Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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IX

Nachdem John Maclean acht Tage bei seinen Schwestern in Edinburg zugebracht hatte, sagte er sich, er habe nun wohl seinen verwandtschaftlichen Pflichten genügt und sei berechtigt, nach Lower Norwood zurückzukehren. Der Aufenthalt in Schottland hatte für ihn keine besondere Anziehung mehr. Die »Mädchen« hatten ihn mit großer Ruhe empfangen, als sei er statt achtzehn Jahre, vierzehn Tage von ihnen getrennt gewesen; man hatte ihm »Vaters Bett« gegeben, ihm bei Tische »Vaters Platz« angewiesen und betrachtete seine Anwesenheit im elterlichen Hause als etwas Selbstverständliches, um das es sich nicht der Mühe verlohnte, ein Wort zu verlieren. – Katharina, die älteste, fünfzigjährige Schwester, die den Hausstand leitete, erkundigte sich mit einer gewissen Teilnahme nach seinen Lieblingsgerichten, die sie ihm eigenhändig und mit großer Kunstfertigkeit zubereitete; auch braute sie seinen Grog, wenn er am Abend mit den Schwestern um den reinlich und sorgfältig gedeckten Teetisch saß. Darauf beschränkten sich ihre Liebesbezeugungen. – Aber wenn er im besten Zimmer des Hauses seine kurze mit starkem Tabak gefüllte Pfeife rauchte, was die Misses Maclean ganz in Ordnung fanden – »Vater hatte auch geraucht« – und sich dabei sinnend, in Macleanscher Weise, Mund und Kinn strich, so ruhten Katharinas Augen unverwandt auf ihm, und es war in denselben ein Ausdruck großer Liebe. Eines Tages, als er länger als gewöhnlich brütend dagesessen hatte, erhob sie sich leise von ihrem Stuhl, trat zu ihm hin und legte ihm von hinten beide Hände auf die Schultern. Er wandte sich verwundert nach ihr um. Ihre Augen begegneten sich, die großen, ernsten Augen, die alle Macleans als Geschwister kenntlich machten. Sie blickte ihn lange an, und dann sagte sie ruhig:

»Es freut mich, dich hier bei uns zu haben.«

»Natürlich,« antwortete John verlegen; denn es war dies der einzige und erste Ausdruck von Zärtlichkeit, der ihm seit seiner Ankunft zuteil geworden war.

Er fühlte sich bei seinen Schwestern ganz zu Hause. Er ging dort in Hemdsärmeln einher, aß und trank nach fernen Gewohnheiten, empfand nichts von der Befangenheit, von der er sich unter den Augen seiner Schwägerin niemals freimachen konnte – und doch sehnte er sich nach Lower Norwood zurück: nach Harry, nach Nick – und nach Natalie. – Diese ging ihn eigentlich gar nichts an. Sie war bestimmt, über kurz oder lang, eines andern, eines besseren Mannes Weib zu werden, vermutlich seines besten Freundes, Nicks. – Natürlich! – Aber er sehnte sich dennoch, sie wiederzusehen, ihre Stimme zu hören, ihre Hand auf seinem Arm zu fühlen. – Er wagte nicht, sich das zu sagen, er suchte sich selbst über die Beweggründe, die ihn nach London zogen, zu täuschen. Harrys und Nicks rätselhaftes Benehmen beunruhigten ihn. Er mußte versuchen, sich darüber Aufklärung zu verschaffen. Dann waren die Vorbereitungen zur Reise nach Kalifornien. Er stand noch immer unter dem an Ohlsen gegebenen Versprechen, sie mit ihm anzutreten. Nikolaus hatte ihm sein Wort nicht zurückgegeben, er selbst es nicht zurückgenommen. Er hatte seinen Schwestern gesagt, er werde wohl noch einmal nach Kalifornien zurückkehren, um gewisse Geschäfte in Ordnung zu bringen, und diese hatten die Mitteilung mit philosophischem Gleichmut aufgenommen. Geschäft geht vor Vergnügen! – Aber im Grunde seines Herzens glaubte John nicht an die Abreise von England. Davon sprach er jedoch mit niemand. Er wagte es nicht einmal, es sich selbst zu bekennen.

Harry hatte seinen Bruder seit dessen Ankunft in Schottland nur einmal geschrieben. Nach Verlauf einer Woche brachte die Post einen zweiten Brief von ihm. Er enthielt eine überraschende Mitteilung: Harry forderte seine Schwester Katharina auf, ihn in Lower Norwood zu besuchen und sich so einzurichten, daß sie längere Zeit bei ihm bleiben könne; er bedürfe ihrer.

»Dann muß ich wohl gehen,« sagte Katharina. – »Wann gedenkst du zu reisen?« fragte sie darauf ihren Bruder John.

