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Zu Anfang der Belagerung Constantinopels durch die Kreuzfahrer bewohnte der Senator Petronius mit Frau und Tochter ein prächtiges Haus in der Nähe der Sophienkirche und des kaiserlichen Palastes, später verließ er dasselbe, um ein kleineres zu beziehen, das gleichfalls ihm zugehörte, und in einer von den Hauptplätzen abgelegneren, kleinen und dunklen Gasse lag. Er glaubte dadurch, im Falle die Stadt erobert würde, von den Schrecken und Gräueln einer solchen Katastrophe sicherer zu sein, als in dem schönen Gebäude, das die Beutelust der Eroberer mehr anlocken mußte, und er fühlte sich ordentlich erleichtert, als er in den neuen Wohnort übergesiedelt war.
Nicht lange jedoch sollte die Familie sich ihrer Abgeschiedenheit und einer gehofften Ruhe erfreuen, denn gerade da, wo sie ihre Zuflucht gesucht hatte, fand der erste Angriff des Feindes gegen die Mauern statt, und eines Abends drangen sie von ihren Schiffen aus durch ein schlecht vertheidigtes Thor in die Stadt und brachten Feuer und Verwüstung mit sich. Von den Röthen am Himmel, dem Lärm der Kriegstrompeten 172 und dem Geschrei der Flüchtigen aufgeschreckt, erwarteten die Hausbewohner, in ein Zimmer zusammengedrängt, nichts anderes, als jeden Augenblickes eine Schaar wüthender Franken oder Lombarden eindringen zu sehen. Das Getöse kam näher, verlor sich dann wieder auf einige Zeit, erscholl nochmals und stärker, verzog sich dann abermals und hörte endlich ganz auf.
Demetrias, die schöne Tochter des Senators war die Erste, die sich ans Fenster, um auszuschauen, wagte. Die Häuser gegenüber lagen bereits im Schatten; aber vor der Freitreppe ihres eigenen erblickte sie einen Ritter, der in verschränkten Armen das Schwert haltend, auf und niederschritt, als ob er zur Wache hier bestellt sei. Sogleich drang sich ihr der Gedanke auf, er werde einer ihrer Verwandten im Heere des Kaisers sein, der hierher beauftragt worden, das Haus ihres Vaters zu beschützen; als aber der Ritter sich umwandte, gewahrte sie das rothe Kreuz der Kämpfer ums heilige Grab auf dem Kleide, das er über seiner Rüstung trug.
Erschrocken eilte sie zurück, um ihrem Vater Mittheilung zu machen, aber wie groß war ihr Erstaunen, als dieser, nachdem er kaum den Kreuzritter erblickt hatte, sogleich Befehl gab, die Thüre zu öffnen und den Fremden in die Wohnung zu bitten. Sie sah dann, wie dieser Folge leistete, wie sich die beiden Männer herzlich bewillkommneten und der Senator jenen als Gast den Seinigen vorstellte, indem er sagte, daß er den 173 Ritter Balduin aus Flandern vorigen Jahres in Venedig kennen gelernt und ihn damals zu sich eingeladen habe, wenn er auf seiner Rückkehr aus dem heiligen Lande seinen Weg über Constantinopel nehmen werde.
»Jetzt habe ich Wort gehalten,« fügte der junge Mann hinzu, »allerdings nicht als einfacher Pilger kommend, sondern mit feindlichen Streitgenossen und in Fehde mit vielen Eures Volkes. Aber Geduld, es wird sich Alles beilegen lassen, für jetzt war mir doch schon vergönnt, Euch einen Dienst zu erweisen, indem ich eine beutelustige Schaar von Eurem Hause zurückhielt.«
»Und wie fandet Ihr uns nur?« bemerkte der Senator.«
»Ich wußte allerdings noch von Venedig her aus Eurer Beschreibung, wo ich Euch zu suchen hätte, aber in jenem Hause, wohin ich sogleich nach Uebergabe der Stadt mich führen ließ, wurde mir gesagt, daß Ihr fortgezogen wäret. Niemand wußte oder wagte mir zu sagen, wohin – und bereits hatte ich die Hoffnung aufgegeben, Euch zu finden, als ich, durch die Straßen mich umschauend, einem Geschrei und Waffenlärm folgte und hierher kam, indem ich es stets für die Pflicht eines Kreuzritters hielt, auch hier die Wehrlosen und Unschuldigen zu beschützen.«
Bei diesen Worten richtete Demetrias einen forschenden und zweifelhaften Blick auf den Sprecher, die haarsträubenden Sagen von der Wuth und 174 Grausamkeit der abendländischen Krieger, die abenteuerlichen Gerüchte, die in Constantinopel hierüber in Umlauf waren, hatten auch bei ihr Eingang gefunden und sie mit Abscheu vor den Teufeln des Westens, wie man sie hieß, erfüllt. Entsprach nun auch das Aussehen des jungen Kriegers nicht ganz den entsetzlichen Thaten, deren man seine Landsleute beschuldigte, so hatte dennoch sein Aeußeres für die junge Griechin Fremdartiges und Abstoßendes genug, um ihren Argwohn zu rechtfertigen.
»Auf einmal,« fuhr der Ritter Balduin aus Flandern in seiner Rede fort, »auf einmal hörte ich Euren Namen nennen. Der ihn aussprach, war einer jener Verworfenen Eures eigenen Volkes, die sich an uns drängten, und die Häuser der Reichen und Wohlhabenden uns bezeichneten, damit darin geplündert würde.«
Hier verließ Demetrias in großer Erregung das Gemach, es war, als wolle sie durch ihr sich Entfernen anzeigen, daß es ihr unmöglich werde, dem, was sie anhören mußte, weiteren Glauben zu schenken.
Der Ritter ließ sich dadurch nicht irren, sondern wiederholte mit einigem Nachdruck: »Einem dieser Elenden war es gelungen, mehrere von unseren Leuten hierher zu führen, wo sie schwerlich ihrem Gelüste, Beute zu machen, würden widerstanden haben. Glücklicherweise vermochte ich das zu verhindern. Noch aber seid Ihr nicht sicher, erlaubt, daß ich meinen Wachedienst weiter versehe.«
175 Dies sprechend, schritt er, aller Aufforderung, zu bleiben, ungeachtet, nach der Treppe und bat die Zurückbleibenden, sich der nöthigen Ruhe zu überlassen. Die Diener trugen aber auf Befehl des Senators Teppiche hinaus, um auch dem Wächter ein Lager auf der Steintreppe zu bereiten. Mit Tagesanbruch verließ Balduin seinen freierwählten Posten und begab sich in das Lager der Seinigen. Denn obwohl die Kreuzfahrer Constantinopel zum Theil erobert hatten, so zogen sie sich doch wieder aus der Stadt zurück und in ein befestigtes Lager vor den Mauern. Mit großer Aufmerksamkeit wurden seine Erlebnisse vernommen und ihm Urlaub gegeben, seinen Gastfreund wieder zu besuchen.
Diese Besuche wiederholten sich nunmehr an jedem Tage, der alte Senator sah in ihm den ritterlichen Freund, dem er die Rettung eines guten Theiles seiner Habe schuldete, den er sich für alle Fälle gut gesinnt erhalten wollte. Dabei beachtete er kaum die Mißstimmung seiner Tochter und fuhr fort, jenen einzuladen und jedes Mal, wenn ihn das Signal der Trompete ins Lager der Seinigen zurückrief, mußte er das Versprechen geben, am andern Tage wieder zu kommen.
