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Während der nächsten Tage ging eine Veränderung in der Lebensweise Monjas vor, die nicht verfehlen konnte, Katharinas und Harrys Aufmerksamkeit und Mißtrauen zu erregen. – Frau Monja war stets Herrin ihrer Bewegungen gewesen. Es war ihr nie eingefallen, von ihren Gängen und Wegen Rechenschaft abzulegen, und niemand hatte das je von ihr gefordert. Sie war, wenn Harry des Abends nach Lower Norwood zurückkam, stets zu Hause, und wenn sie dann nicht aus freien Stücken erzählte, was sie während des Tages vorgenommen hatte, so erfuhr Maclean davon nichts, da er nie eine Frage darüber an sie richtete. – Er wußte jedoch, daß Frau Monja am Tage nur selten ausging. Sie hatte von ihrer slavischen Abkunft eine gewisse körperliche Trägheit bewahrt. Es war ihr eine Anstrengung, sich gerade zu halten, sie schritt langsam. Ein Stuhl mit einer steilen Lehne, auf dem sie nicht halb ausgestreckt ruhen konnte, war ihr ein Marterinstrument. Sie verbrachte einen großen Teil des Tages auf einer Chaiselongue: schlafend, träumend oder nachlässig mit einer nutzlosen, weiblichen Arbeit beschäftigt, und wenn schon sie in herrlicher Gesundheit prangte, so klagte sie doch fortwährend über Ermüdung. Die Antwort auf die Frage, die Maclean des Abends, wenn er nach Hause kam, mechanisch an sie richtete: »Wie geht es dir?« – überhörte er in den meisten Fällen; denn sie lautete ein für allemal: »Ich fühle mich etwas angegriffen.« – Glaubte er zu bemerken, daß sie in der Tat ermüdet aussehe, und fragte er dann höflich: »Was fehlt dir?« so antwortete sie: »O, es ist nichts . . . es wird vorübergehen. Beunruhige dich nicht.«
Er beunruhigte sich nicht. Er hätte sich nicht beunruhigt, und wenn sie auf dem Sterbebette gelegen hätte. Sie täuschte sich in Beziehung auf seine Gefühle für sie vollständig. Sie erkannte bei ihm, wie bei allen Menschen, mit schnellem Blick gewisse Eigenschaften und Fehler, die auf der Oberfläche lagen, besonders wenn solche Eigentümlichkeiten Ähnlichkeit mit ihren eigenen hatten; aber was darunter vorging, war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Sie hatte einmal in einem Roman gelesen, das Weib sei ein sehr »kompliziertes« Wesen. Das hatte ihr gefallen und galt fortan in ihrem Geiste für unbestreitbare Wahrheit. – Es war interessant, ein feines, ein »kompliziertes« Wesen zu sein, gegenüber den aus gröberem Material zusammengesetzten, verhältnismäßig einfachen und häufig recht einfältigen Männern. – Die Triebfedern, welche viele Frauen bewegen, hatte sie an sich selbst erkannt: Eitelkeit, Gefallsucht, Herrschsucht, Vergnügungssucht und eine gewisse, blendende Aufopferungsfähigkeit. Ihr Urteil über Frauen war, wenn auch nicht immer ein richtiges, so doch in vielen Fällen ein geistreiches, möglicherweise zutreffendes. Und so bildete sie sich ein, die Menschen zu kennen, das heißt Frauen und Männer. – Sie kannte nur ihresgleichen. Sie wähnte guten Glaubens, Harry liebe sie noch wie früher; seine Bekümmernis rühre nur daher, daß eine gewisse Verstimmung zwischen ihm und ihr eingetreten sei, und er würde dankbar ihre Hand ergreifen, wenn sie sie ihm darreichen wollte. Daß sie etwas in Harry Maclean getötet hatte, was nie wieder zum Leben erweckt werden konnte, das ahnte sie nicht. – Er würde ihre Hand wütend zurückgeschleudert haben, wenn sie sie ihm geboten hätte; er wollte keine Gemeinschaft mehr mit ihr, er erstrebte nur, neben ihr in Frieden zu leben; denn in seinem Herzen hatte sich ein unerschöpflicher Schatz von Bitterkeit angesammelt gegen das Weib, das er geliebt, und die sein Lebensglück zerstört hatte: absichtslos, rücksichtslos, gedankenlos, wie ein Kind ein Spielzeug zerbricht – und ohne den leisesten Anflug von Reue.
