Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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XVIII

John Maclean hatte seit dem Tode seines Bruders noch drei Monate in Edinburg bei seinen Schwestern verlebt und dann die Rückreise nach San Francisco angetreten. Er hatte dort eigentlich wenig zu suchen, aber er fand »drüben« alte Genossen und möglicherweise irgend etwas zu tun. Jedenfalls durfte er hoffen, in Kalifornien schneller mit den langen Tagen fertig zu werden, als ihm dies in Schottland, in der ermüdenden, stillen Einförmigkeit des Hauses seiner Verwandten, möglich gewesen war. – Vor seiner Abreise schrieb er an Frau Monja und an Natalie, und von beiden empfing er mit umgehender Post Antwort auf seine Briefe. – Frau Monja schrieb ganz kurz: Glückliche Reise, beste Wünsche, hoffentlich baldiges Wiedersehen, herzlichste Grüße, auch an die Schwestern, namentlich an Katharina. – Nataliens Brief war länger und wärmer; aber viel besagte er auch nicht. – John Maclean war jedoch nicht anspruchsvoll. Die Briefe, die er schrieb, waren Geschäftsbriefe, und er erwartete auch keine anderen als solche. Nataliens Brief, mit Nachrichten über die Kinder und ihr eigenes Befinden, mit der Versicherung, daß sie ihren »guten Freund Onkel John« schmerzlich vermisse und ihn »recht, recht bald« wiederzusehen hoffe, befriedigte ihn, wenn schon er beim Lesen desselben ein recht wehes Gefühl empfand.

Die Trennung von den »Mädchen« wurde dem Kalifornier nicht leicht, aber diese taten ihr bestes, um den Abschied nicht zu erschweren. – »Lebewohl, lieber John! Möge es dir gut gehen! Auf Wiedersehen!« – Das waren die letzten Worte, die er mit auf den Weg nahm, als er ihnen auf dem Bahnsteig die Hände zum Abschied drückte. Er blickte noch einmal zum Wagenfenster hinaus, als der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Da standen die vier schwarzen, großen Gestalten in Reih' und Glied und blickten ihm nach! Er winkte mit der Hand. Sie antworteten in derselben Weise. Und dann verschwanden sie hinter einem Pfeiler, und John Maclean empfand mit einem Gefühl schmerzlicher Leere im Herzen, daß er wieder losgelöst sei von allem, was er auf Gottes Erde liebte und was ihn liebte. – Aber er wurde nicht schwach.

»Niemals sag': alles ist verloren!« sprach er vor sich hin. Und dann warf er sich in eine Wagenecke und schloß die Augen, wie um zu schlafen.

Während der Überfahrt von Liverpool nach Neuyork knüpfte Maclean freundschaftliche Beziehungen an mit einem goldhaarigen, blauäugigen, langen, hageren, sehr gesprächigen Herrn Thomas Derrick, dem ersten Ingenieur des Schiffes, mit dem er manches Glas starken, heißen Grog leerte, und der in ihm einen ernsten und aufmerksamen Zuhörer seiner Theorien und Erzählungen fand. Herr Derrick stellte ihm dafür, den anderen Offizieren des Schiffes gegenüber, das Zeugnis aus, er sei ein sehr vernünftiger Mensch, mit dem sich ein ruhiges Wort sprechen lasse. Diese sahen sich Herrn Maclean darauf näher an und gesellten sich später zu ihm, als ob er einer der Ihrigen gewesen wäre, so daß John, als er das Dampfboot in Neuyork verließ, wohl ein Dutzend Paare harter, wettergebräunter Hände zu schütteln hatte, deren Besitzern er ohne Ausnahme die Worte wiederholte: »Froh, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Wenn Sie nach San Francisco kommen, dürfen Sie nicht vergessen, mich aufzusuchen. Bank von Kalifornien! Nie zu verfehlen!« – Er selbst erreichte seine Bestimmung wohlbehalten, ohne daß ihm das geringste Reiseabenteuer zugestoßen wäre und ohne sich unterwegs aufgehalten zu haben. Er hoffte, dort Nachrichten von Nikolaus vorzufinden, von dem er seit dem Tode Harrys nicht wieder gehört, und an den er seit seiner Ankunft in Amerika häufig und liebevoll gedacht hatte.

Maclean fand in San Francisco in der Tat Nachrichten von Ohlsen, und dieselben waren überraschend. Der Direktor der Bank von Kalifornien überreichte ihm einen großen, sorgfältig verschlossenen Brief, den sein »Partner« für ihn zurückgelassen hatte. Er enthielt verschiedene, weitschweifige Schriftstücke; aber nur die Unterschriften waren von Ohlsens Hand. Es waren Schenkungsurkunden, die von dem ersten Juristen San Franciscos in unantastbarer Form aufgesetzt waren, und die über den größten Teil des Ohlsenschen Vermögens unwiderruflich verfügten. – Nikolaus hatte von dem, was er besaß, 25 000 Dollars für sich behalten und diesen Betrag aus der Bank von Kalifornien entnommen. Das übrige hatte er in drei gleichen Teilen Natalie und deren zwei Halbgeschwistern, Harry Macleans Kindern, geschenkt. Für John war ein Kästchen bestimmt, das die wenigen und wenig wertvollen Schmucksachen enthielt, die Ohlsen seit Jahren getragen hatte. Sonst war in dem Umschlag nichts als die eine Zeile:

»Noch einmal, lebewohl! N. O.«

Es schien, als habe Ohlsen sein Testament gemacht, als habe er sterben wollen. Was jedoch Maclean in dieser Beziehung beruhigte, war der Umstand, daß Nikolaus 25 000 Dollars in barem Gelde mit sich genommen hatte. Maclean bemühte sich eifrigst, in Erfahrung zu bringen, was aus dieser Summe und deren Besitzer geworden war; aber seine Nachforschungen blieben erfolglos.