Auf Demetrias aber hatte, wie schon erwähnt, die Erscheinung des Fremden einen seltsamen Eindruck hervorgebracht, sie lächelte zwar über den großen, nach ihrem Ermessen und Geschmack ungeschlachten und schwerfälligen Ritter, dennoch empfand sie eine Bitterkeit und Feindseligkeit gegen ihn, so oft er nur eintrat, 176 die sie nicht verbergen konnte, noch wollte. Dieser Mann, mit Schultern so stark und breit, daß davor die männlichen Bewohner ihres Hauses wie Pygmäen erschienen, erregte ihr Unbehagen, seine mächtigen Fäuste mochte sie nicht ansehen und seine rothen, blühenden Wangen, die so wunderlich gegen die blasse Gesichtsfarbe ihrer Landsleute abstachen, waren ihr ganz und gar zuwider.
Eines Tages, als er eben zu Tisch erwartet wurde, fing sie an: »Warum eigentlich sind wir so demüthigend freundlich gegen diesen Menschen, der zu Jenen gehört, die unsere Stadt belagert und erstürmt haben, die heute noch unseren Frieden und unsere Sicherheit bedrohen?«
»Wenn ich es auch nicht vertheidigen könnte,« antwortete ihr Vater, »daß die Lateiner unsere Stadt erobert haben, so würde ich den Ritter immer noch als meinen Gastfreund achten und lieben müssen, denn er verdient es und hat ein Recht auf unsere dankbare Gesinnung. Uebrigens haben die Kreuzfahrer nichts gegen uns als die Nation unternommen, sondern nur gegen Isaak, den Kaiser, der seinen eigenen Bruder entthronte und in den Kerker warf; sie bekriegten und überwanden den Usurpator und setzten den Sohn des rechtmäßigen Herrschers wieder ein – das ist die Wahrheit, die man früher allerdings nicht durfte verlauten lassen.«
»Und was,« frug die Tochter weiter, »gab ihnen das Recht, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen?«
177 »Darüber magst Du den Gast selbst hören, ich sehe ihn so eben kommen,« erwiederte Petronius, »frage ihn nur, er soll uns alles berichten.«
Als der Flamänder eintrat und zwar diesmal in einem neuen und prachtvolleren Waffenkleide, da erschien er der schönen Griechin nur noch plumper und vierschrötiger, und in seinen Bewegungen unbeholfener als je vorher.
Wären die Vorgänge der jüngsten Zeit und ihre Lage nicht so ernster Natur gewesen, sie wäre in lautes Lachen ausgebrochen. So bezwang sie sich und suchte nach einem Anlasse, seiner Gegenwart sich zu entziehen. Nachher bei Tische jedoch konnte sie nicht umhin, eine spöttische Bemerkung zu machen, welche sich auf die Sitten der Franken beim Fasten und ihre Gebräuche bei Tisch bezog; nach beendigtem Mahle nahm sie dann Gelegenheit, die Trunksucht der Franken zu rügen und dabei zu bemerken, daß sie in fremde Länder zögen, nur zum Tafeln und Schwelgen.
Ihr Vater nahm den Augenblick wahr, sie darum zu tadeln und seinen Gast aufzufordern, den Ursprung und Hergang jener Feindseligkeiten zu erzählen, durch welche veranlaßt, die Kreuzfahrer nach Constantinopel kamen.
»Das will ich mit Freude thun,« begann der Ritter und zu Demetrias gewandt: »Ihr werdet dann erkennen lernen, Herrin, welch triftige Ursachen uns bewogen, feindlich gegen Eure schöne Vaterstadt aufzutreten, keineswegs zur Vergeltung 178 des Hasses, welchen die morgenländische Kirche gegen uns Lateiner hegt, sondern um einem Unglücklichen und ungerecht Verfolgten beizustehen.
Nun hört; Eurem Vater ist bekannt, daß die Venetianer sich erboten haben, die Ueberfahrt und Verpflegung des Kreuzheeres gegen die Summe von fünfundachtzigtausend Mark Silber zu übernehmen. Wir Flamänder fuhren auf unseren eigenen Schiffen, als wir aber durch die Meerenge von Sicilien kamen, hörten wir, daß die Kreuzfahrer die geforderte Summe nicht aufbringen konnten und deshalb noch in Venedig weilten. Wir beschlossen nun ebenfalls dahin zu segeln und uns mit der Flotte der Italiener und Franzosen zu vereinigen. Ich selbst mit mehreren anderen Rittern kam in meinem kleinen Boote nach der berühmten Seestadt und hatte nun Gelegenheit, ihre Wasserstraßen und Bauwerke zu bewundern.
Wir landeten in der Nahe der Kirche des heiligen Markus und kamen an, als eben das venetianische Volk, sein hoher Rath und die Heerführer der Kreuzfahrer zu einer großen Berathung versammelt waren. Da bot sich uns ein herrlicher Anblick! Wir sahen die Blüthe der Ritterschaft, Herzöge und Markgrafen und den ehrwürdigen Dogen, den mehr als achtzigjährigen Enrico Dandolo. Blind zwar, aber noch voll Tapferkeit und Jugendfeuer sprach er zu uns. Seine Rede athmete die Begeisterung, die ihn durchglühte. Von den Zinnen und Balkonen wehten Fahnen, alle Straßen waren voll Gedränge und 179 Leben, schöne Frauen und Blumen sah man überall.
Noch fehlte ein Drittheil der bedingten Summe, obwohl in unerhörter Aufopferung Jeder, was er an Gold und Edelsteinen besaß, herbeitrug, um den Betrag voll zu machen. Nur die Großmuth des Dogen führte eine glückliche Lösung herbei, indem er vorschlug, die Frist der Zahlung zu verlängern, bis eine Eroberung in Feindesland die Mittel zur Vervollständigung böte. Sein Vorschlag wurde mit Jubel und unter Thränen der Freude aufgenommen.
Da ereignete sich ein Zwischenfall, der unserem Unternehmen diejenige Richtung gab, welche uns hierher brachte. Während der Berathungen nämlich erschien plötzlich in unserer Mitte ein Jüngling, fremdartig gekleidet, tiefgebeugt, mit allen Anzeichen eines schweren Kummers. Es war Alexius, der Sohn Eures rechtmäßigen Kaisers Angelos, welch letzteren sein eigener Bruder vom Throne gestoßen und eingekerkert hatte. Vor den Dogen tretend, erzählte dieser Unglückliche von der trostlosen Lage seines Vaters, der geblendet und gefangen liege, mit beredten Worten rief er das Mitleid und den Beistand der Kreuzfahrer an, er beschwor sie, ihm mit ihren geheiligten Waffen zu seinem Rechte, zur Befreiung seines Vaters zu verhelfen.
Alle waren wir aufs tiefste bewegt und gerührt, am meisten der Doge, denn auch er war einst in seinen jungen Jahren, da er als Gesandter nach Byzanz gekommen war, dort in unerhörter Weise zurückgehalten und 180 geblendet worden. Dies kam ihm nun wieder zu Sinn, in seinem Herzen erwachte das Gefühl der Rache und es bot sich ihm eine Gelegenheit, sie zu kühlen. Nachdem er in kaum verhaltener Aufregung die Bitte des Jünglings angehört hatte, umarmte er ihn, und die leblosen Augen zum Himmel erhebend, schwur er ihm seine Beihülfe zu und wenn er ganz allein mit ihm ziehen müßte, aber Venedig werde seinen alten Dogen nicht verlassen.