Katharina hatte sich seit der letzten Unterredung mit ihrem Bruder angelegen sein lassen, ihrer Schwägerin keinen Grund zu Klagen über sie zu geben. Sie beobachtete sie zwar mit nimmermüdem Mißtrauen, aber sie tat es fortan mit größerer Zurückhaltung, und Frau Monja war wieder freie Herrin ihrer Bewegungen. Katharina gesellte sich nur noch während der Stunden zu ihrer Schwägerin, die alle Einwohner des Hauses um den Familientisch oder im Wohnzimmer zu vereinen pflegten; während der übrigen Zeit ging sie allein oder mit Natalie und den jüngeren Kindern im Garten spazieren, oder sie saß auf ihrem Zimmer, wo sich niemand um sie kümmerte, und sie sich um niemand zu kümmern schien. Aber in Wahrheit saß sie dort wie auf einem Beobachtungsposten. – Und so bemerkte sie eines Tages, daß ihre Schwägerin um zwölf Uhr mittags ausging, zu einer außergewöhnlich frühen Stunde für Frau Monja, die ihren Morgenanzug selten vor drei Uhr nachmittags abzulegen pflegte. – Die Schwägerin trug an jenem Tage ein einfaches, dunkles Kleid und einen ebenso unscheinbaren, dunkeln Überwurf. – Katharina sah zufällig nach der Uhr. – Wenige Minuten, nachdem Monja gegangen war, erscholl von der naheliegenden Eisenbahnstation das Pfeifen eines abgehenden Zuges. Katharina suchte in dem kleinen Fahrplan für die Londoner Lokalzüge, den sie in ihrem Portemonnaie trug: – »12 10 Nm. direkter Zug nach London.«
Sie sprach am Abend noch nicht von diesem Ausflug ihrer Schwägerin, die um vier Uhr, eine Stunde vor Harry, nach Lower Norwood zurückgekehrt und seitdem bis zum Essen auf ihrem Zimmer geblieben war.
Zwei Tage darauf ging Monja wieder aus, genau zu derselben Stunde, genau in demselben Anzuge wie das erstemal; und bald darauf wurde der Ausflug von ihr unter denselben Umständen wiederholt. Katharina hegte fortan keinen Zweifel mehr darüber, daß Frau Monja sich außer dem Hause mit Ohlsen treffe, und äußerte nun diesen Verdacht ihrem Bruder gegenüber. Ihr Haß gegen ihre Schwägerin war ein erbitterter geworden. Die Frau, die ihren Bruder unglücklich gemacht hatte, sollte entlarvt werden. Harry würde darüber sehr unglücklich sein, aber nicht unglücklicher, als er es schon war, und er würde die Katastrophe überwinden, und Friede würde wieder in seine Brust ziehen. Alles war besser für ihn als diese schwere, schwüle, bange Ungewißheit, diese Furcht vor einem nahenden Ereignis, die ihm alle Kraft und Energie zu nehmen schien und ihn in kurzer Zeit um viele Jahre gealtert hatte.
Harry Maclean hörte dem Bericht seiner Schwester mit finsterer Miene zu. Nachdem sein Verdacht erregt worden war, hatte er bemerkt, daß Monja ihre gesellschaftlichen Beziehungen seit einiger Zeit gänzlich vernachlässigte, daß sie fast jeden Abend zu Hause zubrachte und außer Ohlsen eigentlich keinen Fremden mehr sah. Jetzt fiel ihm sofort ein, daß Ohlsen während des ganzen Nachmittags unsichtbar gewesen war. Maclean hatte seinem Gast, unmittelbar nach dessen Ankunft in London, ein kleines Zimmer auf der Bank zur Verfügung gestellt.
»Wenn Sie etwas in London zu tun haben oder einen Brief schreiben wollen – da ist ein Zimmer für Sie und ein Pult,« hatte er damals gesagt.
Ohlsen hatte das Anerbieten angenommen und während der ersten Wochen seines Aufenthaltes im Hause des Direktors diesen fast täglich nach der City begleitet. Er hatte London kennen lernen wollen, Einkäufe gemacht, und er war dann nicht selten erst am Abend mit Harry nach Lower Norwood zurückgefahren. Später waren seine Besuche auf der Bank seltener geworden. Er hatte in London gesehen, was ihn interessierte und seine Einkäufe beendet. Er zog den ruhigen, schattigen Park von Lower Norwood dem heißen, staubigen London vor. Nichts war erklärlicher. Harry hatte es ganz natürlich gefunden. Aber wenn Ohlsen nun auch seltener nach London kam, so war er doch niemals in der Stadt gewesen, ohne einen Besuch auf der Bank zu machen. Er hatte dort gewöhnlich Briefe geschrieben oder irgend etwas, eine Kleinigkeit, die er gekauft, niedergelegt, und in allen Fällen hatte er dann wenigstens eine Fahrt, die nach London oder die von London nach Lower Norwood, in Gesellschaft seines Wirtes gemacht.