Nach geraumer Zeit – es mochte wohl ein Jahr dahingegangen sein – drang ganz zufälligerweise ein Gerücht zum Direktor der Bank von Kalifornien, wonach Macleans früherer Partner sich unter einem angenommenen Namen in Blighton Bar, einem neuen Minenlager im Nordwesten von Kalifornien, aufhalte. – Herr Whitley, ein alter Kunde der Bank, der nach Blighton Bar gereist war, um zu sehen, ob dort vielleicht in »Grubenaktien« etwas zu verdienen sei, glaubte Nick Ohlsen dort gesehen und erkannt zu haben. Sicherheit darüber hatte er sich jedoch nicht verschaffen können, da der mutmaßliche Ohlsen ihm aus dem Wege gegangen war, anscheinend absichtlich, denn er hatte sich während Herrn Whitleys Anwesenheit in Blighton Bar nicht wieder vor diesem blicken lassen. – Herr Whitley, ein alter Goldgräber, war nicht neugierig. Er hatte nicht versucht, das vermutete Inkognito aufzudecken. Ohlsen schuldete ihm nichts, und wenn er ihm aus dem Wege ging und unter einem angenommenen Namen leben wollte, so war das seine Sache.

Der Bankdirektor, dem Macleans Nachforschungen nach Ohlsen bekannt waren, teilte dem Schotten mit, was Whitley ihm erzählt hatte. Dieser und Maclean kannten sich seit langen Jahren, ihre Hütten hatten nebeneinander gestanden in dem Lager, in dem Maclean und Ohlsen Freundschaft geschlossen hatten. – Der alte Goldgräber war einem Genossen aus jenen Tagen gegenüber mitteilsamer als dem Bankdirektor; aber viel Neues erfuhr Maclean nicht von ihm, nur daß Whitley nun mit Bestimmtheit versicherte, Ohlsen gesehen zu haben.

»Ich würde doch Nick Ohlsen nicht mit einem andern verwechseln!« sagte er. »Ich kenne doch seinen Gang und seine Schultern, wenn ich ihn von hinten sehe. Er war es, so sicher, wie ich Bob Whitley bin. Aber er wollte mich nicht kennen.«

»Wie sah er aus?«

»Gealtert, abgemagert, wie einer, der die Fieber gehabt hat. Er hatte sich den ganzen Bart wachsen lassen und die Haare kurz geschnitten. Er sah mich eine Sekunde an – gerade so –« Herr Whitley blickte Herrn Maclean scharf in das Weiße der Augen – »dann wandte er sich ab und ging – aber ich hatte ihn erkannt.«

»Wie nannte er sich?«

»Das habe ich vergessen, alter Mann! Ich wußte nicht, daß die Sache Sie kümmerte, hatte Nick seit drei, Sie seit zwei Jahren nicht gesehen. ›Das Kompagniegeschäft muß wohl aufgelöst sein‹, dachte ich mir. Ich wunderte mich darüber, denn Ihr war't ja seinerzeit mächtige Freunde. Aber ich forschte nicht weiter nach. Gefährliche Sache, Wißbegierde, mit Burschen wie Nick; und ich, offen gesagt, habe, seitdem ich verheiratet bin, kein Vergnügen mehr an Auseinandersetzungen.«

»Schien er in Blighton Bar ansässig, bekannt?«

»Ja, sicher! Man zeigte mir seine Hütte.«

»Und Sie können sich auf seinen Namen nicht besinnen?«

»Ich hörte ihn nur ein einziges Mal und forschte nicht weiter. Der Vorname war ›Georg‹; aber ich will verdammt sein, wenn ich mich besinnen kann, unter welchem Familiennamen er segelte.«

Mit diesen Nachrichten machte sich John Maclean unverzüglich auf den Weg nach Blighton Bar. – Ohlsen hatte in London geschrieben, er wollte ihn, Maclean, niemals wiedersehen; aber das war für John ohne Bedeutung. Er wünschte, seinen alten Nick wiederzusehen! Achtzehn Monate waren nun seit der Flucht aus Lower Norwood vergangen. Die Zeit hatte möglicherweise ihre Wirkung getan, und Nikolaus war von seiner schwermütigen Laune geheilt. Dann sollte er wieder nach San Francisco zurückkehren und dort mit seinem alten Kameraden wie ein vernünftiger Mensch leben.