Auf dies erscholl ein markerschütternder Zuruf von allen Seiten und es erboten sich nebst den Venetianern auch unsere Anführer für die Sache des jungen Alexius. Ja, holde Dame,« rief hier der Erzähler aus, da er bemerkte, daß seine Worte ihres Eindruckes auf die Tochter seines Gastfreundes nicht verfehlt hatten, »ja, wenn Ihr diese Begeisterung mitangesehen und gehört hättet, wahrlich Ihr würdet mit uns Euch gefreut haben, Ihr würdet mit uns hingerissen worden sein.«
Demetrias, sich fassend, erwiederte. ohne die Augen aufzuschlagen: »Ich habe keine Theilnahme für einen jungen Menschen, der fremde Leute gegen sein Vaterland Krieg zu führen veranlaßt, seine Lage mag noch so bedrängt sein – und hat er nicht gelobt,« fuhr sie mit erhöhtem Eifer fort – »hat er nicht gelobt seinen Glauben zu ändern, die päpstlichen Einrichtungen anzuerkennen?!«
»Ich verstehe davon nichts,« erwiederte der Ritter, »mir ist es ziemlich gleichgiltig, ob ein Krieger das Zeichen des Kreuzes einmal oder 181 mehrere Mal über seine Stirn macht, ob er an die einfache oder doppelte Natur Christi glaubt, dies sind Geheimnisse, in die des Menschen Geist niemals eindringen wird – mir gilt jeder gleich, er sei Römer oder Franke, wenn er nur tapfer und redlich ist. Aber es ist Zeit, daß ich bei dem Sammelplatze der Unsrigen eintreffe, ich höre bereits die Trompete des Herolds rufen, denn wisset, daß Keiner der Unseren sich länger als bis zur einbrechenden Dunkelheit und bis dieses Signal ertönt, innerhalb der Stadtmauern aufhalten darf. Lebt denn wohl!«
»Und sehen wir Euch morgen wieder?« fragte der Senator. »Ihr solltet uns mehr von Eurer Seefahrt erzählen.«
»Wenn Ihr es wünschet, gern nehme ich Eure Gastfreundschaft noch länger an,« entgegnete der Flamänder mit einem fragenden Blicke auf Demetrias, die ohne aufzusehen und stumm sich verneigte, so daß man nicht erkennen konnte, ob zum Zeichen ihrer Zustimmung oder nur als Abschiedsgruß. Aber Balduin war geneigt, das erstere zu glauben und seine Gedanken waren, indem er seine Schritte nach dem Sammelplatz seiner Truppen lenkte, nur mit der schönen Gestalt und bezaubernden Anmuth der Byzantinerin beschäftigt.
»Wahrlich,« sagte er zu sich, »ihr Trotz macht sie nur noch liebenswürdiger, ihre Gesinnung muß ich achten, je feindlicher sie sich gegen uns ausspricht. Aber wehe! Wohin irren meine Gedanken, 182 nie und wenn sie mir auch hold gesinnt würde, nie dürfte ich sie als meine Braut heimführen – sündig ist es und gegen mein Gelübde, auch nur den Wunsch darnach in mir aufkommen zu lassen. Sündig, ja! Schon zu lange verweilen wir hier, abgekommen sind wir alle und ich mit, vom Wege des Heils und unsrer Pflicht, untreu geworden unserem Herrn und Erlöser. Und dennoch werde ich sie morgen wiedersehen – ich habe ja ihrem Vater die Zusage gegeben, wiederzukommen. – Das aber sei das letzte Mal, ich werde mich dem Grafen von Montferrat anschließen, welcher Constantinopel verläßt, um mit dem jungen Kaiser die übrigen Provinzen seines Reiches zu bereisen und zu beruhigen.«
Mit diesem festen Vorsatze war er den Zelten der Kreuzfahrer nahe gekommen und betrat die Reihen des Lagers, über welchem bereits Ruhe und Stille lag.
Bald nachdem er das Haus des Senators verlassen hatte, und es auch dort stille geworden, ward an die Hausthüre gepocht. Man öffnete und ein Mann in Reisekleidung trat ein, nachdem er durch ein geheimes Zeichen dem Diener seine Berechtigung hierzu bekannt gegeben hatte.
Als er den Mantel zurückschlug, erkannte man in ihm den einzigen Sohn des Hauses, der kurz vor der Belagerung sich auf eine Handelsreise fortbegeben hatte und nun unerwartet zurückkehrte. Der Willkomm, der ihm wurde, war ein ängstlicher und kühler, man wunderte sich, wie es nur möglich 183 war, daß sein Fahrzeug durch die Schiffe der Kreuzfahrer unbehindert hindurch kommen konnte, und zugleich ließ man merken, daß man ihn lieber noch in der Ferne wüßte als hier. Sein leidenschaftliches und düsteres Wesen war den Eltern nicht unbekannt und paßte am allerwenigsten zu der gegenwärtigen Lage der Dinge. Johannes erzählte seine abenteuerlichen Schicksale und sprach unverhohlen seinen grimmigen Schmerz über das Unglück seiner Vaterstadt aus.
»Aber ich komme nicht allein,« rief er aus, »viele mir Gleichgesinnte sind mit mir zurückgekehrt und viele Gleichgesinnte haben wir auch hier gefunden. Wir ersehnen mit Ungeduld den Tag der Befreiung von diesen abendländischen Fürsten und ihren barbarischen Horden – wir sinnen darauf, diesen Tag herbeizuführen und es wird uns gelingen mit Gottes Hilfe!«
Er bemerkte wohl, daß seine Worte wenig Anklang bei den greisen Eltern fanden, und nur schweigend hingenommen wurden – seine schwarzen blitzenden Augen richteten sich auf Demetrias und hier glaubte er mehr Mitgefühl und Verständniß zu finden. Er wandte sich insgeheim zu ihr und sprach: »bleibe noch wach auf Deinem Zimmer, wenn alles zur Ruhe ging, ich habe mit Dir zu reden.«
Demetrias nickte ihm zu.
Als nun Alles im Hause schlief, kam er zu ihr; lange sah er sie mit finstern Blicken an, die 184 Arme über die Brust gekreuzt – dann begann er: »Einer der verhaßten Barbaren ist bei Euch aufgenommen, ich hab' es erfahren, er theilt Brod und Salz mit Euch, sage mir Demetrias, stolzes Herz, wie bist Du gegen ihn gesinnt?«
»Ich hasse ihn,« antwortete sie, »ich hasse ihn tödtlich« –
»Ich habe das von Dir erwartet, würdest Du auch die Hand mir bieten, ihn zu verderben? Er ist zwar nur Einer unserer Bedrücker, aber er ist ein hervorragender unter ihnen, und schon an Einem ein Beispiel zu geben, ist eine Genugthuung, ein Labsal für unsere empörten Seelen. Willst Du?«
«Ich will.«
»Gut! So versuche morgen ihn hier festzuhalten über die Zeit, in welcher er bei seinen Schaaren einzutreffen hat. Gelingt Dir das, so ist er in unserer Gewalt.«
»Und dann?«
»Dann soll er für uns am Kreuze sterben.«
Demetrias errieth den Sinn dieser Worte nicht, sie glaubte nur, in Alles willigen zu müssen, was ihr Bruder beschloß; galt es doch die Demüthigung, ja den Anfang zur Vertreibung jener verhaßten Franken.
Des anderen Tages erwartete die Familie ihren Gast in einem Gemache, das gegen den Garten hin offen lag. Durch eine doppelte Säulenreihe gelangte man auf eine Terrasse, die stufenweise hinab und ins Freie führte. Der Duft von 185 Oleander- und Orangeblüthen drang ins Innere des Wohnraums, der mit ausgesuchter Pracht geschmückt war. Röthlicher und weißer Marmor bekleidete die Wände, die nach oben in buntfarbigen Mosaikstreifen abschlossen, zwischen denen Bilder von Blumen und Früchten hervorsahen. Ebenso war der Boden mit Mosaik belegt, und über die Ruhesitze waren reiche Teppiche gebreitet. Es wurde ein Mahl aufgestellt und Wein in goldene Trinkbecher geschenkt.
Als man eben das Gebet verrichtet hatte, trat Balduin ein und wurde geladen, am Mahle theilzunehmen. Er dankte, nahm dagegen einen ihm dargereichten Becher und trank auf das Wohl seines Gastfreundes und dessen Angehörigen. Demetrias und ihr Bruder bemerkten es wohl und sahen sich dabei an, beide wußten, was jedes dachte. Nach mehreren einleitenden Gesprächen kam die Rede wieder auf die Unternehmung der Kreuzfahrer und Balduin wurde aufgefordert, nunmehr auch die Seefahrt und Ankunft der Kreuzfahrer vor Constantinopel zu berichten.