An dem Tage, als Katharina Monjas Ausgehen beobachtet hatte, war Ohlsen frühzeitig, jedoch später als Harry, aus Lower Norwood verschwunden und um halb fünf Uhr, eine halbe Stunde vor der Rückkehr des Hausherrn, dort wieder aufgetaucht. Als dieser am nächsten Tage in das Bankgebäude trat, sagte er zu dem Pförtner:
»Wenn Herr Ohlsen kommen sollte, so zeigen Sie es mir an.«
Er wiederholte diese Weisung am nächsten Tage und sagte dem Portier, daß sie auch für die folgenden Tage gelte. Er fragte seitdem jeden Tag, wenn er die Bank verließ, ob Herr Ohlsen gekommen wäre, und erhielt jedesmal denselben Bescheid:
»Nein, Herr Direktor.«
Und doch war Ohlsen seitdem dreimal, und zwar an denselben Tagen wie Frau Monja, von morgens früh bis um halb sechs Uhr nachmittags, von Lower Norwood abwesend gewesen.
Eines Abends bei Tische erwähnte Frau Monja ganz beiläufig, sie sei in der Stadt gewesen, bei Valerie.
Harry Maclean erhob die Augen nicht von seinem Teller, als seine Frau diesen ungewohnten und unverlangten Bericht erstattete, aus Furcht, den Blicken seiner Schwester zu begegnen; denn der Name Valerie Didier war schon verschiedene Male in den Gesprächen zwischen ihm und seiner Schwester ausgesprochen worden, und zwar als der einer sicheren Verbündeten Monjas, und aus dem Grunde nicht unverdächtigen Person.
Valerie Didier, eine Französin, war mit Monja in demselben Pariser Pensionat erzogen worden. Ihre Eltern galten damals für reich. Valerie hatte sich auf der Schule durch die Kostspieligkeit ihrer Toiletten ausgezeichnet, und Monja hatte sich zu dem freundlichen, hübschen Mädchen hingezogen gefühlt, in dem sie in der Schule eine Bewunderin ihrer Schönheit und außerhalb des Pensionats eine Freundin fand, in deren Familie sie mit offenen Armen aufgenommen wurde. Dies hatte große und von Monja gewürdigte Annehmlichkeiten. Herr und Frau Didier »empfingen« nämlich jede Woche zwei-, wohl auch dreimal. Man traf dort schöne, elegante Frauen, heiratsfähige junge Mädchen von hervorragender Schönheit oder ansehnlicher Mitgift, und vornehme oder reiche, liebenswürdige Männer, und man »amüsierte« sich besser bei ihnen, als in den meisten anderen Pariser Salons. – Dort, bei den Didiers, hatte Monja auch ihren ersten Mann, den reichen, griechischen Bankier Antoniades kennen gelernt, und ihre Verlobung mit diesem war im Didierschen Hause gefeiert worden. – Bald darauf hatten Monja und Valerie sich getrennt. Jene war ihrem Manne nach London gefolgt, diese in Paris geblieben. Sie hatte gerade im Begriffe gestanden, sich mit einem vornehmen, jungen Franzosen zu verheiraten, als ihr Vater plötzlich gestorben und damit offenkundig geworden war, daß er sich gänzlich zugrunde gerichtet habe, und daß seine hübsche, verwaiste Tochter nicht einen Pfennig Mitgift bekommen werde. Der Herr Bräutigam, der auf mindestens dreimalhunderttausend Franken – »ohne die Hoffnungen« – gerechnet hatte, um seine eigene arg zerrüttete Stellung regeln zu können, hätte sich »zu seinem lebhaften Bedauern« genötigt gesehen, auf das Glück zu verzichten, Valerie heimzuführen. Seine Verhältnisse gestatteten ihm nicht den Luxus einer mitgiftlosen, anspruchsvollen Frau. Es fiel niemand ein, ihn deswegen zu tadeln; die Schuld an dem Unglück der armen Valerie traf den verstorbenen Papa Didier. – Jene lebte nun eine Zeitlang mit ihrer Mutter in Paris, wo die beiden Frauen ein kümmerliches, einsames Dasein führten, das bittere, harte, trockene Brot der Vernachlässigung aßen und bei der Gelegenheit einen großen Vorrat von Galle in sich aufspeicherten. – Frau Didier starb daran; »gebrochenen Herzens«, sagten ihre ehemaligen Freunde.