Maclean langte an einem heißen Junitage in dem neuen Goldlager an. Er war mit den Gebräuchen derartiger Ansiedlungen von alters her wohlbekannt, und sein ganzes Auftreten zeigte den »Jungen«, die vor der Schenke des Ortes die Ankunft der Post abwarteten, daß sie eine »alte Hand« vor sich sähen. – Der Wirt begrüßte ihn dementsprechend mit einem gewissen Respekt und fragte, was zu seinen Diensten stände. – Maclean begnügte sich damit, seinen Reisekoffer in Verwahrsam zu geben, da er sich zunächst im Lager etwas umzusehen wünschte. Er hatte nämlich seinen Feldzugsplan gemacht. Er wollte, ohne an irgend jemand eine Frage zu richten, die wenigen Hütten und Arbeitsplätze des kleinen Lagers absuchen, und wenn er Nick gefunden hatte, ihm die Hand auf die Schulter legen, als wäre er ein Schutzmann, und ihm sagen: »Junger Mann, Sie sind mein Gefangener! Sie werden mich sofort nach San Francisco begleiten!« – Dieser Plan hatte Herrn Maclean während des ganzen Weges beschäftigt und ihn verschiedene Male vergnüglich lächeln machen.

Als Maclean die letzte Hütte des Lagers erreicht hatte, ohne bis dahin auf Ohlsen gestoßen zu sein, schickte er sich an, die Arbeitsplätze zu besuchen. Er bedurfte zu dem Zwecke eines Führers und sah sich nach einem solchen um. Da erblickte er vor sich, auf einer kleinen Anhöhe, im Schatten eines Baumes, ein abgerissenes Individuum, das, auf dem Bauch ausgestreckt, den Kopf auf beide Hände gestützt, mit sichtlichem Wohlbehagen eine kurze Pfeife rauchte und dabei die große, ruhige Landschaft in Augenschein nahm, die, im Sonnenschein gebadet, zu seinen Füßen dalag. – Maclean rief ihn an.

»He! Sie Mann dort oben!«

Der Gerufene wandte die Augen nach rechts, um den Störenfried zu sehen; aber er rührte sich sonst nicht.

»Wollen Sie ein paar Dollars verdienen, dann bemühen Sie sich herunter zu mir?«

»Es ist nicht weiter von unten nach oben, als von oben nach unten!« schallte es zurück, und dann wandten sich die Augen des Ruhenden wieder dem Pfeifendampf zu, der sich ergötzlich in der stillen, hellen Luft kräuselte.

Maclean wußte, daß er nachzugeben hatte, wenn er sich mit dem Mann verständigen wollte, und klomm den Hügel empor. Da erblickte er in der Ebene, die sich unübersehbar weit vor ihm ausstreckte, in geringer Entfernung einen Reiter, der in gestrecktem Galopp dahinflog. Es war unmöglich, die Gestalt, die ihm den Rücken zukehrte, zu erkennen; aber die Art und Weise, wie sie sich, etwas nach vorn gebeugt, im Sattel hob und senkte, geschmeidig den Bewegungen des dahinsprengenden Pferdes folgend, erregte Macleans Aufmerksamkeit. – Neben dem Pferde jagten in langen, leichten Sprüngen zwei große Hunde, in denen Maclean schottische Windhunde zu erkennen glaubte.

»Hallo! Wer ist das?« rief er.

Der Liegende, dem er sich jetzt auf kurze Entfernung genähert hatte, hob die Augenbrauen und musterte ihn von der Fußsohle bis zum Scheitel, wie etwas Außerordentliches, Sehenswertes.

»Wer ist der Reiter dort?« wiederholte Maclean aufgeregt.

Der Liegende veränderte darauf langsam seine Lage. Er richtete den Oberkörper halb in die Höhe, wobei er sich nachlässig auf die linke Hand stützte, und nahm mit der Rechten die Pfeife aus dem Munde, um zu sprechen. – Aber »der Fremdling« bereitete ihm zunächst noch eine neue Überraschung. Dieser hatte nämlich plötzlich beide Hände an den Mund gelegt, und wie Trompetenton schmetterte aus seiner breiten Brust ein langgezogener, wilder Schrei: »Haia–o–hih!«

Die stille Luft trug den Schall weit hinaus in das Land, bis zu dem fernen Reiter. Die beiden Windhunde stutzten im Sprunge, knickten zusammen, wandten die Köpfe dem Hügel zu und setzten dann in langen Sätzen ihren wilden Lauf fort. Aber den Reiter schien der Schrei wie eine Kugel getroffen zu haben. Man sah deutlich. wie er sich schnell und tief auf den Hals des Pferdes beugte, das einen mächtigen Sprung machte, als sei es wütend gespornt worden, und dann mit rasender Geschwindigkeit weiterflog.

Maclean, dessen Augen unverwandt auf den Fliehenden gerichtet gewesen waren, hörte jetzt neben sich sprechen.

»Wollen Sie mir sagen, Fremdling,« so begann das sitzende Individuum, »wer Sie eigentlich sind, der Sie rufen, als wären Sie ein Eingeborener, Leute anreden, denen Sie nicht vorgestellt worden sind, und Fragen an sie richten, als wären diese in der Welt nur dazu da, um Ihnen Auskunft zu geben.«

»Wollen Sie zehn Dollars verdienen?« fragte Maclean schnell.

»Das ist wieder eine Frage; aber darauf antworte ich: ja!«

John zog zwei Goldstücke aus der Börse und reichte sie dem Mann.

»Wer ist jener Reiter?« fragte er sodann.

Der Gefragte beschattete seine Augen mit der einen Hand und blickte nach dem Fliehenden, dessen rasch dahinziehende Gestalt mit jeder Minute undeutlicher wurde.

