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Katharina und John hatten richtiger gesehen, als die Ärzte und Monja. Harry war schwächer und schwächer geworden. Seit einigen Tagen war dies allen aufgefallen, die ihn sahen, und die Doktoren machten bedenkliche Gesichter und zuckten die Achseln, wenn sie über den Zustand des Kranken befragt wurden. – »So lange noch Leben ist, ist noch Hoffnung,« sagte Dr. Morris. Das tröstliche Wort war nicht trostreich.
Eines Abends, zu später Stunde, nachdem der Kranke lange Zeit mit weitgeöffneten Augen schweigend dagelegen hatte, sagte er mit schwacher Stimme zu Katharina, die starr und still neben seinem Bette wachte:
»Liebe Schwester, rufe Monja. Und dann lasse mich mit ihr allein.«
Katharina erhob sich und ging. Bald darauf öffnete sich die Tür wieder, und Frau Monja trat herein. Sie war in weißem Nachtgewand. Ihre Lippen erschienen farblos bei dem fahlen Lichte der Lampe, die im Zimmer brannte; aber die großen Augen strahlten in dem stillen, weißen Gesichte in wunderbarer, tiefer Glut. Sie trug um den feinen Hals, an einem schwarzen Samtband, das mit schweren goldenen Stickereien seltsam verziert war, ein altes russisches Kruzifix aus Ebenholz, mit der Gestalt des Gekreuzigten aus gebräuntem Silber. Es war seit ihrer frühen Kindheit ihre Gewohnheit, diese ehrwürdige Reliquie, die ihr von einer längst verstorbenen Urahne kam, des Abends anzulegen, unmittelbar ehe sie sich zur Ruhe begab. Sie versäumte dies niemals, und es war nicht eine gleichgültige Gewohnheit, sondern die einzige feierliche Handlung ihres leichtfertigen täglichen Lebens, eine religiöse Handlung, die sie kniend am Fuße ihres Bettes verrichtete, und mit der sie lange Gebete und gewisse fromme Gebräuche der griechischen Kirche verband. Sie verfuhr dabei mit peinlicher Gewissenhaftigkeit, denn sie war eine strenggläubige orthodoxe Christin, ohne ein Atom von Skepsis, und für die alles, was die Religion von der Vergeltung im Jenseits lehrt, unangezweifelte Wahrheit war.
In dem Krankenzimmer herrschte Totenstille. Auf einem kleinen Tisch, neben dem Bett, standen in sauberer Ordnung Arzneiflaschen und erfrischende Getränke. Der Kranke saß halb aufgerichtet auf seinem Schmerzenslager. Sein bleiches, abgehagertes Haupt von dunkeln Haaren umrahmt, ruhte unbeweglich auf dem schneeweißen Kopfkissen, die tief eingesunkenen, müden Augen waren sanft geschlossen. – Monja näherte sich dem Kranken unhörbaren, leichten Schrittes. Er aber fühlte ihre Nähe und öffnete die Augen, sobald sie neben ihm stand. Er blickte sie lange, wehmutsvoll an, mit einem Ausdruck inniger Liebe, der seit Jahren in seinen Augen erloschen war, und sagte dann leise:
»Ich werde bald sterben, Monja; aber vor meinem Tode muß ich mich mit dir versöhnen: dir verzeihen, wenn du gesündigt hast, deine Verzeihung erbitten, wenn ich dir unrecht getan habe. – Kannst du bei dem heiligen Kreuze, das an deinem Halse hängt, schwören, daß du mir treu gewesen bist, wie es die Frau dem Manne sein soll, dann schwöre und reiche mir die Hand und verzeihe mir, denn dann habe ich in meinem Herzen schweres Unrecht an dir getan. – Kannst du den Schwur nicht leisten – dann schweige. Ich aber will dir verzeihen, wie ich hoffe, daß der Herr, vor dessen Richterstuhle ich nun bald erscheinen werde, mir barmherzig verzeihen möge. – Nun sprich Monja – oder schweig'!«
»Wirst du mir glauben?« fragte sie bebend.
»Ich werde dir glauben.« Er kämpfte eine Sekunde, und dann setzte er feierlich hinzu: »So wahr mir Gott helfe!«
Die Zähne schlugen ihr wie im Fieberfrost im Munde zusammen, ihre Lippen bebten und zitterten. Langsam, zögernd, zitternd hob sie die Rechte und legte sie auf das Kreuz an ihrer Brust. Noch einen Augenblick schien sie zu kämpfen, und dann sagte sie mit erstickter Stimme:
»Ich war dir treu!«
Er hatte jede ihrer Bewegungen ängstlich, aufmerksam verfolgt.
»Ich verstehe dich nicht,« sagte er mit einem schwachen Anflug von Ungeduld. »Sprachst du? Was sagtest du?«
»Ich schwöre . . . bei dem Bilde des Gekreuzigten . . . ich war dir treu.«
Die Worte entrangen sich unendlich mühsam, aber klar und verständlich ihrer Brust.
»Dann verzeihe mir, Monja,« sagte er milde.