»Wie mögt Ihr erstaunt gewesen sein, als Ihr die mächtigste Stadt des oströmischen Reiches, ja des Erdkreises erblicktet«, hieß es, »solchen Glanz hattet Ihr gewiß noch nie gesehen?«
»Allerdings,« gab der Franke zur Antwort, »bewunderten wir die herrliche Lage der Stadt, ihre Größe und soweit wir sehen konnten, auch die Pracht und den Umfang ihrer Paläste, ihre vielen öffentlichen Bauten, ihre unzähligen Thürme und 186 Kirchen, aber wir hatten nicht lange Zeit dazu, sondern wir waren vielmehr darauf bedacht, sie bald in unsere Gewalt zu bekommen, damit wir den Tyrannen absetzten und Euch Euren rechtmäßigen Herrn wiedergaben.«
»O hättet Ihr doch erst gefragt,« unterbrach Demetrias, »ob wir auch darnach verlangten; es war Euch aber mehr darum zu thun, in den Besitz dieser herrlichen Stadt, ihrer Reichthümer und Reliquien zu gelangen, nicht wahr?«
»Keineswegs,« erwiderte der Ritter ruhig und ohne über die Beleidigung sich erzürnt zu zeigen, »wir hatten unsere Heimat verlassen, nicht um irdische Güter zu gewinnen, sondern um das Grab des Erlösers von den Heiden zu befreien. Wir sahen auf unserer Seefahrt viele der schönsten Städte auf Inseln und am Festland, unsere Flotte wäre mächtig genug gewesen, sie zu nehmen und zu unterwerfen, wir unterließen es aber, weil wir Gott fürchteten und Niemandem ein Unrecht zufügen wollten. Ja, glaubt nur, auch das war ein herzerhebendes Schauspiel, wie unsere herrliche Flotte näher fuhr, deren Fahrzeuge und Segel mit ihrer großen Menge das Meer zu bedecken schienen. Nun ich glaube, daß auch Eurem Volke der Heranzug unserer Schiffe einen großartigen Anblick darbot, wenigstens bemerkten wir, nachdem der Thurm von Galata genommen, und die eiserne Kette, welche die Einfahrt zum goldenen Horn versperrte, durchgebrochen war und wir in den Golf einliefen, daß 187 eine unzählige Menge von Zuschauern von den Mauern der Hauptstadt uns beobachteten. Freilich mochte ihnen der Anblick nicht weniger furchtbar als glänzend erscheinen, denn es war nichts Geringes, als auf den Thürmen und Masten unserer Galeeren nun die entrollten Banner wehten, die Schilde, die Lanzen und Schwerter im Sonnenscheine blitzten.«
»Die Furcht war doch nicht so groß,« fiel Demetrias spottend ein, »daß man Euch nicht auch mit Wurfgeschossen empfangen hätte, dies konnte Euch mindestens beweisen, wie freudig Ihr erwartet und empfangen würdet.«
»Von diesen Wurfgeschossen wurden nicht einmal unsere Pferde scheu gemacht,« entgegnete der Flamänder lächelnd, »diese wackeren Thiere hielten sich vielmehr so lange ruhig, bis unsere Trompeten erklangen, dann aber stampften sie muthig die Verdecke, prachtvoll anzuschauen in ihren Stahlpanzern und rothen Satteldecken. Als wir am Ufer angekommen warm, sprangen wir Alle in voller Rüstung ins Meer bis an den Gürtel, jeder Ritter schwang seine Lanze, ebenso die Armbrustschützen ihre Bogen und so drangen wir ans Land. Da hättet Ihr nun sehen können, wie die Leute, welche der Usurpator gegen uns ausgeschickt hatte, eiligst die Flucht ergriffen und uns das Gebiet einräumten.«
Der Ritter sprach die letzteren Worte mit etwas erhobener Stimme und Betonung; die Gegenreden der schönen Griechin, welche soviel Abneigung und Geringschätzung ausdrückten, hatten seinen Gleich 188muth doch etwas aufgerüttelt, und er glaubte nun auch seinerseits die geringen Beweise von Muth, welchen die Gegner an den Tag gelegt, ins rechte Licht stellen zu müssen.
Während der Pause, die nun eintrat, schlich sich Demetrias' Bruder aus dem Kreise der Zuhörer, nicht ohne vorher mit einem bedeutungsvollen Blicke auf seine Schwester sie an ihr Versprechen zu erinnern. Sie verstand ihn und zögerte nicht, die Flamme, die sie angefacht hatte, weiter zu schüren. Sie fühlte sich siegreich und stolz darauf, sie ließ nichts anderes in sich aufkommen, als was sie bisher empfunden hatte – Abneigung. –
Der hünenhaften Gestalt, die ihr gegenüberstand, der hochherzigen Begeisterung, die aus dem Leuchten seiner blauen Augen sprach, gönnte sie kein Recht, gestattete sie keinen Zutritt zu ihrem Herzen, kalt wies sie von sich jedes Aufkeimen einer zarteren, ihrer Jugend und ihrem Geschlechte entsprechenden Neigung. Sie hätte in diesem Augenblick, wo sie über die Feigheit der Ihrigen erröthen mußte, diese rächen mögen, jubelnd würde sie einen Pfeil in die Brust des Feindes, des Eroberers ihrer Vaterstadt gesendet haben.
»Nun,« unterbrach sie die Stille, die eingetreten war, »nun erzählt doch weiter von den Heldenthaten dieser Venetianer und Lombarden, erzählt uns, wie sie unter dem Schutz ihrer riesigen Belagerungsgeschosse die Mauern endlich erstiegen und mit Uebermacht die Unsrigen zurückdrängten.«
189 »Geduld, meine schöne Feindin,« entgegnete der Ritter wieder, »Ihr würdet anders sprechen, wenn Ihr diese Venetianer gesehen hättet, unter Anführung ihres blinden Dogen, wie sie die Mauern erstürmten; Bewunderung würde Euch ergriffen haben für den heldenmüthigen Greis, der als der Erste sich ans Land setzen ließ, die Fahne des heiligen Markus ergriff, und – o laßt mich schweigen von Thaten, die zu groß und erhaben sind, um sie vor denjenigen zu melden, die uns feindlich im Herzen gesinnt sind!«
»Enrico Dandolo,« nahm nun der Herr des Hauses das Wort, »ist ein Mann, dessen Eigenschaften auch der Feind seine Achtung nicht versagen darf. In diesem Achtzigjährigen lebt mehr Willenskraft und Frische des Geistes als in hundert Anderen, die jünger sind.«
»So ist es,« fuhr nun der Erzähler begeistert fort, »und diese Willenskraft vollbringt das Wunderbare. Wisset, das Feuer seines Muthes war an jenem Tage so groß, daß es die Blindheit seiner Augen überwand und ihm während des Kampfes seine Sehkraft wiedergab, er sah, während er den Seinigen voranstürmte, er sah, während er in die Feinde drang und sie vor sich niederstreckte.«
190 Der Jüngling sprach dies mit so enthusiastisch gehobener Stimme, daß es war, als ob das Wunder, das er erzählte, auch ihn in einen außerordentlichen, fast übermenschlichen Gemüthszustand versetze. Fernherein von draußen hallte und verhallte in gedämpften Klängen die Trompete, die ihn fortrufen sollte – er vernahm es nicht, seine Sinne waren der Außenwelt verschlossen, oder vermengte sich das Wirkliche so mit dem eben von ihm geschilderten, daß er nur die Schlachttrompete jenes Tages zu hören wähnte?