»Wenn ich Georg Gilmore nicht vor einer Viertelstunde noch auf der Post gesehen hätte, so würde ich antworten: Georg Gilmore. Das ist sein Sitz. – Und richtig: er ist es! Fly und Panther sind bei ihm. Sehen Sie nicht die beiden Hunde?«

»Hier sind noch zehn Dollars,« sagte Maclean ungeduldig; »aber nun antworten Sie mir schnell! Wohin führt jener Weg?«

»In die Prairien.«

»Wissen Sie, wohin Gilmore reitet? Und könnte man ihn wieder einholen, um ihm eine gute Nachricht zu geben?«

»Wohin er reitet, das weiß ich nicht« – war die Antwort. »Er hat es mir nicht gesagt. Aber vielleicht können wir etwas darüber auf der Post oder in seiner Hütte erfahren. Kommen Sie, Fremdling! Ich werde Ihnen den Weg zeigen. – Ihn einzuholen aber, daran ist nicht zu denken. Er hat das einzige gute Pferd im Lager und ist der beste Reiter.«

Der Mann war jetzt aufgestanden und ging gelassen, aber weit ausschreitend voran. Maclean folgte ihm. Nach wenigen Minuten blieb der Führer vor einer Hütte stehen, deren angelegte Tür er öffnete, und die er sodann von der Schwelle aus aufmerksam in Augenschein nahm.

»Ja, er ist gegangen,« berichtete er, sich an Maclean wendend, der hinter ihm stehen geblieben war; »und wohl auf einen weiten Weg. Er hat seine »Henry« und die großen Satteltaschen mitgenommen. Er scheint auch noch gekramt zu haben, ehe er ging. Sein Koffer ist offen und halb geleert.«

Maclean trat in die Hütte und sah sich dort um. Außer einigem Sattel- und Reitzeug aus der besten Londoner Werkstatt, das der Besitzer sich aber auch in San Francisco angeschafft haben konnte, war in der Hütte nichts zu sehen, als was zur gehörigen Ausstattung eines Goldgräbers gehört. An einem Nagel hingen eine Joppe und ein Beinkleid, und darunter standen ein Paar starke, hohe Stiefel. »Der Anzug würde Ohlsen gepaßt haben,« dachte Maclean, und in seinem Geiste sah er Nikolaus darin stehen, wie vor zehn Jahren, einen herzhaften, lebensmutigen Mann, der sich damals stark genug gefühlt hatte, den Kampf mit der ganzen Welt aufzunehmen. Und nun war er zu Boden geschlagen, wahrscheinlich durch ein Paar weiche Frauenhände!

Auf der Post, der Hauptschenke von Blighton Bar, erfuhr Maclean im Gespräch mit einigen der Honoratioren des Lagers, daß sein Begleiter den harmonischen Namen Jim Croker führe und ein großer Freund berauschender Getränke, sonst aber ein nichtsnutziges, wenn auch harmloses und friedfertiges Individuum sei; auf seine Mitteilungen über Georg Gilmore dürfe man sich jedoch verlassen, denn er kenne diesen besser als ein anderer Mann im Lager, da Gilmore Herrn Jim Croker mehrere Male zu Dienstleistungen in seinem Stall und in seiner Hütte benutzt, für die er ihn wahrscheinlich immer sehr gut bezahlt habe, denn Jim sei darauf regelmäßig drei Tage hintereinander vollständig betrunken gewesen. – Maclean erschien den Goldgräbern als eine vertrauenswürdige Person. Man glaubte ihm aufs Wort, als er erklärte, er hätte Gilmore gern getroffen, um ihm etwas Angenehmes mitzuteilen, und man war nicht wortkarg in der Berichterstattung über den Verschwundenen.

Georg Gilmore hatte in Blighton Bar ein zurückgezogenes Leben geführt, auch nicht viel gearbeitet, wenn schon man ihm beim ersten Spatenstich, den er getan, angemerkt hatte, daß es eine »alte Hand« sein müßte. Er hatte jeden Tag die Post abgewartet, aber sich nie nach einem Brief erkundigt, auch nie einen bekommen oder geschrieben. Es wäre so seine Gewohnheit gewesen, und niemand würde daran gedacht haben, sich auf seinen Platz zu stellen, am Pfeiler, am Ende der Veranda; denn obgleich er niemals ein Wort lauter als das andere gesprochen, so hätte doch jedermann vermieden, sich ihm unangenehm zu machen; es wäre etwas Eigentümliches in seinem Blick gewesen, das jede Vertraulichkeit zurückgewiesen hätte.

»Trank er, spielte er?« fragte Maclean.

