latouches ganz unerwartet den Besuch eines jungen Verwandten, der aus dem alten Städtchen Jumièges kam und nach Paris wollte, um sich alles anzusehen, und um sich vielleicht, wenn es ihm gefiel, dauernd dort niederzulassen.

Herr Benedikt d'Allepraine war weitläufig mit Friederike verwandt. Er war ungefähr sechs Jahre jünger als sie. Sie hatten früher, als ihre Eltern noch lebten, viel mit einander gespielt, hatten sich aber seitdem niemals wieder gesehen, nur gelegentlich durch andere Verwandte von einander gehört und sich freundliche Grüße geschickt, wodurch sie immerhin in einer gewissen Verbindung mit einander geblieben waren. Er war ein ziemlich schweigsamer, aber sehr hübscher junger Mann, der einen sanften, liebenswürdigen Eindruck machte, entschieden etwas vornehmes in seinem Wesen und vollendet gute Manieren hatte. Herr Rousseau-Latouche, der ihn übrigens sehr gern hatte, meinte freilich, er schmecke ein wenig nach der Provinz.

Wenn man bedenkt, wie selten ein vollständiges Übereinstimmen der Charaktere und der Neigungen ist, muß man sich wirklich darüber Wundern, wie außerordentlich gut Benedikt d'Allepraine und Friederike zu einander paßten. Er beschäftigte sich fast ausschließlich mit geistigen Dingen und seine ernste Richtung ließ ihn alle irdischen Angelegenheiten mit einer gewissen Verachtung betrachten. Sein Vermögen genügte ihm vollständig; obwohl es sehr bescheiden war, bemühte er sich nicht, es zu vermehren, er lebte sorglos dahin.

Er war kein »geborener Dichter«. Aber er war ein Dichter geworden, indem er sich in die Traumwelt zurückzog, in der er sich glücklich fühlte. Er wollte nichts von dem Kampfe um den Besitz wissen, der das Leben der meisten Menschen ausfüllt und ihnen bis zum Lebensende täglich neue Aufregungen und Enttäuschungen bringt. Mit den Anforderungen des täglichen Lebens fand er sich leidlich ab, jedoch mit einer gewissen kühlen Überlegenheit, die sehr wohl erraten ließ, wie wenig Wert er auf alle äußern Dinge legte. Kurz, er hatte, dank seiner eigentümlichen Geistesrichtung, schon früh allem weltlichen Ehrgeize entsagt und nahm nur das ernst, was das Gottähnliche in seiner Seele nähren und zu weiterer Entwicklung bringen konnte.

Fügen wir noch hinzu, daß er einen vornehmen und durchaus rechtschaffenen Charakter hatte, daß er eines Ehebruches, einer Gemeinheit, überhaupt der kleinsten Unzartheit vollkommen unfähig war; der Stempel innerer Reinheit war seinem ganzen Wesen aufgedrückt.

Obgleich jede gewalttätige Handlung eigentlich seiner feinen Natur widerstrebte, würde er doch eine gerechte Sache auch energisch verfochten haben und immer bereit gewesen sein, als ganzer Mann dafür einzuspringen. Nur die Angelegenheiten des Tages, die Streitigkeiten der Parteien, hatten kein Interesse für ihn; er hielt es unter seiner Würde, sich darein zu mischen. Er zog sich immer mehr in sich selbst zurück und schien wie in einer andern Welt zu leben.

Benedikt wurde freundlich bei Rousseau-Latouches aufgenommen. Es fing wirklich manchmal an, dort ein bischen langweilig zu werden. Dieser junge Mann verschaffte Evariste doch wenigstens ab und zu für einige Stunden eine angenehme Abwechslung, ein bischen Unterhaltung. Man war ja schließlich mit einander verwandt; Benedikt mußte unbedingt die Einladung, seine Ferien auf dem Landhause zu verbringen, annehmen.

Nach wenigen Tagen schon erkannten Benedikt und Friederike, daß sie Gesinnungsgenossen waren und es ergab sich ganz von selbst, daß sie einander mit einer idealen, aber tiefen und innigen Zuneigung zugetan waren, die ihnen durchaus berechtigt erschien und die sie ganz offen zeigten. Diese ideale Freundschaft hatte etwas trauriges und rührendes, sie strebten nicht danach einander anzugehören; nur – – – – Warum hatte man sich nicht früher finden und vereinen können?! Wie niederdrückend war dieser Gedanke! Es war eine harte Prüfung!