Die doppelt verwaiste Valerie sah sich mit hungrigen Augen in der Welt um, und ihr Blick fiel zufälligerweise auf ihre Jugendfreundin Monja, von der sie seit Jahr und Tag getrennt gelebt, und die sie gänzlich vergessen hatte. Sie las nämlich eines Tages unter den »Echos« des »Figaro«, daß Frau Monja Antoniades, von deren unübertrefflicher Schönheit die Pariser Kenner dankbare Erinnerung bewahrt haben würden, sich nach dem Tode ihres ersten Gatten mit dem reichen Bankier, Herrn Harry Maclean, Direktor einer großen englischen Bank und vielfachem Millionär, vermählt habe. – Alle wohlhabenden Engländer galten im »Figaro« für vielfache Millionäre; aber auch ein ganz einfacher würde Valerie veranlaßt haben, sich ihrer geliebten Freundin wieder zu erinnern. Sie schrieb ihr einen rührenden Brief, der auf Monjas Herz einen gewissen Eindruck machte. Diese lebte damals in den Flitterwochen ihrer zweiten Ehe, fühlte sich sehr glücklich und war nicht abgeneigt, zum Glück anderer etwas beizutragen. Sie ließ Valerie nach London kommen, in der Hoffnung, daß es ihr gelingen werde, das hübsche Mädchen dort zu verheiraten; aber eine Enttäuschung wartete ihrer bei dieser Begegnung. Die Jahre des Kummers, der Not und der Erbitterung hatten doppelt und dreifach für die arme Valerie gezählt. Sie sah aus wie eine Person von vierzig Jahren und präsentierte sich mit den eckigen, harten, ungefälligen Manieren einer nach keiner Richtung hin begehrenswerten alten Jungfer. Nur eines war hübsch an ihr – und diese hübsche Eigenschaft rettete sie: ihre vollständige Ergebenheit, Liebe und Treue für Monja, die sie, Valerie, nie vergessen hatte, und von der sie bis zum Tode nun hoffentlich nichts mehr trennen werde. – Die Ertrinkende griff nach einem Strohhalm, und der Strohhalm hielt sie über Wasser. Frau Monja war für so viel Liebe und Treue nicht unempfänglich und unterzog sich der schweren Mühe, Valerie zu retten. Sie verzichtete darauf, ihre Jugendfreundin unter die Haube zu bringen; aber sie verschaffte ihr unermüdlich Stellen als Erzieherin, französische Lehrerin, Dame de compagnie, und betrieb die Sorge um die arme Valerie als einen Sport, der sie um so angenehmer zerstreute, als er der einzige dieser Art war, dem sie sich hingab.
Valerie hielt es nirgends lange aus. Sie hatte das Unglück, überall die unartigsten Kinder, die unliebenswürdigsten, anspruchsvollsten, rücksichtslosesten Herrschaften zu finden, und hie und da mußte sie sogar, trotz ihrer spitzen Nase und glanzlosen Augen, gegen die Eifersucht irgendeiner jungen, geschmacklosen Engländerin kämpfen. Doch gingen einige Jahre darüber hin, bis Valerie, die ihre Toilette selbst in Ordnung hielt und bei der Gelegenheit einen gewissen Grad von gutem Geschmack entwickelt hatte, auf die glänzende Idee kam, sich als » Couturière française« in Regent Street niederzulassen. Der Bankdirektor schoß die dazu nötigen, nicht unbedeutenden Geldsummen auf Bitten seiner Frau vor, und »Madame Monja Maclean« wurde als erste Klientin in die Bücher des Hauses »Mademoiselle Didier de Paris« eingetragen. – Damit hatte die Sorge um die Jugendfreundin vorläufig ein Ende. Die Verbindung mit ihr dauerte aber ungetrübt fort. Die Ergebenheit der Beschützten für ihre Wohltäterin kannte keine Grenzen. Monja konnte auf ihre Valerie wie auf sich selbst bauen. Es war eine rührende Freundschaft, und es war unerklärlich, daß diese Verbindung zweier Seelen Herrn Maclean so wenig Sympathie einflößte. – Als dieser an dem Abend, an dem Frau Monja ihren Besuch bei Valerie erwähnt hatte, mit seiner Schwester allein war, lächelte er bitter und sagte:
»Wie albern Frauen sein können, wenn sie es gerade recht schlau zu machen glauben!«
Bitterste Eifersucht nagte an seinem Herzen. Nicht Eifersucht der Liebe – nein, ein namenlos peinigendes Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer ihm zugefügten Schmach!
