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Warum sollte man sich jetzt, nachdem Euphrasia, dies göttliche Kind, zum Lichte eingegangen, noch scheuen, es offen zu sagen, daß das Wunder, das sie zu erleben geglaubt, eine ganz natürliche Begebenheit war? Sicher ist, daß die kleine Heilige – die, im Alter von 28 Jahren, in der Provence als Oberin des von ihr gegründeten Ordens der Armenschwestern starb – selbst gewiß keinen Anstoß daran genommen haben würde, wenn sie die natürliche Erklärung des ihr widerfahrenen Heils erfahren hätte: ihre ernst bewußte Demut würde nicht einen Augenblick dadurch beunruhigt worden sein.
Immerhin ist es doch besser, daß ich bis jetzt noch nicht davon gesprochen habe.
Ungefähr einen Kilometer von Avignon entfernt, erhob sich im Jahre 1860, nicht weit von den grünen Geländen, die stromaufwärts an der Rhone liegen, eine einsame Hütte von schmutzigem Aussehen; sie hatte nur ein Stockwerk, das durch ein einziges Fenster mit vergitterten Läden erhellt wurde. Die Hütte stand in der schützenden Nähe der Gendarmeriekaserne, die an der Grenze der Vorstadt auf dem Wege liegt.
Dort lebte ein alter Jude, den man Vater Moses nannte. Er war kein schlechter Jude, trotz seines verblichenen Antlitzes und seines Raubvogelschädels, dessen Glatze durch ein fest anliegendes Mützchen von unerkennbarem Stoff und Farbe bedeckt war, er war noch frisch und kräftig und wäre wohl im stande gewesen, in einigen Dauermärschen sogar mit Ahasver Schritt zu halten. Er ging jedoch sehr selten aus und ließ nur nach manchen Vorsichtsmaßregeln Besuch vor. Nachts schützte er seine schlecht geschlossene Türe durch eine ganze Anlage von Fuchseisen und Wolfsfallen. Dienstfertig, besonders für seine Glaubensgenossen, wohltätig für jeden, verfolgte er nur die Reichen, denen er gegen Wucherzinsen Geld lieh. Die skeptischen Ideen seiner Zeit änderten nichts an dem starren Glauben dieses praktischen und gottesfürchtigen Mannes: Moses betete, wenn er seinen Wucher getrieben, so gut, wie wenn er Almosen gegeben hatte. Da er in dieser Beziehung ein stark entwickeltes Ehrgefühl besaß, hielt er streng darauf, jeden, auch den kleinsten Dienst, der ihm erwiesen wurde, zu vergelten. Vielleicht hatte er auch für die frische Landschaft unter seinem Fenster ein gewisses Gefühl, wenn er so manchmal mit seinen klaren, grauen Augen nachdenklich hinaussah. – –
Indessen befand sich auf einer kleinen Anhöhe, die die stromabwärts gelegenen Wiesen beherrschte, etwas, das ihm die Aussicht gründlich verdarb, und er wandte sein Auge beleidigt und mit einem übrigens leicht erklärbaren Widerwillen davon ab. Da war nämlich ein sehr alter Calvarienberg, der nur seiner archäologischen Merkwürdigkeit wegen noch von den Behörden geduldet wurde. Man mußte 21 Stufen hinauf steigen, um das große Mittelkreuz mit dem gotischen Christus, dessen Züge längst von der Zeit verwischt waren, zu erreichen. Daneben standen zwei kleinere Kreuze mit Diphas und Gesmas, den beiden Schachern.
Eines Nachts saß Vater Moses an dem halb, offenen Fenster, die Füße auf einem Schemel, die Brille auf der Nase vor einem kleinen Tische, der mit Perlen, Diamanten, Gold und Wertpapieren bedeckt war; er war damit beschäftigt, seine Rechnungen in ein staubiges Register einzutragen.
Er hatte sich lange damit aufgehalten. Sein Geist hatte sich so vollständig in die Arbeit vertieft, daß seine Ohren taub für jedes Geräusch waren und einige entfernte, halb abgebrochene, seltsame Laute nicht vernahmen, die schon den ganzen Abend über das Schweigen und die Dunkelheit durchdrangen. Jetzt erhellte ein großartiger Mondschein das Land, alles war still.
»Drei Millionen!« rief Moses, indem er die letzte Ziffer unter die Totalsumme setzte.
Aber die Freude, endlich am Ziel seiner Wünsche zu sein, verwandelte sich plötzlich in Schrecken. Ein eisiges Gefühl ergriff seine Füße, er stieß den Schemel fort und sprang auf.
Entsetzen! klatschendes Wasser, welches das ganze Zimmer durchdrang, näßte seine mageren Beine. Das Haus krachte. Seine Augen irrten durch das Fenster und sahen, daß der Fluß aus den Ufern getreten war und die niedrigen Täler ringsum überflutete. Es war eine Überschwemmung, ein plötzliches, jäh wachsendes, schreckliches Austreten der Rhone.
»Gott Abrahams!« stammelte er.