»Nein.«

»Was tat er während der langen Abende? Er konnte doch nicht allein in seiner Hütte sitzen?«

»Nun, er trank und spielte natürlich; aber nicht, was man trinken und spielen nennt. Er tat es ohne Freude. Er nahm keine Bank, auch war er niemals betrunken. David O'Connor, der spielt. – Hat gestern wieder alles bis auf seinen letzten Cent verloren; und Jim Croker – der trinkt. – Nein! Gilmore spielte nicht und trank auch nicht. – Er war ein Mann, Herr Maclean, der einem leid tat. Nicht, daß er jemals geklagt hätte; aber er sah aus wie jemand, dem etwas am Herzen nagt, das ihm jede Freude abfrißt. Wir haben manchmal untereinander über ihn geredet und kalkuliert, daß er jenseits des Wassers etwas verübt oder verloren haben müßte, was ihm Ruhe und Frieden raubte. – Wissen Sie, wie wir ihn nannten? Peter Schlemihl, den Mann, der seinen Schatten verloren hat. Denn etwas Außergewöhnliches, Geheimnisvolles war es um Gilmore. Ein einfaches Verbrechen hatte er nicht begangen. – Man hat ja in seinem Leben schon Mörder und Räuber und Falschmünzer gesehen! Aber diese Leute, auch wenn sie den Sheriff auf ihren Fersen wußten, sahen nicht so trostlos aus wie Georg Gilmore. – Peter Schlemihl war der richtige Name für ihn.«

Maclean blieb noch drei Tage in Blighton Bar. Vor seiner Abreise übergab er dem Postmeister für Georg Gilmore einen Brief, der nach sechs Wochen an Maclean zurückgesandt werden sollte, falls es bis dahin nicht gelungen wäre, den Adressaten aufzufinden.

Der Brief gelangte wieder in Macleans Hände. Gilmore, so berichtete der Postmeister in einem freundschaftlichen Schreiben, sei im Lager nicht wieder aufgetaucht und auch sonst nirgends zu entdecken gewesen.

Um dieselbe Zeit empfing Maclean einen unerwarteten und angenehmen Besuch, nämlich den seines flachshaarigen, gesprächigen Freundes Thomas Derrick, mit dem er vor Jahr und Tag die Reise von Liverpool nach Neuyork gemacht hatte. Derrick war auf eine andere Linie versetzt worden und fuhr jetzt zwischen Panama und San Francisco. Er hatte Maclean gleich nach seiner ersten Reise aufgesucht, aber nicht angetroffen und auf der Bank von Kalifornien erfahren, daß jener auf einige Tage in das Innere gegangen sei und voraussichtlich bald wieder nach San Francisco zurückkehren werde.

»Wann war das?« fragte Maclean.

»Am 18. Juli,« antwortete der Ingenieur.

Er war des Tages sicher, denn das Dampfboot, auf dem er diente, hatte einen »Postkontrakt« und mußte stets innerhalb bestimmter kurzer Fristen seine Reisen vollenden.

»Am 18. Juli war es,« wiederholte er. »Wir blieben eine Woche hier und fuhren am 25. nach Panama zurück.«

»Das stimmt,« sagte Maclean. »Ich war um die Zeit im Nordwesten auf der Suche nach einem verlorenen Freunde.«

Und da John Maclean und Thomas Derrick mittlerweile beim vierten großen Glase starken, heißen Grogs angelangt waren, und der Schotte das Bedürfnis fühlte, von dem zu sprechen, was ihm schwer auf dem Herzen lag, so erzählte er dem Gast die Geschichte seiner Fahrt nach Blighton Bar, ohne jedoch Ohlsens wahren Namen zu nennen.

»Wie sah der Mann aus?« fragte Thomas Derrick.

Maclean gab eine genaue Beschreibung von Ohlsens Äußerem.

Derrick strich sich den Bart, schaute nachdenklich in das vor ihm stehende Glas, nahm einen tiefen Zug daraus und sagte sodann:

»Ich habe Ihren Mann.«

»Wie? – Was?« fragte Maclean aufgeregt.

»Er nannte sich Alexander Allen,« fuhr der Ingenieur ruhig fort; »aber ich will mich hängen lassen, wenn er nicht Ihr Georg Gilmore war . . . Also hören Sie . . . Als die ›Goldene Küste‹ – dies war der Name des Dampfers, auf dem Herr Derrick jetzt fuhr – bereits von der Boje los war und die letzten Boote das Schiff verlassen hatten, näherte sich noch ein kleines Gig. Die Treppe war schon aufgezogen; aber der Passagier, der in dem Boote saß, nahm ein Seil, das ihm hingeworfen wurde, und schwang sich an Bord wie ein Lotse. – Er führte nur einen kleinen Handkoffer mit sich, der ihm nachgereicht wurde. Er sah aus wie ein geborener Gentleman, nahm sein Billett zur ersten Kajüte und zahlte dafür in Gold. Mir war es aufgefallen, wie gut er an Bord kam, um so mehr, als ich bei seinem elenden Aussehen nicht so viel Entschlossenheit bei ihm vermutet hatte, und als das Schiff unterwegs war und ich am Abend auf dem Deck spazierenging, redete ich ihn an. – Er hatte sich von den anderen Reisenden abgesondert und saß hinten am Steuer, eine Pfeife rauchend. Er antwortete mir zunächst ziemlich einsilbig. – Ja, er käme von San Francisco; ja, er hätte den Dampfer um ein Haar verfehlt. – Ich sagte, ich hätte San Francisco erst vor kurzem kennen gelernt; es wäre eine hübsche Stadt. – ›Ja.‹ – Ich besäße dort nur einen einzigen Bekannten. – ›So?‹ – Ob er, Herr Allen, ihn vielleicht kenne? Sein Name sei John Maclean. – ›Ich kenne einen Mann des Namens: groß, stark, schwarze Haare, schwarze Augen, glatt rasiert, gute Zähne.‹ – ›Stimmt,‹ sagte ich. – Und dann erzählte ich, daß wir vor fünfzehn Monaten auf einer Reise von Liverpool nach Neuyork zusammen gewesen wären. Er schien sich für Sie zu interessieren. Er fragte, wie Sie ausgesehen, wie Sie sich auf der Fahrt gehalten hätten, und als ich darauf antwortete, Sie wären guter Dinge gewesen, da sagte er, das freue ihn. Als ich dann aber hinzufügte, wir hätten uns angefreundet, ich würde Sie bei meiner nächsten Reise in San Francisco aufsuchen, ob ich Grüße oder Bestellungen von ihm ausrichten sollte, da erwiderte er, nein, er danke, Sie würden ihn gar nicht kennen, er wisse nur zufälligerweise, wer John Maclean sei. – Aber er kam in unseren späteren Unterhaltungen immer wieder auf Sie zurück und wurde nicht müde, zuzuhören, wenn ich von Ihnen sprach. – Ich fragte ihn, ob er in Panama bleiben werde, dann könnten wir dort einmal einen vergnügten Abend zusammen verbringen. Er lehnte ab, indem er sagte, er beabsichtige, sich nur kurze Zeit auf dem Isthmus aufzuhalten und nach Costarica zu gehen. – Nachdem er das Boot verlassen hatte, sah ich nichts mehr von ihm. – Weshalb er sich Alexander Allen nannte und nicht unter seinem wahren Namen Georg Gilmore reiste, das müssen Sie besser wissen als ich; aber daß er Ihr Georg Gilmore war, darauf möchte ich schwören und sogar wetten. – Ihre Freunde in Blighton Bar hatten ganz recht: – Peter Schlemihl war der Name für ihn. Er ging einher wie einer, der etwas Unersetzliches verloren hat.«