Wie außer sich, erhob er die Arme über sein Haupt und schlug sie dröhnend über seiner gepanzerten Brust zusammen, indem er einen wilden Blick auf Demetrias heftete. Diese blieb ruhig, sie sagte nur:
»Da Ihr von Wundern sprecht, da der Himmel Euch zu Lieb Wunder geschehen ließ, so mögt Ihr uns schon verzeihen, wenn ich vor der Tapferkeit, die sich dabei zeigte, nicht eine gleiche hohe Meinung haben kann, wie Ihr. Wie kam es denn, daß die Venetianer, als sie in die Stadt drangen, Feuer anlegten? Doch nur, weil sie einen erneuten Angriff von Seite der Unsrigen befürchteten?«
Sie hatte diese Frage rasch und hastig ausgesprochen in der Absicht, durch ihren kecken Widerspruch den Eifer des Gegners neuerdings zu stacheln, um seine Aufmerksamkeit völlig von allem Anderen abzuwenden, und es gelang ihr. Er antwortete:
191 »Nichts würde die Tapferen abgehalten haben, die Stadt vollends zu nehmen, wenn nicht ein Zufall sie daran verhindert hätte.«
»Welch ein Zufall?«
»Es hatte sich das Gerücht verbreitet, daß wir, die wir mit dem Grafen von Flandern und mit Peter von Amiens vor dem Palast Blachernä gegen die Uebermacht des Kaisers standen, und bereits im Kampfe begriffen waren, uns in großer Gefahr befänden. Auf dies beschloß der Doge den errungenen Sieg und die bereits eroberten Mauern aufzugeben und seinen Waffengefährten zu Hilfe zu eilen. Da nun die Venetianer sich zurückzogen und von einer großen Anzahl Feinde angegriffen wurden, so brachten sie Feuer zwischen sich und jene, um ihren Rückzug zu decken, den sie wegen der Großmuth ihres Anführers, keineswegs aus Furcht antraten. Das Endergebniß des Tages aber war, daß der Tyrann die Flucht in der folgenden Nacht ergriff, weil er sich so viel als besiegt sah. Unser Schützling aber, Alexius, zog nun in seine Hauptstadt ein und das Erste war, daß er seinen alten geblendeten Vater aus dem Gefängniß holte und ihm das Scepter dieses Reiches wieder einhändigte. Wahrlich, auch dies war ein ergreifender Moment und eine That, derer nicht unwürdig, die ausgezogen waren, um das Grab zu befreien.«
Der fränkische Krieger hielt inne und blickte auf Demetrias, gleichsam, als erwarte er, in ihren 192 Mienen das Geständniß zu lesen, daß sie endlich überwunden sei. Und in der That, die Jungfrau, die bisher, an einen Pfeiler gelehnt, in einer streitbaren Haltung ihm gegenüber gestanden, näherte sich jetzt und ließ sich auf einem Polster nieder. Aus ihren Gesichtszügen war alles Feindselige verschwunden und mit einschmeichelnden Worten begann sie:
»Was aber hält Euch, Ihr tapferen Schaaren, noch länger hier zurück, Euer Zweck ist erreicht, weshalb folgt Ihr noch immer nicht Eurem ursprünglichen Ziele, das Grab des Erlösers für die Christenheit wieder zu gewinnen? Warum gebt Ihr uns nicht unsere Freiheit und Selbstständigkeit wieder?«
»Wir haben Bedingungen mit Alexius abgeschlossen, wir haben Forderungen geltend zu machen für den Dienst, den wir ihm geleistet, und diese müssen erst erfüllt werden, ehe wir gehen. Geduldet Euch also, geduldet Euch noch, in nicht allzu ferner Zeit werdet Ihr von der Belästigung Eurer Gäste befreit sein. Und das mahnt mich, Euch selbst nun von meiner Anwesenheit zu befreien. Lebt wohl, lebt wohl für immer!«
»Ihr wollt uns verlassen,« rief Demetrias, »und für immer?«
»So ist es, ich werde mich einem Kriegszug anschließen, der nächster Tage schon Byzanz verläßt, um nach dem Peloponnes aufzubrechen.«
193 »Und sollen wir Euch wirklich nicht wiedersehen,« riefen die beiden Eltern, indem sie sich erhoben und ihre Hände auf die Arme des Gastes legten. »Nein, Ihr müßt wiederkommen, Ihr solltet auch in Tagen des Glückes und der Ruhe mit uns zu Tische sitzen! – Versprecht uns das!«
»Ich wollte gerne, aber ich würde fürchten, mein Versprechen nicht halten zu können.«
»So nehmt wenigstens für heute,« erinnerte Demetrias, »Begleitung von unseren Dienern mit, bis Ihr bei den Eurigen eintrefft.«
»Seid ohne Sorge für mich,« antwortete Balduin, »meine Knappen mit den Pferden erwarten mich beim Thore der Sanct Johanniskirche; es wird bis dahin sich nicht leicht Jemand an mich wagen; wisset, daß jede gegen einen von uns versuchte Missethat von dem ganzen Heere der Kreuzfahrer aufs strengste geahndet wird.«
Damit zog er den Gürtel seines Schwertes fester und drückte den Helm aufs Haupt.
Nachdem ihn der Senator mit dem Zeichen des Kreuzes gesegnet hatte, gaben ihm alle der Reihe nach die Hand, und er schritt hinweg nicht ohne einen schmerzlichen Blick auf Demetrias zu richten, die ihm zwar die Hand wie die Uebrigen reichte, aber sogleich wieder entzog.
Nachdem er weggegangen, blieben Petronius und seine Gattin in stummes Sinnen vertieft bei der Thür stehen und beteten – Demetrias aber 194 lenkte ihre Schritte durch den Garten nach einem Portikus, welcher das Haus mit einer nahegelegenen Kirche verband. Sie zitterte für ihren Bruder. Aus seinen leidenschaftlichen Aeußerungen konnte sie schließen, daß er einen Angriff auf den Flamländer beabsichtigte; die Blicke, welche dieser während seiner Erzählung auf sie geheftet, mußten seinen Haß nur noch mehr entflammen. Sollte er es wagen, den Hünen gefangen nehmen oder ermorden zu wollen? Er würde nur sein Leben dabei einbüßen, das stand ihr fest, gegen die Stärke jenes Jünglings erschien er nur wie eine Katze gegen einen Löwen, und selbst wenn ihrer mehrere wären, so mußten sie erliegen.
Wenn es auch die Byzantinerin sich nicht hatte anmerken lassen, sie war in ihrem Innern nur zu sehr davon überzeugt, daß der Ritter Recht hatte zu behaupten, ein einziger der Abendländer werde zehn ihrer Landsleute bewältigen. Sie befand sich bald in dem Säulengange zwischen dem Garten ihres Vaterhauses und der Kirche. Sie wollte diese betreten und eine Pforte, die sich nach der Straße zu öffnete, aufschließen, um ihrem Bruder Gelegenheit zu geben, sich herein zu flüchten, wenn er in Noth käme und das Haus nicht mehr erreichen sollte. Kirchen waren stets Asyle in jener Zeit und von dem Hause ihrer Eltern war dadurch jede Gefahr abgewendet. Er konnte keinen andern Weg nehmen.
Ihre Befürchtung schien sich sehr bald zu rechtfertigen; sie hatte noch nicht die Hälfte des 195 Porticus durcheilt, als sie ein Getöse vernahm, das von der Straße her drang; sie blieb stehen und horchte – deutlich hörte sie Schwertstreiche, die auf das Erz von Schilden prallten, dann vernahm sie einen dumpfen Fall, dann ein Murmeln vieler Menschenstimmen, dann ein Geräusch nahender Schritte – es zog sich nach der Kirche – heftig schlug ihr Herz. In diesem Augenblicke war ihr der Fremde nicht mehr verhaßt, der dumpfe Fall konnte nur der eines schwergerüsteten und eines Mannes von solcher Größe und Hünenhaftigkeit sein, sie erschrak.