Trotz seines tiefen Erschreckens entledigte er sich sofort der Kleider und Schuhe und behielt nur die gestickte Hose an; dann warf er die Kostbarkeiten, Gold, Diamanten und Papiere durcheinander in eine Ledertasche, die er um den Hals hing, er überlegte, daß er später sein verborgenes, vergrabenes Gold doch wieder finden würde. Rasch nahm er noch aus einem alten Koffer ein Bündel bereits durchnäßter Wertpapiere, dann stieg er auf die Fensterbank, sprach dreimal das hebräische Wort Kadosch, das heilig bedeutet, und stürzte sich in Gottes Namen als guter Schwimmer in die Flut.
Ohne viel Geräusch zerbarst die Hütte hinter ihm und versank in dem Wasser.
Nirgend ein Kahn! – – Wohin fliehen?! Er versuchte die Richtung auf Avignon zu nehmen, aber das Wasser vergrößerte die Entfernung, es war weit, viel zu weit für einen alten Mann. Wo sollte er ausruhen, wo festen Fuß fassen?
Ach, der einzige leuchtende Punkt – jene Höhe – der Calvarienberg – dessen Stufen schon unter den schäumenden Wellen, dem Brausen der empörten Fluten verschwanden.
Soll er bei diesem Steinbilde Schutz suchen? Nein niemals! Dem alten Juden war es ernst mit seinem Glauben; obgleich ihn nun die Gefahr drängte, obgleich die moderne Idee der Toleranz dem Manne, der nun nach einer rettenden Arche suchte, durchaus nicht unbekannt war, so widerstrebte es ihm doch, gerade dem, der dort war, etwas verdanken zu müssen, und wäre dies auch nur sein irdisches Heil.
Sein Schatten fiel lang über die Wasser – – wahrhaftig, er mußte an die Sintflut denken. Er schwamm aufs Geratewohl. Plötzlich fuhr ihm ein kluger Gedanke durch den Kopf.
»Ich vergaß ganz,« sagte er prustend, während das Wasser ihm an beiden Enden des Bartes herab lief, »ich vergaß ganz, daß da ja noch die armen Kerle, die Schacher sind! Meiner Treu, ich sehe gar nicht ein, warum ich mich nicht zu diesem prächtigen Gesmas flüchten sollte, bis man mich abholen kommt.«
Nachdem er so sein Gewissen beruhigt hatte, nahm er mit kräftigen Stößen seinen Weg durch die hoch gehenden Wogen auf die drei Kreuze zu, die von hellem Mondschein beleuchtet wurden. Nach ungefähr einer Viertelstunde sah er, dessen Glieder bereits halb erfroren und schon steif zu werden begannen, die mächtigen Kreuze etwa hundert Meter vor sich. Sie schienen gerade aus dem Wasser aufzuwachsen.
Während er tief aufatmend überlegte und sich dann für das links stehende Holz entschied, sah er plötzlich, wie die beiden seitlichen Kreuze, die schwächer als das mittlere waren, wankten. Die Wucht der Rhone zerbrach das wurmstichige Holz und beide sanken lautlos in das schäumende Wasser. Bei diesem Anblick zögerte Moses sich zu nähern, er wäre beinahe untergesunken. Er bekam den Hals voll Wasser, hustete und spie.
Nun hob sich nur noch der Umriß des großen Kreuzes geheimnisvoll vom Horizonte ab; es zeigte den bleichen Dornengekrönten, festgenagelt mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen. Dem Ersticken nahe und beinahe ohnmächtig, empfand der Greis nur noch das instinktive Gefühl Ertrinkender, sich zu retten. Verzweifelt beschloß er zu dem göttlichen Bilde hin zu schwimmen. Der Schatz, den er retten mußte, verdreifachte seine Kräfte und rechtfertigte zugleich diese Tat vor seinen Augen, die eine schreckliche Todesangst trübte. Am Fuße angekommen, ergriff er, ungern genug, das muß man zu seinem Lobe sagen, mit abgewandtem Kopfe den Stamm des Kreuzes. Das Wasser stieg und hob seinen Körper empor, rings um ihn ruhte tiefes Schweigen auf der unendlichen Flut.
»O, da unten! ein Segel! ein Boot!« Er rief – –
Man hörte ihn, man hatte ihn bemerkt!
In diesem Augenblicke türmte sich eine Woge hoch auf, hob ihn empor und warf ihn mit der Hand gegen die Wunde an der Seite des Erlösers.
Es geschah das so jäh und plötzlich, daß er kaum Zeit fand sich anzuklammern, Leib an Leib und Kopf an Kopf mit dem Gekreuzigten. So hing er da mit abgewandtem Antlitz; die Brauen zogen sich über seinem durchdringenden hohlen Blicke zusammen, während die gabelförmigen Enden seines grauen Bartes weit ab standen und sich zitternd hin und her bewegten. Der alte Jude umfaßte mit den Beinen wie ein Steckenpferd das Bild dessen, der alles vergibt. Er mußte sich anklammern und schielte verstohlen nach dem, der nun auch sein »Erretter« war.
»Halt fest, wir kommen,« rief man ihm zu.