Eines Tages gegen zwölf Uhr konnte er sich nicht mehr bemeistern vor fieberhafter Ungeduld. Er wollte Gewißheit haben. Er stürzte aus der Bank und eilte nach London-Bridge, dem Bahnhof, wo der Zug aus Lower Norwood mündete. Er wartete, hinter den Fenstern der Restauration versteckt, die Ankunft des 12 10-Zuges aus Lower Norwood ab. Keiner der Ankommenden entging seinem spähenden Blick: Monja befand sich nicht darunter. Fast enttäuscht kehrte er nach der Bank zurück. Am Abend berichtete Katharina, ihre Schwägerin sei nicht ausgegangen.
Am folgenden Tage konnte Maclean es schon von elf Uhr ab nicht mehr auf der Bank aushalten. Er stellte sich wiederum auf seinen gestrigen Beobachtungsposten, und unter den letzten, die den Bahnhof verließen, erkannte er seine Frau. – Er folgte ihr in vorsichtiger Entfernung. Sie schritt langsam, erhobenen Hauptes, wie die Hohepriesterin zum Altar – und die liebe Sonne beschien freundlich ihr schönes, stolzes Angesicht! – Er sah sie in ein »Cab« steigen, nachdem sie dem Kutscher, der die Adresse, die sie ihm nannte, nicht zu kennen schien, kurzen Bescheid gegeben hatte.
Harrys scharfes Auge erkannte mit Sicherheit die Nummer des davoneilenden Wagens. Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen. Er strich mechanisch mit der Hand darüber, um den Schmerz, den er empfand, zu besänftigen.
Jetzt war sie in seiner Gewalt! – Er hatte in seiner Stellung als Bankdirektor oftmals mit der Polizei zu tun gehabt; es wäre ihm ein Leichtes gewesen, innerhalb weniger Stunden zu erfahren, wohin die Droschke gefahren, vor welchem Hause die Dame ausgestiegen war. – Sie hatte möglicherweise eine Finte gebraucht, zwei Wagen genommen oder einen Teil des Weges zu Fuß zurückgelegt; – aber wie leicht würde die Polizei dies einfältige Gewebe durchdrungen haben! – Maclean hätte nur einem ihm bekannten, ganz vertrauenswürdigen Polizeibeamten gegenüber den Wunsch auszusprechen brauchen, daß seine Frau und Nikolaus Ohlsen während einiger Tage beobachtet würden, um sich mittels weniger Pfunde und ohne Befürchtung irgendeiner Indiskretion den genauesten Bericht über die Art und Weise zu verschaffen, wie die beiden ihre Zeit verbrachten, ob und unter welchen Verhältnissen sie sich trafen.
Sollte er diese Erkundigungen einziehen? – Hatte er nicht ein Recht dazu? – War es nicht seine Pflicht, sich selbst, seinen Kindern gegenüber? – War es schändlich, die Schande zu entlarven? – War es nicht im Gegenteil feige, vor einer solchen Handlung zurückzuschrecken? – Er hätte sich zu dem Zweck einem Fremden anvertrauen müssen; aber das hielt ihn nicht zurück. In dieser Beziehung konnte er jedes Gefühl der Beschämung leicht unterdrücken. Derjenige, an den er dachte, um ihm bei dieser Gelegenheit behilflich zu sein, war nicht ein Mann, den Mißtrauen in Erstaunen setzen konnte. Argwohn war ihm zur zweiten Natur geworden. Er wurde das Gesuch des Direktors angehört und »notiert« haben, wie der Kaufmann, dem ein alltägliches Geschäft vorgeschlagen wird.