Es war John Maclean unerklärlich, weshalb Gilmore sich wie ein geächteter Verbrecher vor ihm und der Welt verbarg. Der Ingenieur bemerkte darauf bedächtig, daß Lumpe, Lügner und Verräter genug in der Welt umherliefen, welche die Stirn hätten, wie Ehrenmänner aufzutreten, und daß es deshalb nicht gar zu sonderbar erscheinen dürfte, wenn es einem anständigen Menschen einmal gefiele, sich wie ein Verräter zu verstecken. Es gäbe eben unaufgeklärte Geheimnisse in der Natur, die ja bekanntlich von Zeit zu Zeit sehr sonderbar spielte. Herr Derrick war, als er diese sinnreiche Bemerkung von sich gab, soeben mit einem »allerletzten« Glase Grog fertig geworden und äußerte nun mit etwas schwerer Zunge den Wunsch, an Bord »gesehen zu werden«, da er zu der vorgerückten Stunde und in der unbekannten Stadt den Weg zum Hafen verfehlen könnte.

Maclean begleitete den Ingenieur darauf bis an sein Boot, das am Landungsplatze auf ihn wartete, und ging dann nach Hause, nachdenklich über das, was er im Laufe des Abends über Nikolaus Ohlsen erfahren hatte. – Es war das letzte, was er je von seinem alten Kameraden hörte. Er sagte sich, daß er nicht das Recht habe, ihn ferner zu verfolgen, der sich so ängstlich bemüht zeige, sich ihm zu entziehen. – Der Tod seines Bruders hatte ihn tief geschmerzt, aber er hatte den Schmerz überwunden; es wurde ihm schwer, auf seinen Freund verzichten zu sollen; aber er verzichtete auf ihn und lebte weiter und fand hie und da, anfänglich mit einem Gefühl von Reue, auch wieder Freude am Dasein. – Thomas Derrick, der ihn regelmäßig alle sechs Wochen besuchte und in ihm einen gelehrigen Schüler für die tiefe Lebensphilosophie fand, die er sich während seiner langen Überfahrten auf dem Stillen Ozean angeeeignet hatte, erklärte ihm, seine Reue habe keinen sittlichen Wert, es sei unphilosophisch sie zu kultivieren.

»Übrigens,« so schloß er eine lange Abhandlung, »müssen Sie bedenken, daß es für Ihren Bruder ein großer Schmerz gewesen wäre, wenn Sie vor ihm gestorben wären, und daß Sie ein Leid tragen, das einer von Ihnen beiden notwendigerweise tragen mußte. – Ich habe keine Geschwister und bin nicht verheiratet; ich habe nur noch meine Mutter auf der Welt. Wenn die stirbt, bin ich ganz allein. Aber ich hoffe, ihr die Augen zuzudrücken, und daß der alten Frau der Schmerz erspart bleibe, mich zu überleben.«

»Da haben Sie ganz recht,« sagte John Maclean, diesmal vollständig überzeugt.