Ohne Zweifel büßten sie für irgend ein von ihren Vorvätern begangenes Verbrechen. Man mußte sich ohne Murren dem Willen Gottes unterwerfen und das Leid auf sich nehmen, ein Leid, das so schwer war, daß sie sich für Lieblinge Gottes halten durften, denn: »Wen Gott lieb hat, den züchtigt er«.

Als einsichtiger und taktvoller Mann bemerkte Rousseau-Latouche sehr bald das schwärmerische Gefühl, dem sie zum Opfer fielen. Wie hätten sie es ihm auch verbergen können oder wollen? Man las es in ihrem ganzen Wesen, in der Zurückhaltung, mit der sie einander begegneten!

Evariste war, wie wir bereits sagten, eine kühle Natur, die sich alles hübsch klar macht und zurecht legt, ohne sich darüber aufzuregen und zu ärgern. Seine überlegene Ruhe verlieh ihm die Gabe, alles, was geschah, genau zu beobachten und soweit dies anging, Nutzen daraus zu ziehen.

Wenn es auch vielleicht sein erster unwillkürlicher Gedanke war, Benedikt unter irgend einem höflichen Vorwande zu verabschieden, so kam er doch nach reiflichem Nachdenken zu einem ganz andern Entschluß.

Seine Frau und der junge Mann waren Ausnahmewesen und man mußte sich in acht nehmen, ihnen entgegenzuwirken oder sie nur merken zu lassen, daß man ihre gegenseitige Neigung bemerke, eine Neigung, die etwas so zartes und schwärmerisches hatte, daß es ganz unter seiner Würde war, eifersüchtig darauf zu sein. Außerdem meinte er, als Fünfundvierzigjähriger stolz darauf sein zu können, eine so hübsche Frau zu besitzen, in die ein viel jüngerer Mann sich hoffnungslos verliebte. Es war eine traurige Neigung, die von allerlei mystischen und zärtlichen Gefühlen durchsetzt war, und die sich höchstens ab und zu dadurch kundgab, daß die beiden ein ernstes deutsches Duett mit schwärmerischer Hingebung sangen.

Mit ein wenig Umsicht mußte es Rousseau-Latouche gelingen, diese angebliche Liebe, die so wenig irdischer Natur war, in sich verlöschen zu lassen. Man mußte eben Geduld haben, Zeit gewinnen. Es war nichts aufregendes in dem Rausche dieser jungen Seelen, die Enttäuschungen des Alltagslebens würden die überhitzten Gehirne bald genug abkühlen. Außerdem waren beide von einer Aufrichtigkeit und Gewissenhaftigkeit, die so klar und durchsichtig wie Kristall war und keinen Zweifel zuließ. Sie waren eines Vertrauensbruches unfähig, es war fast undenkbar, daß sie einen Ehebruch begehen sollten, – vorausgesetzt, – wohl verstanden, daß sie nicht durch den Zufall in allzu große Versuchung geführt wurden!

Das Glück seiner Ehe war ihnen heilig, denn es lag in ihrer Natur, alle Dinge ernst zu nehmen; sie würden es für schmachvoll gehalten haben einander heimlich zu umarmen. Folglich verdienten beide wirklich seine volle Achtung und – – ein vielleicht etwas mitleidvolles Lächeln. Er war der überlegene Mann, sie waren Kinder, die reinen Bébés und Kräutchen Rühr-mich-nicht-an! – Also; die Verhaltungsregel, die ihm seine Klugheit und Überlegenheit vorschrieb, war: die Augen zu schließen, nicht rauh dazwischen zu fahren, sondern diese platonische Liebe zu dulden, die, wie er annahm, nichts ernstes und beunruhigendes hatte, und rasch genug, wenn ihr weiter keine Nahrung geboten würde, in sich verlöschen würde. Sollte wirklich bis dahin nicht alles längst vorüber sein, so würde doch mit dem ersten Anzeichen des Winters, sobald man nach Paris zurückgekehrt sein würde, diese Torheit abgetan sein. Ihnen allen würde dann nur eine angenehme und harmlose Erinnerung an den Sommeraufenthalt zurückbleiben.

Indessen sprachen Benedikt und Friederike auf den Spaziergängen im Garten, beim Frühstück und Mittagessen, besonders aber abends bei einem Plauderstündchen im Salon, trotz der kühlen Zurückhaltung, die sie zur Schau trugen, immer nur von ihren Idealen, von dem Leben nach dem Tode, dem Wiedersehen im Jenseits, von geistigen Ehen und anderen Dingen, die Herrn Rousseau-Latouche zu hoch waren oder vielmehr ihm wie Träumereien und Spielereien vorkamen.