Ihr Gehör hatte sie nicht getäuscht, es waren wirklich ihr Bruder und ein Haufe Byzantiner, die nach der Kirche drangen. Sie hatten dem Flamländer aufgelauert, ihn umringt, und während er sich die Einen mit dem Schwerte vom Leibe hielt, fielen die Anderen ihn durch einen Seitenweg von rückwärts an und warfen ihm Schlingen über, an denen sie ihn zu Boden rissen und wehrlos machten. Vergeblich rang der tapfere Mann, sich der Bande zu erwehren, seiner Riesenstärke gelang es nicht, sie zu zerreißen, sie schleppten ihn nach der Kirche, um die Drohung wahr zu machen, die Johannes ausgesprochen hatte.
Wie nun Demetrias nach vieler vergeblicher Anstrengung das schwere Thor zur Kirche geöffnet hatte und das Heiligthum, einen dunklen, nur an einer Stelle schwach erhellten Raum, betrat, hörte sie das gleiche Tosen und Murmeln wie vorher nun 196 in dem Kreuzgange, der sich an der Westseite der Kirche befand, – eine Thür hinter einem der Nebenaltäre führte dahin. Als sie auch diese aufgeschlossen hatte, drang ihr ein so blendender Lichtschimmer entgegen, daß sie für einen Moment die Augen zu schließen genöthigt war. Als sie dieselben wieder öffnete, bot sich ihr ein Anblick, der sie erstarren machte.
Der Feuerschein, der sie geblendet, kam von einer Menge Fackellichter her, deren trüber Rauch emporwirbelte und eine Reihe dunkler Gestalten halb einhüllte, aus deren Mitte jedoch sich ein Bild von erschütternder Schrecklichkeit abhob. In einer der Vertiefungen des Kreuzganges sah sie ein Kreuz aufgerichtet und an diesem eine jugendliche Gestalt gefesselt, blutend aus vielen Wunden, in zerrissenen Kleidern, an denen die Bruchstücke der zerhauenen Rüstung hingen, der flandrische Ritter war es ans Kreuz geheftet. Das Haupt, von der Fülle blonder Locken übergossen, hatte sich auf einen der ausgespannten Arme gesenkt.
Demetrias erkannte ihn, ein Schrei entrang sich ihrer Brust. Er erhob das Antlitz, Todtenblässe lag auf den Wangen, die weit geöffneten Augen schienen nach ihr auszublicken, nicht mehr von jenem kriegerischen Muthe beseelt, der noch kaum vorher ihren Trotz, ihre Abneigung herausgefordert hatte, vielmehr strahlte aus ihnen die Sanftmuth eines unendlichen Leides und wie voll himmlischer Vergebung ruhten diese Blicke jetzt auf ihr.
197 In einem Augenblicke war ihr Alles klar bewußt, sie hatte ihn überliefert, sie hatte die Veranlassung seiner Gefangennahme gegeben, eine furchtbare Reue schnitt durch ihre Seele, alles was noch Denken und Wille in ihr war, vereinigte sich jetzt in der einen Stimme – rette ihn!
Sie drängte sich durch die bewaffnete Schaar, die ihr wie eine Legion höllischer Geister vorkam, sie stand vor ihm, sank vor ihm nieder und hob bittend die Hände gegen ihn auf und rief: »Vergieb mir – ich wußte nicht, daß ich Dich so wiedersehen sollte!«
Ein mildes Lächeln war die Antwort und ein tiefes Seufzen, das die Brust des jungen Riesen hob, als wollte es sie zersprengen. Demetrias versuchte die Bande zu lösen, die ihn umschnürten.
»Helft,« rief sie, »befreit ihn, Ihr Unseligen, die Ihr so ungeheuren Frevel verübtet!«
Vergeblich war ihr Flehen, man rief Zeter über sie, Verwünschungen und Stimmen wurden laut, welche riefen: »Steiniget sie!«
Schon erhoben sich drohende Fäuste über ihr – da erkannte sie Plötzlich unter dem Knäuel der grinsenden, wuthverzerrten Gesichter ihren Bruder. Mit starkem Arm umfing er sie und hob sie, die zusammen gesunken war, vom Boden auf.
»Sträube Dich nicht, flüsterte er ihr zu, »lasse von ihm, er ist des Todes!«
Sie hörte ihn nicht, sie sah nicht sein finsteres Antlitz, fühlte nicht seine Hand, die ihren Arm um 198klammert hielt, ihre Sinne waren von der Macht eines stärkeren Eindruckes gefesselt, sie hörte es wie mit Donnerschlägen an das Thor des Kreuzganges pochen, es brach zusammen und herein stürzten geharnischte Männer mit Aexten und Streitkolben bewaffnet. Es waren die Kreuzfahrer, die ihren Gefährten aufsuchten und seinen Spuren bis hierher gefolgt waren.
Sie sah halb mit Schrecken, halb mit Freude diese Furchtbaren herandringen, sie ahnte, daß es seine Freunde, die Retter und Befreier des Gekreuzigten waren, aber im gleichen Augenblick fühlte sie sich fortgerissen, von der eisernen Faust ihres Bruders hinweg geschleppt.
Er und die fanatische Schaar, die ihm bei seinem Verbrechen geholfen, fanden noch Zeit, sich zu flüchten, da die Eingedrungenen vor Allem darauf bedacht waren, ihren Waffenbruder loszubinden. Sorgfältig lösten sie seine Fesseln, stillten seine Wunden und trugen den leblos in ihren Armen Ruhenden von dem entsetzlichen Orte weg und nach dem Lager, wobei sie mehrmals Halt machen mußten, da sie bemerkten, daß er allmälig zu sich kam und das Leben in ihm erwachte. Vor seinem Zelte, wohin sie ihn brachten, hatten sich die Vornehmsten der Anführer und eine Menge Kriegsvolk eingefunden. Auf Befragen nach dem Geschehenen sagten sie:
»Wir hatten ihn an der abgeredten Stelle zur festgesetzten Zeit erwartet und harrten noch immer, als schon längst von der Trompete 199 das übliche Zeichen gegeben war, aber vergeblich Wir beriethen uns eben, was wir nun thun wollten, als aus der Richtung, wo wir ihn vermutheten und wohin wir ihm entgegengehen wollten, Waffenlärm uns aufmerksam machte. Wir stürmten sogleich dahin, woher das Getöse laut und lauter erklang, indem wir nicht zweifelten, daß unser Ritter überfallen worden sei. Bald fanden wir auch Waffenstücke am Boden und Blutspuren und diesen folgend, während der Lärm verstummt war, gelangten wir an die Kirche. Der aufqualmende Rauch und der Feuerschein über dem Gebäude bestärkten uns in dem Vorsatz, das Thor zu sprengen und hineinzudringen. Wir thaten es und fanden ihn – ach Ihr seht – wie!«
Bei dem Anblick des vom Kreuze genommenen Mannes und seiner Wunden, erwachte in allen Kriegern das Andenken an den Heiland und die Mahnung ihrer großen Mission. Stürmisch forderten die Einen, sogleich nach Palästina aufzubrechen, Andere verlangten, man solle nach Constantinopel und die ganze Stadt mit Feuer und Schwert verwüsten, um die Stätte eines so ungeheuren Frevels dem Erdboden gleich zu machen. Nur dem Zureden Peter von Amiens gelang es, sie für den Augenblick zu beruhigen, aber die ganze Nacht hindurch ertönte Zurüstung zur Schlacht. Viele knieten unter dem freien Himmel auf den Steinen, klagten sich ihrer weltlich gewordenen 200 Sitten an, erneuerten ihr heiliges Gelübde des Kreuzzuges.
Die Familie des Senators durchlebte während dieser Vorgänge qualvolle Stunden der Bestürzung und Angst. Eine ungewisse Kunde des Geschehenen war zu ihnen gedrungen, bald auch wurden der Sohn und die Tochter vermißt. Die trüben Ahnungen, welche sie beim Scheiden ihres Gastes gehabt, schienen nun in Erfüllung zu gehen. Keines wagte was es dachte, vor dem Anderen auszusprechen, aber Jedes war gefaßt, in Bälde Schreckliches zu hören.