Macleans Trübsinn schwand von diesem Zeitpunkt an ziemlich schnell. Er war einundvierzig Jahre alt, aber fühlte sich noch jung, und er nahm sich vor, noch einmal seine Netze auszuwerfen und zu versuchen, sein Glück zu fangen. – Seine Verbindung mit der Heimat war nicht unterbrochen worden. Er empfing ganz regelmäßig Nachrichten von seinen Schwestern, von Herrn Brent, dem gewissenhaften Vormund seines Neffen und seiner Nichte, und auch von Natalie. Diese Briefe, die sich gegenseitig ergänzten, erzählten mit zahlreichen Einzelheiten, was in der Familie in England vorging. Die beiden kleinen Kinder waren wohl; sie wuchsen und gediehen. Auch von Natalie trafen erfreuliche Nachrichten ein. Sie war bereits mehrere Male und auf längere Zeit zum Besuch bei den Schwestern in Schottland gewesen, die sich mit ihrer Schönheit und ihrem fremdartigen Wesen ausgesöhnt hatten und ihr das Zeugnis ausstellten, sie sei ein gutes, stilles, vernünftiges Mädchen. Sie war mit den Kindern nach Edinburg gekommen, um nicht allein mit ihnen in Lower Norwood zu bleiben, während ihre Mutter auf Reisen ging. – Über diese lauteten die Nachrichten traurig. – Nach Nataliens Berichten war sie immer leidend; namentlich quälte sie Schlaflosigkeit. Sie fand nirgends Ruhe. Sie hatte alle möglichen Kurorte und alle möglichen Arzneien versucht. Am besten hatte ihr noch eine Reise nach Kiew getan, der alten, heiligen russischen Stadt, wo sie nahe an drei Monate geblieben war. Heilung ihres peinigenden Leidens hatte sie jedoch auch dort nicht gefunden. Gesunden, natürlichen Schlaf kannte sie gar nicht mehr. Sie versank vor übergroßer Ermattung von Zeit zu Zeit in einen leichten Schlummer; aber nicht selten erwachte sie daraus mit einem Gefühl großer Beängstigung. Sie durfte deshalb auch niemals allein sein, und während der ganzen Nacht mußte jemand bei ihr wachen. Eine russische fromme Schwester verrichtete diesen schweren Dienst. Die Mutter hatte sie aus Kiew mitgebracht. Sie war eine ganz zuverlässige Person, die aber kein Wort Englisch verstand, so daß sie mit niemand im Hause als mit der Mutter verkehren konnte. – Fräulein Valerie Didier, deren sich Onkel John wohl noch erinnern werde, wäre gern bereit gewesen, Wärterdienste zu leisten; aber die Kranke habe dies nicht zugeben wollen. Überhaupt habe sie Fräulein Didier in letzter Zeit nicht mehr gesehen. Sie, Natalie, könne sich aber auch nicht nützlich machen. Die Mutter ziehe vor, von Fremden gepflegt zu werden, weil sie häufig nervöse Krisen habe, durch die sie ihre Kinder und Verwandten – denn auch Katharina habe sich ihr zur Verfügung gestellt – nicht erschrecken und unnütz aufregen wolle.

»Sie würden meine arme Mutter nicht wiedererkennen,« schrieb Natalie in ihrem letzten Briefe. »Sie ist abgemagert zum Skelett, und ihre schönen Haare sind ganz weiß geworden.«

Die nächste Post brachte einen Brief von Katharina aus Lower Norwood. Harrys Frau war gestorben, »versehen mit den heiligen Sakramenten der Kirche«, besagte die amtliche Todesanzeige.

Katharinas Brief setzte hinzu, sie sei durch ein Telegramm Nataliens nach Lower Norwood gerufen worden und habe dort ihre Schwägerin bereits sterbend gefunden.

»Sie war noch bei Bewußtsein, als ich mich ihrem Bette näherte. Ich hätte sie nicht erkannt, wenn ich nicht gewußt hätte, wer sie war. Ich habe viele sterben sehen, aber keinen, der sich vor seinem Tode so verändert hätte. Sobald sie mich erblickte, sagte sie mit matter Stimme: ›Liebe Katharina, Sie verzeihen, was ich gesündigt habe.‹ – Darauf antwortete ich: ›Liebe Schwester, ich weiß nicht, was ich dir zu verzeihen hätte. Aber woran du auch in diesem Augenblicke denken magst, ich verzeihe es dir von ganzem Herzen. Gott sei deiner armen Seele gnädig!‹ – ›Amen!‹ sagte sie inbrünstig, und das war ihr letztes Wort. Aber sie verschied erst am nächsten Morgen. Sie ist unserm Harry schnell gefolgt. Sie hing mehr an ihm als wir geglaubt hatten, und sie hat einen schweren Tod gehabt. Friede ihrer Asche!«

Bald darauf trafen auch Briefe von Natalie und Herrn Brent in San Francisco ein, aus denen hervorging, daß die verwaiste Familie nach Schottland übersiedeln werde. Herr Brent hatte sich in seiner Eigenschaft als Vormund darüber mit der ältesten Miß Maclean verständigt, die er als eine ganz hervorragende Person bezeichnete, von der mit Sicherheit anzunehmen sei, daß sie die Erziehung der beiden Kinder in der besten Weise leiten werde. Auch Fräulein Antoniades werde zweifelsohne in dem Hause ihrer Tante besser aufgehoben sein, als irgend wo anders. Er habe das junge Mädchen, das nun in kurzer Zeit selbständig sein werde, natürlich um ihre Ansicht gefragt, aber nicht nötig gehabt, sie zu beeinflussen; denn Fräulein Antoniades habe als selbstverständlich angenommen, daß sie zu ihren Tanten nach Edinburg ginge. Herr Brent fügte hinzu, Fräulein Natalie sei sehr schön geworden, jedoch sehe sie ihrer Mutter nicht ähnlich. Ihre Schönheit sei, sozusagen, milderer Art, sei nicht so auffallend und stolz, wie es die der verewigten Frau Harry Maclean zur Zeit ihrer Blüte gewesen sei. Auch mache Fräulein Antoniades durchaus den Eindruck einer sanften und gutmütigen Person, was man doch von ihrer Mutter nicht habe sagen können, wenn schon damit keineswegs etwas Unverbindliches gegen die Verstorbene ausgesprochen werden solle.