Vergebens versuchte er die Unterhaltung auf andere Gebiete zu leiten, z. B. auf Politik. Man hörte ihn an, gewiß, und zwar mit der Achtung, die ihm zukam; aber wenn er dann auf Antworten drang, so hörte er, daß man nur wenig Interesse für solche Dinge habe und so schlecht unterrichtet sei, daß man es sich kaum erlauben könne, ein Urteil abzugeben! Ehe er sich's versah, war der Faden der Unterhaltung ihm schon wieder entschlüpft und die beiden verloren sich in mystischen Träumen. Kurz sie waren beinahe wie zwei Verlobte, die ein eigensinniger Vormund trennt und die wohl einsehen, daß sie einander auf dieser Welt nie angehören würden und ganz naiv vor seinen Augen ihre Koffer packen, um in höhere Regionen hinauszufliegen!

Es war eine Traumwelt, die sie sich mitten im irdischen Leben aufbauten.

Das ging so vierzehn lange Tage, in dieser Zeit aber war es richtig so weit gekommen, daß Evariste sich in seinem eigenen Hause wie ein Fremder vorkam.

Er konnte sich diese Erscheinung selbst nicht erklären, da doch eigentlich nichts vorlag und er es unter seiner Würde hielt, die Sache ernst zu nehmen. Indessen überkam ihn immer häufiger ein plötzliches Gelüst, Benedikt aus dem Hause zu schicken, natürlich in höflichster Weise, aber doch so plötzlich, daß er Friederike nicht mehr zu sehen bekam und keine Abschiedsszene stattfinden konnte, die, wie er fürchtete, nicht ohne Erregung verlaufen würde. Der einzige Grund, der ihn in seiner Neutralität festhielt, war sein geistiger Hochmut und das verächtliche Mitleid, das er für solche platonische, rein geistige Liebe empfand. Ja, er war ein Mann, der sich seiner Überlegenheit zu sehr bewußt war, um solch Lächerlichen Zugeständnisse zu machen! – Es kamen aber Augenblicke, in denen es ihm ordentlich leid tat, daß er den Beiden keinen Vorwurf machen konnte, da ihr Benehmen ein so tadelloses war!

Da kam Evariste plötzlich ein seltsamer und doch ganz natürlicher Gedanke. Er wollte sie demütigen, wollte ihnen zeigen und beweisen, daß sie im Grunde auch nur Menschen von Fleisch und Blut und absolut nicht besser wie alle Welt seien. Er wollte sie überführen, daß hinter ihren wortreichen Phrasen, ihren idealen Träumen auch nur ein fleischliches Gelüst und eine recht alltägliche Leidenschaft sich verstecke! – Er wollte ihnen zeigen, daß es gar nicht der Mühe lohne, so hochtrabend und verächtlich von irdischen Dingen zu sprechen, wenn man im Grunde nicht besser sei, wie andre Leute auch!

Ohne sich über die Gemeinheit einer solchen Handlungsweise klar zu sein, machte er sich daran, ihnen Schlingen zu legen, indem er sie zum Beispiel im Garten absichtlich allein ließ, um sie dann von seinem Zimmer aus mit einem scharfen Fernglas zu beobachten. Bei dem ersten Kusse würde er sie lächelnd überrascht und ihre Scheinheiligkeit entlarvt haben. Aber unglücklicher Weise erfüllten Friederike und Benedikt seine Hoffnung nicht. Kaum hatte er die beiden allein gelassen, so trennten sie sich auch schon, ganz einfach, weil sie dies für passend hielten. Friederike verließ den Garten, um ihre Armenbesuche zu machen, und Benedikt gab ihr wohl noch etwas Geld, um sie in ihrer Mildtätigkeit zu unterstützen. Darüber wechselten sie noch ein paar flüchtige Worte und dann gingen sie auseinander.

Evariste fand, daß sie geradezu einfältig seien!

Tatsache ist, daß wohl jeder Lebemann, wenigstens jeder Pariser, Benedikt für einen Narren und Friederike für eine Kokette, die mit einem Kleinstädter spielte, gehalten hätte. Und doch war das Band, das sie vereinigte, obgleich nur ein sehr zartes, haltbarer, als wenn sie gesündigt hätten.