Er streckte die kraftlose, abgemagerte Hand nach ihr aus, die sie mit ihren beiden Händen stürmisch ergriff und mit Küssen bedeckte und mit heißen Tränen benetzte:
»O Harry, geliebter Mann, stirb nicht, daß ich dir noch zeigen möge, wie ich lieben kann, wie ich dich liebe!«
Er seufzte tief; dann schloß er ermüdet die Augen und blieb lange Zeit unbeweglich liegen. Endlich sagte er:
»Ich habe auch mit Katharina und mit John zu sprechen, und ich will die Kinder noch einmal sehen. Rufe zunächst meine Schwester. Auf Wiedersehen, liebe Monja!«
Sobald Katharina in das Zimmer getreten war, begann Harry zu sprechen, wie einer, der weiß, daß ihm kostbare Zeit karg zugemessen ist. Aber er sprach langsam und feierlich, und Katharina lauschte ehrerbietig, gebeugten Hauptes, überwältigt von der Majestät des gewaltigen Todes, dessen Nähe am Lager des Bruders sie schaudernd empfand.
»Nähere dein Ohr meinem Munde . . . Katharina, wir haben Monja unrecht getan . . . Sie war unschuldig.«
»Ja, lieber Bruder.«
»Der Schein trügt. Er hat uns betrogen. Er zeugte falsch gegen Monja. Sie war treu.«
»Ja, lieber Bruder.«
»Kannst du mir versprechen, ihr zur Seite zu stehen in Freud' und Leid, willig ihr zu helfen und zu raten, wenn sie deiner bedarf?«
»Ja, lieber Bruder.«
»Du kannst sie niemals lieben, wie du mich liebst; – aber willst du sie lieben – um meinetwillen, deines Bruders willen?«
»Ja, lieber Bruder.«
Jammervoll, herzzerreißend kamen die Worte aus der Brust des armen Weibes.
»Dann küsse mich, Katharina, und rufe John.«
Sie legte ihr Haupt an das seine, das Gesicht in das Kissen gedrückt. Die beiden Köpfe lagen lange Zeit unbeweglich und stumm nebeneinander. Dann erhob sich Katharina wie nach einem stillen Gebet und verließ das Gemach.
Mit John, der seiner Schwester folgte, wechselte Harry nur wenige Worte.
»Ich bin müde,« sagte er, »und wollte dich sehen, ehe ich einschlafe. Gute Nacht, mein alter, treuer John!«
Er hatte vor drei Wochen, bald nach dem Unfall, aber als er sich noch verhältnismäßig stark fühlte, in geschäftlicher Weise – »zu seiner Beruhigung«, wie er damals sagte – Verfügungen über sein Vermögen nach seinem Tode getroffen und Herrn Brent und seinen Bruder zu seinen Testamentsvollstreckern und zu Vormündern seiner unmündigen Kinder ernannt.
»Wegen der Kinder bin ich ruhig,« sagte er.
»Natürlich!«
Der Kalifornier hatte viele Menschen sterben sehen. Er wußte, daß der Mann, den er am meisten auf der Welt geliebt hatte, den niemand, weder Mann noch Frau, ihm jemals wieder ersetzen konnte, ihn nun bald und auf immer verlassen würde. Bitterer Schmerz füllte seine Brust; aber er blieb stark.
»Noch eins,« fuhr Harry fort. »Ich habe deinen Freund, Herrn Ohl . . .« Er hielt inne und legte die Hand auf das Herz, wie um einen Schmerz zu besänftigen. Dann wiederholte er den angefangenen Satz, aber in veränderter Form: »Ich habe unsern Gast nicht mehr sehen können. Grüße ihn von mir!«
Die Kinder, die aus den Betten geholt worden waren, wurden jetzt von Monja und Natalie hereingetragen. Der Kranke küßte die schlaftrunkenen Köpfchen, die ihm hingehalten wurden, und legte seine Hand segnend darauf.
Und jetzt, da alle seine Lieben um das Lager versammelt waren, faltete er die Hände zum Gebet, und während seine bleichen Lippen sich lautlos bewegten, wanderten seine Augen langsam von einem zum andern, bis seine stummen Lippen sich schlossen. Dann, nach einer kleinen Pause, sagte er leise, doch vernehmbar: »Gute Nacht!« und schloß die Augen, worauf alle, bis auf Monja, sich lautlos entfernten.
Diese saß geisterbleich an dem Bette des Gatten während der langen Stunden der unheimlichen Nacht. Es war drei Uhr morgens. Ein Schauern des Frostes durchrieselte sie. Sie erhob sich und nahm ein großes Tuch, das auf einem Stuhle lag, um sich darin einzuhüllen. Ihre Bewegungen waren kaum hörbar leise gewesen, aber ebenso leise schwang die Tür, und Katharina erschien auf der Schwelle.
»Ich hörte, daß Sie sich bewegten,« sagte sie. »Wie geht es Harry?«
»Er schlummert.«
Katharina blieb vor Monja stehen. Es schien, als kämpfe sie mit einem Entschluß; aber nicht lange, dann streckte sie dieser die Hand entgegen, die Monja zögernd ergriff und krampfhaft festhielt.
In diesem Augenblick öffnete Harry Maclean die Augen. Die beiden Frauen standen am Fuße des Bettes, Hand in Hand. Ein Lächeln des Friedens verklärte das Antlitz des Sterbenden.
»Das ist gut.« sagte er.