»Wann kannst du fertig sein?«

»Meine Sachen sind in Ordnung; ich kann heute reisen.«

»Dann wollen wir morgen gehen. – Was mag Harry von dir wollen?«

Katharina konnte darüber keine Auskunft geben und schien auch nicht neugierig, zu erfahren, was Harry von ihr verlangte. Er hatte geschrieben, er bedürfe ihrer – das genügte!

John war wenig auf Äußerlichkeiten bedacht; aber als er im Geiste Frau Monja und Natalie mit Katharina verglich, da kam ihm der Gedanke, daß diese, ehe sie nach Lower Norwood ginge, noch etwas für ihre »Toilette« zu tun habe.

»Welche Kleider nimmst du mit?« fragte er.

Katharina blickte ihn erstaunt an und antwortete sodann, sie habe alles, was sie gebrauche; und um dies zu beweisen, zählte sie ihren Reichtum auf.

John hörte aufmerksam zu und verlangte, die Schätze persönlich in Augenschein zu nehmen. Das Reisekleid, welches Katharina darauf kopfschüttelnd vor ihm ausbreitete, fand seinen Beifall.

»Ein ruhiges Kleid; es geht,« sagte er billigend.

»Glaubst du etwa, daß ich im Aufzuge einer französischen Komödiantin reisen werde?« fragte Katharina spitz. – »Du kannst dich auf mich verlassen; ich werde dir weder unterwegs noch in London Schande mit meinem Anzug machen.«

Miß Katharina gehörte nicht zu den Eitlen ihres Geschlechts; daß sie aber einen sicheren, guten Geschmack habe und sich besser und billiger anziehe als die meisten Frauen, war auch für sie ein unumstößlicher Glaubensartikel. John ließ sich jedoch durch seine Schwester nicht einschüchtern. Er war ein solider Geschäftsmann, der eine angefangene Sache zu Ende zu führen liebte. – Die Hauskleider mußten ebenfalls »Revue passieren«. – Und dann kam die Abendtoilette: ein schwerseidenes, braunes Kleid, das, vor zwanzig Jahren gemacht, bei unzähligen Kindtaufen und Hochzeiten des Macleanschen Clans getragen worden war und noch so gut wie neu aussah. – Die andern Schwestern hatten ähnliche Kleider, die alle ebenso kostspielig, altmodisch und gut erhalten waren. – Katharina warf einen Blick auf ihren Bruder, der ungefähr sagte: »Hiergegen werden die vornehmen Verwandten in London schwerlich etwas einzuwenden haben; es ist ein Kleid, das eine Königin zieren würde.« – Aber John war auch dadurch nicht zu beeinflussen. Er prüfte das Kleidungsstück mit der Miene eines Kenners. Er hatte in San Francisco, wo die eitlen Frauen ihre Kleider von den ersten Pariser Schneidern beziehen, viel elegante Toiletten bewundert, und er hatte ein gutes Gedächtnis für alles, was seine Augen einmal gesehen. Er erinnerte sich jetzt der hellen und dunkeln geschmackvollen Anzüge, die Frau Monja und Tascha während ihres kurzen Aufenthaltes in Lower Norwood zur Schau getragen hatten und sagte kurz und bündig:

»Das geht nicht. Setz' dir einen Hut auf und führe mich in das beste Konfektionsgeschäft von Edinburg. Dort wollen wir aussuchen, was du gebrauchst.«

Katharina und ihre Schwestern waren sprachlos. Sie empfanden die Verachtung des verehrten seidenen Kleides wie eine persönliche Beleidigung; aber John und Harry, denen sie alles, was sie im Leben besaßen, auch die braunseidenen Kleider, verdankten – ohne ihnen dafür dankbar zu sein –, hatten Rechte über sie, die sie unter keinen Umständen verkennen durften.

»Du mußt das besser wissen,« sagte Katharina trocken, und damit verließ sie das Zimmer, um nach wenigen Minuten in Hut und Mantel, zum Ausgehen fertig, wieder zu erscheinen.

Der Besuch bei Lockhart & Cie, dem vornehmsten Konfektionsgeschäft von Edinburg, blieb eines der größten Ereignisse in Katharinas Leben. John kaufte dort vier Kleider, »eines lächerlich teurer als das andere«, wie Katharina ihren staunenden und ein wenig eifersüchtigen Schwestern am Abend berichtete, und da er einmal beim Kaufen war, so erstand er auch einen komfortabeln Reiseanzug, »wie für die Herzogin von Argyll«, Handschuhe »dutzendweise«, Schuhe, »wenn ich ihn gelassen hätte, mit hohen Hacken, wie für eine Tänzerin«, und schließlich einen Koffer »wie einen Sarg« . . . Er hatte dafür die Genugtuung, mit einer streng und vornehm aussehenden Dame zur Seite in Lower Norwood anzukommen. Die Summe Geldes, mit der er dies erkauft hatte, und über deren Höhe die Schwestern gewissermaßen entrüstet gewesen waren, kümmerte ihn nicht. Katharina sollte auch im Äußeren als Ebenbürtige in das Haus ihres Bruders eintreten und sich neben ihrer Schwägerin und Natalie zu Tisch setzen.