John Maclean hielt es für seine Pflicht, sich einen schwarzen Flor um den Hut zu binden; aber in seinen Herzen war keine Trauer. Dagegen dachte er viel an die überlebenden Kinder. Es war als Vormund seine Schuldigkeit, jetzt doppelt für die Kleinen zu sorgen, und er korrespondierte darüber lebhaft und regelmäßig mit Natalie und mit seiner Schwester Katharina. Seine Briefe an diese beschäftigten sich aber vorzugsweise mit Natalie, und Katharinas Antworten taten ein gleiches. Eines Tages schrieb sie ihm, seine Anfrage, ob Natalie noch an Herrn Ohlsen denke, beantworte sie entschieden mit nein; wenigstens denke Natalie nicht mehr an den jungen Mann in der Weise, die John allein meinen könne. Sie sei vor vier Jahren noch ein Kind gewesen, sie habe sich damals in Ohlsen verliebt und sein Verschwinden mit aufrichtigem und tiefem Schmerz empfunden. Aber solche Wunden seien jungen Herzen nicht tödlich; die meisten heilten gründlich davon, und dies sei zweifelsohne auch bei Natalie der Fall. Ohlsen habe sich vergessen machen wollen, und dies sei ihm gelungen. Nataliens Herz sei frei, und da John das junge Mädchen liebe, was sie, Katharina, ja längst erkannt habe, so könne sie ihm nur anraten, sein Glück zu versuchen und Mut zu haben; dann würde es ihm wohl auch glücken, die Braut heimzuführen.

Darauf stand in der nächsten in den Zeitungen veröffentlichen Passagierliste der »Goldenen Küste« auch der Name von »John Maclean, Esqre. von San Francisco via Panama nach England«.

Ein einsamer Mann, der eine kleine Hafenstadt in Zentralamerika bewohnte, las diese Anzeige und begab sich bald darauf nach Kalifornien; aber nicht mit dem Dampfschiff »Goldene Küste«, auch nicht nach San Francisco, sondern nach Sacramento. Er hinterlegte dort auf einer Bank unter dem Namen von Georg Gilmore eine Summe von zwanzigtausend Dollar und zog sodann in das Innere als »Prospektor«, d. h. als einer jener furchtlosen Abenteurer, die in neuen, noch nicht erforschten Gebieten nach Gold suchen. Von Zeit zu Zeit kehrte er nach Sacramento zurück, um Mundvorrat und Munition einzukaufen. Er schien keine Bekannte zu haben und auch keine Verbindungen zu suchen. Er verbrachte seine Zeit im Lesezimmer, wo er alte und neue Zeitungen durchblätterte. Bei einer solchen Gelegenheit fand er eines Tages unter der Überschrift »Heiraten« die kurze Notiz:

»John Maclean Esqre. aus San Francisco (Kalifornien) mit Natalie Antoniades aus Lower Norwood (England) im Hause der Misses Maclean in Edinburg (Schottland).«

Dabei stieg dem Leser das Blut in das Gesicht, und das Herz schlug ihm. Aber sein Blick wurde bald darauf freudiger. Er zeigte fortan ein weniger scheues Wesen und begann, sich an der »Bar« an der Unterhaltung der dort zahlreich versammelten Gäste zu beteiligen. Wenige Tage darauf verließ er Sacramento wieder, um eine neue Forschungsreise anzutreten. Es sollte die letzte sein, sagte er dem Wirt. Dieser möchte ihm einen kleinen Handkoffer aufheben, der einige Kleidungsstücke enthalte, die ihm augenblicklich unnütz seien; wenn er zurückgekehrt wäre, so wolle er sich in Sacramento niederlassen; er sei des Lebens in den Prairien und Bergen müde.

»Es ist ein einsames Leben und ein gefährliches Leben,« sagte der Wirt. »Es wird mich freuen, Sie wiederzusehen. Glückliche Reise, Herr Gilmore! Ihre Sachen nehme ich in guten Verwahrsam, bis Sie dieselben wieder abfordern.«

Aber diese Sachen wurden nicht wieder abgeholt, und nach Jahr und Tag nahm der Wirt an, der Besitzer derselben müsse wohl im Schnee verlorengegangen oder Indianern in die Hände gefallen und dabei ums Leben gekommen sein. Der Koffer wurde im Beisein eines Beamten geöffnet; er enthielt jedoch nichts, was über die Herkunft Georg Gilmores Auskunft gegeben hätte. – Sein Name stand darauf noch eine Zeitlang im Amtsblatt, in der »Liste der Vermißten«; nach der üblichen Frist wurde er wieder daraus entfernt, und damit verschwand sodann die letzte schwache Spur des Verlorenen und Vergessenen.

 

Helgoland, im September 1882.


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