»Endlich,« seufzte Vater Moses, dessen Muskeln nachzugeben drohten. »Aber da hat mir doch einer einen Dienst erwiesen, von dem ich es nicht erwartet hätte. Da ich aber nicht gern jemand etwas schuldig bleibe, ist es nur gerecht, wenn ich ihn belohne, so wie ich einen Lebenden belohnen würde. Ich will ihm geben, was ich auch einem Menschen gegeben haben würde.«
Und während der Kahn sich näherte, durchsuchte Moses eifrig seine Tasche, um sich seiner Schuld zu entledigen; er zog ein Goldstück heraus und steckte es sehr sorgsam und so gut er nur konnte, zwischen die zwei gekrümmten Finger der festgenagelten rechten Hand. »Wir sind quitt,« murmelte er und ließ sich beinahe ohnmächtig in die Arme der Schiffer fallen.
Die sehr berechtigte Furcht, seinen Beutel zu verlieren, hielt ihn aufrecht bis zur Landung in Avignon. Dort kam er in dem warmen Bette eines Gasthauses bald wieder zu Kräften. – Einen Monat später zog er ganz nach Avignon, nachdem er vorher sein Geld unter den Trümmern seiner alten Wohnung hervor gescharrt hatte. Er lebte noch lange und war 100 Jahre alt, als er starb. –
Nun geschah es im Dezember des Jahres, das auf dieses ungewöhnliche Ereignis folgte, daß ein junges Landmädchen, ein sehr armes aber bildhübsches Waisenkind, Euphrasia, von einigen reichen Bürgersöhnen der Vaucluse bemerkt worden war. Geärgert über ihre unerklärliche Sprödigkeit, beschlossen diese, sie durch Hunger zu zwingen, sich ihnen hinzugeben. Dank ihren Bemühungen geschah es denn, daß man sie bald aus der Werkstätte entließ, wo sie für ihre elfstündige Arbeit täglich einen Franken verdient hatte, der für ihren Unterhalt und ihre gute Laune völlig ausreichte. (Natürlich gehörte diese Fabrik einer hochangesehenen Familie.) An demselben Tage wurde sie auch aus ihrer Wohnung gejagt, für die sie morgens und abends Gott dankte. Ihre Mietsleute hatten selber Kinder zu versorgen und da – man muß gerecht sein! – konnten und durften sie mit gutem Gewissen sich doch nicht der Gefahr aussetzen, die schönen sechs Franken monatlich zu verlieren, die ihnen das kleine Speicherstübchen einbrachte. »Anständig ist sie, gewiß,« sagten sie sich, »aber mit dem besten Anstande kann man doch keine Miete bezahlen, wenn man arbeitslos ist! Überdies – vielleicht ist es zu ihrem eigenen Besten –« sie zwinkerten mit den Augen, »wenn man ein wenig hart gegen sie ist.«
So kam es, daß an einem Winterabend, als eben die klaren Töne des Angelus ertönten, das arme zitternde Kind durch die mit Schnee bedeckten Straßen schritt und ohne zu wissen, wohin sie ging, ihre Schritte zum Calvarienberge leitete.
Es waren wohl die Engel selbst, die sie hierher führten und deren Flügel ihre Schritte auf den verschneiten Stufen unterstützten, bis sie zu Füßen des Heilands matt niederfiel und den Kopf gegen das Kreuz lehnte, während ihre Lippen die treuherzigen Worte murmelten: »Mein Gott, hilf mir mit einem kleinen Almosen, sonst muß ich hier sterben.«
Da geschah es, daß aus der rechten Hand des alten Christusbildes, zu dem die Augen der Bittenden sich erhoben, plötzlich ein Goldstück auf das Kleid des Mädchens fiel, das durch dies Wunder zu neuem Leben erwachte.
Es war ein hundertjähriges Stück mit dem Bilde König Ludwigs XVI., dessen gelbes Gold auf dem schwarzen Kleide des auserwählten Kindes leuchtete. Gewiß war auch zugleich ein göttlicher Funken in die Seele dieser Himmelsbraut gefallen, der ihren Mut neu belebte. Sie nahm das Goldstück, ohne sich auch nur zu wundern, erhob sich, küßte lächelnd die Füße des Erlösers und kehrte in die Stadt zurück. Nachdem sie vernünftigerweise dem Herbergsvater zuerst die schuldigen sechs Franken gegeben, warf sie sich auf ihr kaltes Lager, aß ihr trocknes Brot und wachte, Begeistrung im Herzen, den Himmel vor Augen, kindliche Einfachheit in der Seele, dem Tag entgegen. Am andern Morgen schon begann sie, durchdrungen von der lebendigen Kraft des Glaubens, ihr heiliges Werk, trotz aller abschlägigen Antworten, trotz verschlossener Türen, trotz boshafter Worte, Drohungen und spöttischem Lächeln.
Und ihr heiliges Werk gelang! Heute ist die junge Glückliche aus dem Leben geschieden, siegreich über all den kleinen Schmutz dieses Lebens, glückselig ob des Wunders, das ihr Glaube schuf, zusammen mit dem, der alles vermag.