Katharina hatte eine auffallende Familienähnlichkeit mit ihren Brüdern. Sie war als Frau verhältnismäßig so groß wie diese als Männer, von gesunder Hagerkeit. Sie hielt sich wie ein Grenadier, und ihre Bewegungen waren langsam und bestimmt. So war auch ihre Sprache. Sie hatte gewisse unbestreitbare Schönheiten: pechschwarzes, dichtes, schlichtes Haar, das in einfachster Weise gescheitelt und glatt gekämmt, ihre große Stirn einrahmte, Zähne, die so regelmäßig und weiß waren, daß mancher versucht sein mochte, sie für falsch zu halten, und schöne, dunkle, große Augen, die zwar gewöhnlich sehr ernst blickten und geeignet waren, einen Dämpfer auf die Heiterkeit ihrer Umgebung zu setzen, aber von treuer Ergebenheit erwärmt wurden, wenn sie sich auf Harry oder John hefteten. – Trotz aller dieser unzweifelhaften, einzelnen Schönheiten war jedoch Katharina keinesfalls eine angenehme Erscheinung. Ihr ganzes Auftreten hatte etwas Hartes und Eckiges. Eine liebenswürdige Person, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, war sie nicht; aber jedermann würde sie für wahr und zuverlässig gehalten haben. – Sie trat ihrer Schwägerin, die sie seit der Hochzeitsreise nach Schottland nicht wiedergesehen hatte, freundlich, aber mit der ihr eigenen kalten Zurückhaltung entgegen; ihren Bruder Harry umarmte sie, und dann drückte sie Natalie und Nikolaus, die ihr von Harry vorgestellt worden waren, die Hände. – Nikolaus war sie mit einem günstigen Vorurteil entgegengekommen. Sie kannte seine langjährigen Beziehungen zu John; alles, was ihr Bruder über ihn erzählt hatte, war geeignet, ihn ihr sympathisch zu machen. Aber sie hatte etwas ganz anderes erwartet, als was sie nun in Ohlsen vor sich sah. Der hohläugige, bleiche Mensch, mit dem traurigen, unsicheren Wesen war nicht ein Mann nach ihrem Herzen. Sie wandte sich teilnahmlos von ihm ab.

In dem Hausstande Harry Macleans hatte sich seit jenem letzten Abend, den John dort zugebracht, nichts geändert. Es herrschte dort noch immer eine schwüle, schwere Stimmung. Frau Monja allein erschien unbefangen. Aber der Hausherr ging stumm und ernst einher, und Nikolaus erschien seinem Freunde John wo möglich noch trauriger als vor der Reise nach Schottland. – Katharina beobachtete dies alles: ihren langsam umherschweifenden Augen entging nichts, was in ihrer Umgebung vorfiel. Ohlsens Traurigkeit war ihr vollständig gleichgültig; aber die Niedergeschlagenheit ihres Bruders bekümmerte sie. So hatte sie ihn früher nicht gekannt, und auch nach der Erzählung von John hatte sie sich nicht vorgestellt, ihn so verändert zu finden. Sie ergriff eine Gelegenheit, um John bei seite zu nehmen.

»Was fehlt Harry?« fragte sie. »Er ist, seitdem ich ihn zum letzten Male im vergangenen Jahre gesehen habe, ein alter Mann geworden.«

»Es verdrießt ihn, daß ich nach Kalifornien zurückkehre,« antwortete John mürrisch.

»Mußt du denn wieder fort?«

»Ich habe es Ohlsen versprochen.«

»Ohlsen ist nicht dein Bruder.«

»Ich habe es ihm versprochen.«

»Zuerst solltest du an Harry denken. Na, vielleicht änderst du noch deinen Plan.«

»Ja . . . vielleicht . . . Aber mir selbst ist es unerklärlich, daß meine Abreise ihn so verstimmt. Ich beabsichtige ja nicht für immer zu gehen. In wenigen Monaten kann ich wieder hier sein . . . Hat dir Harry schon gesagt, weshalb er dich hierher gerufen hat, wozu er deiner bedarf?«

»Nein. Er sagte mir nur, er werde heute abend auf mein Zimmer kommen, um ungestört mit mir sprechen zu können.«

Darauf winkte John seinem Bruder und trat mit ihm auf die Veranda.

»Was gibt es neues?« fragte er. »Weshalb hast du Katharina gerufen?«

»Sie kann es dir morgen erzählen,« antwortete Harry. »Es ist mir lieber, daß sie es tut, als daß ich davon spreche.«

»Handelt es sich um etwas Wichtiges?«

»Ich fürchte: ja.«

»Und du willst es mir nicht anvertrauen?«

»Ich vertraue dir alles an; aber das, um was es sich handelt, sage ich lieber zuerst Katharina als dir. Sie wird mit dir sprechen . . . und dann kannst du mit mir die Sache beraten; das heißt, wenn du es für nötig erachtest, und wenn du es willst.«


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