Harry Maclean ging langsam, gesenkten Hauptes auf den wohlbekannten Wegen, die zur Bank führten, mechanisch vorwärts, unbekümmert um das Treiben der großen Stadt, das um ihn tobte und wogte. – Er wurde von einem hastig Vorüberschreitenden heftig angestoßen, so daß er vom Fußsteig auf den Fahrweg stolperte. – Er bemerkte es nicht und schritt dort weiter. Die Gedanken schwirrten durch seinen armen Kopf. – Er zog ein Tuch aus der Tasche, um sich den Schweiß abzutrocknen, der in dicken Tropfen auf seiner Stirn perlte. Es überlief ihn dabei ein Schauder. Das Tuch trug ein eigentümliches, durchdringendes Parfüm, dessen sich seine Frau seit Jahren mit Vorliebe bediente. Er mußte aus Versehen eines ihrer Tücher genommen haben. Er warf es mit einer Bewegung des Ekels von sich, als sei es vergiftet gewesen.
Er schritt weiter. – Er ging über einen Platz, wo sich mehrere belebte Straßen kreuzten. Ein Konstabler legte die Hand an seinen Ellbogen und hielt ihn fest:
»Warten Sie einen Augenblick!«
Dann geleitete ihn der Mann auf die andere Seite der Straße, wie er es mit hilflosen Frauen oder Greisen zu tun pflegte und entfernte sich, ohne ein Wort des Dankes abgewartet zu haben.
Harry Maclean schritt weiter. Er sah nach der Uhr. – Ein Uhr! Jetzt war sie bei ihm . . . Seine wandernden Gedanken langten plötzlich bei einem französischen Ehebruchsroman an, den er vor einiger Zeit gelesen und seitdem vergessen hatte. – Das schuldige Paar wurde in jener Erzählung von dem betrogenen Gatten in einer fremden Wohnung überrascht, in der es sich ein Stelldichein gegeben hatte. Der getäuschte Ehemann erstach den Liebhaber. Der Gerichtshof sprach den Mörder frei. Die Moral triumphierte. – Dann fielen dem Unglücklichen zwei, drei andere Geschichten derselben Art ein, teils der Wirklichkeit entnommen, nämlich Zeitungsberichten, teils Büchern, die er vor Jahren gelesen haben mochte, und auf deren Titel und Verfasser er sich nicht einmal mehr besinnen konnte. – Es war immer dieselbe Geschichte: die schuldigen Paare waren unvorsichtig gewesen und ertappt worden. Und sie waren immer in dieselbe Grube gefallen: Rendezvous außer dem Hause, Briefe, die sie durch bestochene Dienstboten oder die gefällige Vermittlung kupplerischer Freunde und Freundinnen auf ganz sicherem Wege zu befördern meinten, und die schließlich doch an die falsche Adresse gelangt waren. – Die Leute schienen alle angenommen zu haben, daß das, was sie taten, außerordentlich verschmitzt sei, daß sie eine Entdeckung gar nicht zu befürchten hätten. – Als ob Verrat an Freund und Mann nicht so alt wäre, wie die Sünde und nicht immer wieder auf denselben, millionenmale betretenen, sumpfigen Pfaden wandle! – Ging nicht Monja, die sich beargwohnt wußte, überwacht wähnen durfte, auch auf demselben Wege einher: langsam, sicher, stolz erhobenen Hauptes? . . .
». . . in den Tod! – In ihr Verderben,« sagte er finster vor sich hin.
»Aufgepaßt! . . . Aus dem Wege! . . . Um Gottes willen! . . . Halt! Halt!«
Er hörte von allen Seiten schreien und rufen und stand wie eingeschüchtert still, scheu um sich blickend.
Wie beim Aufleuchten eines Blitzes sah er, was um ihn vorging: ein wüstes, bewegtes, großes Bild von tausend Formen, Gestalten, Gesichtern – Menschen, Pferde, Wagen, eine graue Häuserreihe, ein feuchtes Pflaster . . . von allen Seiten eine wild gestikulierende, schreiende Menge – aber er selbst ganz allein, auf einem engen, freien Raum – einen kleinen Hund, der, die Ohren zurückgelegt, mit ängstlichem, gellendem Geheul an ihm vorbeiflog, einen Mann, der mit gehobenen Händen auf ihn zustürzte, als wollte er ihn fortreißen, aber noch ehe er ihn erreicht hatte, mit entsetztem Gesicht stehen blieb . . . und in demselben Augenblick fühlte er sich von hinten mit furchtbarer Gewalt gestoßen und zu Boden geworfen. Etwas Schweres schlug ihm auf die Schulter, auf den Rücken. Eine Sekunde noch hatte er das Bewußtsein seiner Lage, wußte, daß er überfahren worden sei – dann verlor er die Besinnung.