Endlich trat Johannes ein, die halb ohnmächtige Schwester mehr tragend als führend. Er brachte sie auf ein Ruhebett und bat, ihr Erholung zu gönnen, sie mit keiner Frage zu stören. Wie wäre sie auch fähig gewesen, dasjenige in Worte zu kleiden, was sie erlebt hatte und was in ihr vorging? Kaum war dies gethan, so erschienen unter der Thüre des Gemaches einige seiner Mitschuldigen und riefen ihm zu:
»Komm! die Feinde dringen gegen die Stadt vor, komm mit uns, Dich ihnen entgegenzuwerfen.«
Er trat an das Lager der Schwester und flüsterte ihr zu: »Schweige – Du sagst nichts, ich bitte Dich – schweige über Alles, um unser Aller Heil sei gebeten!«
Er umarmte die Eltern und eilte in wilder Begeisterung hinweg.
»Fasset Muth,« rief er noch im Gehen, »wir 201 werden unsere Vaterstadt vertheidigen bis zum letzten Athemzug!«
Im Panzer und bewaffnet erschien er des folgenden Tages und brachte die Nachricht, es habe ein Theil der Kreuzfahrer gestern versucht, die Stadt in Brand zu stecken, wäre aber von seinen eigenen Heerführern zurückgehalten worden.
»Wir dürfen jedoch,« setzte er hinzu, »nicht ermatten und müssen stets auf unserer Hut sein, diese beutelüsternen Schaaren werden früher oder später ihren Angriff erneuern.«
Der Senator gab ihm Recht.
»Ich bedaure nur dies,« sprach er, »daß wir nun unseren Gastfreund nicht mehr sehen werden!«
»Ist er todt,« fuhr Demetrias auf, »ist er todt?«
Johannes trat an ihr Lager und sah sie mit so durchdringenden überwältigenden Blicken an, daß sie mit einem Aufschrei zurücksank und ihr Gesicht in beide Hände drückte als vor einem schrecklichen unerträglichen Anblick.
Es verging nun beinahe eine Woche, bis Johannes wieder im elterlichen Hause eintraf.
Er kam in heftiger Erregung und wilder Spott saß auf seinen Lippen.
»Ausgleich und Versöhnung,« rief er aus, »ist uns bescheert worden, aber hört, welchen Lohn unsere Schwäche geerntet hat: der Kaiser begab sich nach abgeschlossenem Frieden in ihr Lager, zu den Gezeiten seiner Freunde, wie der Thörichte sich aus 202drückte. Sie brachten ihre schweren Becher hervor und nöthigten ihn, mit ihnen zu trinken und zu würfeln. Da bald all sein Gold zu Verlust ging, setzte er sein kaiserliches Diadem aufs Spiel und verlor.
Sie nahmen es ihm lachend vom Haupte, setzten es Einer nach dem Andern sich, und zuletzt ihren Possenreißern und Narren auf; seinen Scheitel dagegen bedeckten sie mit dem Helm eines ihrer stierköpfigen Ritter. O Vater, es ist unerträglich geworden!«
»Ach,« seufzte Petronius, »ich gebe Dir Recht, wir glaubten nach Beseitigung des Usurpators unsere Lage gebessert zu haben, aber alles ist nur verschlimmert worden! Es ist, als sollten wir unglücklichen Römer durch unsere Herrscher zu Grunde gerichtet werden.«
Bei diesen Worten erhob sich Demetrias und hoch emporgerichtet rief sie einer Kassandra gleich:
»Alles wird erfüllt werden, alles Unheil wird über uns hereinbrechen, wie es noch immer und aller Orten geschah, wo die Schuld eines unerhörten Verbrechens auf den Seelen lastet. Ich sehe den Richter gegen Jerusalem heranschreiten. Wir werden Alle mit dem Tode bestraft werden, o nicht nur wir, diese Stadt, das ganze Volk, das ganze Reich geht zu Grunde! Du aber,« wendete sie sich gegen ihren Bruder, »fliehe! Dich wird bis ans Ende der Welt sein Anblick verfolgen, seine Todesqual wird an Deine Ferse sich heften.«
203 »Du könntest Recht haben, Prophetin,« entgegnete hohnlächelnd ihr Bruder, »nur bedenke, daß noch ein Unterschied ist zwischen dem Sohne Gottes und einem Räuber und Barbaren. Ja, wir haben ihn gekreuzigt, jenen übermüthigen Franken, und ich, der Anstifter, soll dafür an die Feinde ausgeliefert werden. Alexius hat mit zitternder Hand mein Urtheil unterschrieben, aber eher wird er vom Throne stürzen, ehe mir nur ein Haar gekrümmt wird. Lebt wohl, Eltern, ich sehe, daß auch Ihr Euch mit Entsetzen und Abscheu von mir wendet. Lebt wohl, Ihr sollt von mir hören!«
Es war das letzte Mal, daß er die Seinigen sah.
Die Weissagung traf ein; der junge Kaiser, seiner Schwäche wegen den Griechen verhaßt geworden, wurde durch einen seiner Verwandten entthront und ermordet. Der Krieg mit den Kreuzfahrern, die Belagerung Constantinopels begann aufs neue.
In einem der Kämpfe, die sich nun entspannen, und anfangs glücklich für die Byzantiner ausfielen, fand Johannes seinen Tod. Er starb bei der tapferen Vertheidigung eines Thurmes, des letzten, den die Belagerer nahmen.
Balduin von Flandern aber genas in dieser Zeit von seinen Wunden, er konnte bereits am Kampfe theilnehmen und zeichnete sich durch Tapferkeit aus, doch die Spur der erlittenen Todesqualen blieben an ihm sichtbar, das frische Blutroth war aus seinen Wangen gewichen.
204 Sogleich nach Einnahme der Stadt eilte er dahin, wo seine Hoffnungen begraben waren, er fand das Haus verödet, ausgeplündert, seinen Nachforschungen gelang es zu erfahren, daß Demetrias und die Ihrigen gleich beim Beginne der Belagerung mit mehreren anderen Familien geflüchtet seien.
Die Todtenblässe, die tiefe Trauer in seinen Gesichtszügen, durch den Schmerz über diesen Verlust noch erhöht, ließen ihn kaum noch als den erkennen, der er einst gewesen, seine Waffenbrüder aber sahen in ihm einen Helden und Märtyrer, beides das Höchste in der Vorstellung jenes Zeitalters, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß dieser Umstand dazu beitrug, die Wahl eines Kaisers aus ihrer Mitte auf einen Mann gleichen Namens zu lenken. Der Graf Balduin von Flandern wurde nach der Eroberung Constantinopels durch die Kreuzfahrer von ihnen zum griechischen Kaiser erwählt. Er vertheilte nun nach Sitte des Abendlandes das Reich an seine Getreuen und Vasallen.
Athen, Sparta, Theben kamen unter die Herrschaft französischer Barone, die Paläste von Argos und Mykenä wurden Ritterburgen, und am Alpheios und in Arkadien sah man Herren und Grafen mit ihren Bannern ziehen, kämpfen und das Land in Besitz nehmen.
Auch der Gastfreund des Senators Petronius erhielt ein Gebiet im Peloponnes und machte sich auf mit seinen Dienstleuten, seine Herrschaft anzutreten.
205 Monde waren vergangen, ein noch niemals so früh und rauh eingetroffener Winter war über die Länder des oströmischen Reiches hereingebrochen. Besonders in den gebirgigen Gegenden lag fußhoher Schnee und es wehte ein alles ertödtender eisiger Nordsturm.
Zu diesem Elende gesellte sich noch in Folge des Krieges eine Hungersnoth, welche die unglücklichen Bewohner dahinraffte.