Evariste, der sich anfangs in Zärtlichkeit für Friederike erschöpft hatte, da er ein Gefühl hatte, als könne sie ihm am Ende doch noch entschlüpfen, verzichtete dem resignierten, sanften Lächeln seiner Frau gegenüber bald darauf den liebevollen Ehemann zu spielen. Ein förmlicher Widerwillen gegen das törichte junge Weib hatte ihn erfaßt. Diese rätselhafte und platonische Neigung Benedikts und Friederikens, die über alle irdischen Gelüste erhaben, nur eine Vereinigung im Jenseits erstrebte, und an der aller Spott abglitt, erschien ihm plötzlich wie die gefährlichste und stärkste aller Leidenschaften. Er erkannte das Übel mit scharfem Blick! Scheidung war das einzige, was ihm übrig blieb.

Eine solche mußte unvermeidlich gemacht werden; man mußte Friederike dazu zwingen, denn gutwillig würde sie als überzeugte Katholikin niemals eingewilligt haben, da sie wohl wußte, daß ihre Religion die Scheidung verbietet. Die vollkommene Kälte und Ergebung, mit der sie seine Zärtlichkeiten über sich ergehen ließ, gab ihm volle Wahrheit über ihre Gefühle für ihn; er gab sich keiner Täuschung mehr hin.

Unter solchen Verhältnissen war es das Beste, so rasch wie möglich ein Ende zu machen, denn dies Leben wurde ihm geradezu unerträglich.

Die Sache hatte nun schon fünf Wochen gedauert, das war zu viel! Er hatte völlig genug davon. Da die Aufregung und Sorge ihm völlig die Lust benommen hatte, sich wie sonst sorgsam zu pflegen, die bewährten Schönheitsmittel anzuwenden und Bart und Haar zu färben, erschien er plötzlich grau und stark gealtert. Es galt energisch aufzutreten, ohne Verzögerung zu handeln. Der vortreffliche Mann hatte nämlich nicht vor, ein einsames Leben zu führen, er wollte wieder heiraten, sobald die Scheidung ausgesprochen war.

Wie in Romanen oder in Schauspielen, erzählte er also seiner Frau, daß er für zwei oder drei Tage nach Paris reisen wolle, um nachzusehn, ob in der Wohnung in der Avenue des Ternes alles in guter Ordnung sei.

Nun hatte Herr Rousseau-Latouche einen Jugendfreund, der Polizeibeamter in der Umgegend war und dem er selbst zu dem Posten verholfen hatte.

Er suchte ihn auf, erzählte ihm die Geschichte, beschrieb genau, wie die Sachlage war und erörterte alles mit einer Redegewandtheit, die ihm allemal zu Gebote stand, wenn es sich um seine eigenen Angelegenheiten handelte.

Der Beamte bedurfte einiger Zeit, bis er alles genau verstanden und sich zurecht gelegt hatte, aber mit dem Verständnis, das seinem Berufe anzuhaften scheint, begriff er endlich vollkommen, um was es sich handelte. –

Man kehrte also ganz heimlich am Tage nach der vermeintlichen Abreise zurück, so still wie nur möglich. Zwei Stunden nach Ankunft des letzten Abendzuges drang man vorsichtig in das Haus; den Schlüssel hatte Evariste wie immer bei sich.

Es war eine herrliche Sommernacht, die Luft war klar, der Himmel mit Sternen besät.

Ohne das leiseste Geräusch zu machen, schlich man sich die Treppe hinauf; man wollte nichts geringeres, als das junge Paar in flagranti erwischen.

Die Türe des Salons war nur angelehnt, man hörte sprechen. Mit äußerster Vorsicht und völlig geräuschlos öffnete der Beamte die Türe.

– Welch' ein verblüffender Anblick bot sich da ihren Augen!

Die beiden Liebenden hatten ihnen den Rücken zugewandt und standen mit gefalteten Händen auf dem Balkon, dessen Türen weit geöffnet waren. Beide in vollständiger Tagestoilette, schauten sie in die stille Sommernacht hinein und sprachen gemeinschaftlich mit ernster deutlicher Stimme ihr Abendgebet und zwar mit einer solchen Überzeugungstreue, daß selbst ein Ungläubiger darüber nicht hätte lächeln können. – –

Bei diesem unerwarteten Anblick war es Rousseau-Latouche, als ob er blödsinnig würde. Im Augenblick ergriff ihn ein Schwindel, er fürchtete für seine Vernunft!

Sein Freund, der Polizeibeamte, umfaßte den schwankenden Mann und flüsterte ihm im Tone tiefsten Mitleides ins Ohr:

»Armer Freund! Noch nicht einmal – betrogen!«

Tatsache ist, daß es dem ehrenwerten Herrn Rousseau-Latouche wie ein schweres Unglück vorkam, daß er mit zwei so unbegreiflich tugendhaften Wesen zu tun hatte. – –


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