Am unglücklichsten waren diejenigen von den Angeseheneren und Reichen Constantinopels, die vor und nach Eroberung ihrer Vaterstadt eine Zuflucht außerhalb der Mauern gesucht hatten.
Unter ihnen befand sich auch die Familie des Senators, die in langem Umherirren den äußersten Entbehrungen und Gefahren sich ausgesetzt sah. Demetrias ertrug mit Muth und Ergebung die Drangsale der Reise, sie tröstete ihre Mutter und pflegte den betagten Vater, der bei seinem Alter den Strapazen kaum noch Stand zu halten vermochte.
Ihr Fortkommen wurde mit jedem Tage beschwerlicher. Oft mußten sie beinah ganz menschenleere Strecken durchziehen, ihre Nahrungsmittel gingen zu Ende, ihre Thiere waren ermüdet und kaum noch im Stande sich selbst fortzuschleppen. Wo sie in ein Dorf kamen und die Bewohner um Hilfe ansprachen, mußten sie die rauhesten Worte hören.
»Ah«, hieß es, »Ihr Städter, was sucht Ihr bei uns? Wir haben nichts mehr. Seit Jahren 206 mußten wir Steuern über Steuern entrichten, damit Ihr in Constantinopel ein üppiges Leben führen konntet. Fort mit Euch!«
Einst, als sie bei einbrechender Dunkelheit vor der Thüre eines Hirten im Gebirge hielten, trat dieser hervor, ein ganz in Ziegenfelle gehüllter Mann und fuhr sie barsch an:
»Was sucht Ihr bei mir? Ihr, die Ihr an Wohlleben und Ueppigkeit gewöhnt seid? Gehet!«
»Laß an Deinem Heerd uns wärmen, gönn' uns ein wenig Speis und Trank!«
»Seid Ihr das Blut der Thiere werth, das ich um Euretwegen vergießen soll? Seid Ihr es werth, daß ich den Wald seines Schmuckes beraube?«
Sie schwiegen.
»Gehet, ich habe nichts für Euch!«
»Laß uns nicht den Wölfen«, bat Demetrias, »hab' Erbarmen.«
»Erbarmen?« rief der Unerbittliche, »hattet Ihr Erbarmen mit uns? Gehet, suchet es anderswo, suchet es bei Demjenigen, der – für Euch …«
Er sprach nicht weiter, überwältigt von der Macht seiner eigenen Worte, die an denjenigen ihn mahnten, der die Liebe und das Erbarmen den Menschen gepredigt hatte – eben da er seinen Namen aussprechen wollte, mußte er verstummen; er wandte sich zu Demetrias mit einem Blick voll Milde, die vor Erschöpfung sich kaum noch aufrecht halten konnte. Er lud alle ein, in seine Hütte zu treten, er entfachte das Feuer auf seinem Heerd und 207 labte sie sorgfältig mit Milch und getrockneten Früchten und Brod. Aus den Fellen seiner Ziegen bereitete er ihnen ein Lager und da sie ihm danken wollten, sprach er:
»Ich verdiene Euren Dank nicht, ich bin ein großer Sünder, ich ward meinem Herrn untreu, und darum bin ich hart gegen Euch gewesen! Schlafet, ich werde wachen!«
Er ließ sie allein.
Bald darauf hörten sie den Sturm um die Hütte brausen, es war aber der Südwind, und als sie des Morgens erwachten und vor die Thüre traten, war der Schnee gewichen und der Frühling schien aus dem wolkenlosen, lichterfüllten Himmel herabzusteigen.
Von dem Hirten sahen sie keine Spur.
Sie setzten ihre Reise fort, gestärkt und mit neuem Muth und einigemal glaubten sie, seine hohe Gestalt auf den Höhen über ihrem Wege zu erblicken, er schien sie zu begleiten, ihr Führer zu sein.
Je weiter sie kamen und in die südlichen Thäler hinab schritten, um so freundlicher gestaltete sich die Landschaft um sie her, sie sahen den Oelbaum sich begrünen, die Reben an den Abhängen hatten schon junge Sprossen, um des Lorbeers goldne Blüthen summte der Bienenschwarm und auf den Feldern grasten Lämmer.
Am Abend gelangten sie in einen dichten Wald, immer dunkler wölbten sich die Zweige über ihnen, immer zweifelhafter wurde die Richtung unter den vielen sich kreuzenden Pfaden. Vergeblich sahen sie 208 sich nach dem Hirten um, dessen Erscheinung ihnen bisher als ein Leitstern gegolten hatte.
Es wurde Nacht, und allmälich wandelte sie Furcht an, schon wollten sie die Hoffnung aufgeben, ein schützendes Obdach zu erreichen, als der Weg sie plötzlich steil abwärts führte und sie einen Felsen entdecken ließ, an dem vorspringendes Gestein eine Art Höhle bildete. Sie traten wie in ein Labyrinth von Gängen, die tiefer in den Berg führten, und aus einem derselben winkte ein Lichtschimmer. Sie folgten und fanden hier Alles wie zu ihrer Aufnahme bereit, dasselbe Lager, Früchte und Brod. Sorgloser, da sie empfanden, unter dem Schutze ihres Erretters von gestern zu sein, überließen sie sich der Ruhe.
Mitten in der Nacht wurde Demetrias von dem fernen Schall eines Erzes geweckt, das den Tönen jenes Signales glich, welches die schmerzlichste Erinnerung in ihr hervorrief. Zugleich war es, als vernehme sie aus dem Grund der Höhle ein Aufseufzen – aus schwer von Leid gepreßter Brust und als sie sich aufrichtete, glaubte sie den Hirten zu schauen, der mit lautlosen Schritten an ihr vorüberging und vor dem Eingang der Höhle verschwand.
Als sie gegen Mittag des folgenden Morgens das Ende des Waldes erreicht hatte, lag vor ihnen ein Thal von Bergen umschlossen, an deren vortretendem Höhenzuge eine Burg von cyclopischer Bauart lag. Aus ihren Mauern kam ihnen, wie 209 sie sich näherten, ein Reitertrupp mit wehenden Bannern entgegengesprengt.
An der Spitze ritt in glänzendem Waffenschmuck ein Ritter, in welchem Demetrias den Hirten wieder zu erkennen glaubte, denn er hatte sich bisher nur im Dunkeln oder in weiter Ferne von den Wanderern erblicken lassen, als er aber vor ihr stand und sie in sein Antlitz sah, in die von einem eisigen Ernst erstarrten Züge, da war es der Todtgeglaubte, den sie liebte, und wie vor einer himmlischen Erscheinung neigte sie das Haupt.
»Es ist so,« sprach er, »ich war der Hirt, der Euch vom Untergang bewahrte, der Euch Hungernde gespeist, Euch Trauernde getröstet hat und so hab' auch ich eine Schuld gesühnt. Anstatt am Grabe das Schwert zum Richter zu machen, hab' ich euer theures Leben mir erhalten.«
»Und Ihr lebt, Balduin von Flandern, Ihr lebt!« war der Zuruf der beiden Alten, während Demetrias das unaussprechliche Glück verrieth, von dem sie ganz erfüllt war, und ihn freudestrahlend ansah.
»Kommt nur,« bat er sie begrüßend, »kommt nur auf meine Burg, die ich mit Euch heute zum erstenmal betreten darf, denn nun erst eracht' ich mich meines Gelübdes entbunden, und die Sühne vollkommen, da ich Euch gerettet habe und ein wahrhaftes Gut darin finde, in dem Lande für das Wohl des Volkes zu wirken, das so viel gelitten 210 hat. Hier wird mein Arm nöthiger sein, als vor den Mauern Jerusalems.
Wenn auch Du glaubst, es sei so das Beste, und wenn Du als Gattin und Herrin mir zur Hülfe sein willst, so reiche mir die Hand, Demetrias!«
»Hier,« sprach sanft Demetrias, »nimm diese Hand, sie wird Dir den Oelzweig bringen.«