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Die Ostsee wogt nicht eine Stunde von Gadendorp entfernt. Dennoch ist nur in seltnen Fällen ihr »Atem« zu hören. Es mag dies an dem zwischen ihr und dem Schlosse stehenden Walde, der das Geräusch auffängt, liegen.
Wir hatten stürmisches Wetter gehabt. Ein heftiges, kurzes Gewitter schloß den Tanz. Und dann war wieder die Hitze eingebrochen. Ich konnte nicht schlafen in der schwülen Sommernacht. Wenn ich die Augen schloß, schoß ich sofort wieder in die Höhe, als wenn mir die Luft weggehn, das Herz stillstehn wollte. Jedermann kennt solche Nächte. Ich hatte weder aufregende, anstrengende Lektüre gehabt, denn die mächtige Poesie des Propheten Jesaia, in dem ich gelesen, hatte mich gehoben, noch waren mir durch zu spät eingenommenes Essen Unbehaglichkeiten entstanden: nach sechs Uhr hatte ich keinen Bissen verzehrt, keinen Trunk getan.
Solche Schlaflosigkeit, dies Hin- und Herwälzen liegt im Blut; wir müssen es ertragen.
Durch die offen stehenden Fenster hörte ich die tote See. Nach dem heftigen Sturme war sie, wie so oft, zurückgeblieben. Wohl die tiefe, windlose, nächtliche Stille machte es, daß ich das Rollen der Wellen vernahm: wie das ferne brodelnde Geräusch einer Großstadt klang es; auch wie das Summen zahlloser Fliegen, wie wir es hören, wenn wir in einer glühendheißen Stunde in der schattenlosen Haide gehen und plötzlich still stehen.
Ich richtete mich im Bett auf. Es fiel mir ein, ein Bad zu nehmen. Gedacht, getan. Und ich bin schon mit Taps und den beiden Dachshunden unterwegs.
Am Strande angekommen, betrachte ich mir die See. Die langen, schaumlosen, glatten Wogen ziehen geräuschlos, brechen nicht in sich zusammen. Nur wenn sie das Ufer erreichen, zerfließen sie, wie Schnee, murmelnd auf Kies und Kieseln. Über der See ruht das Licht des halben Mondes und der Sterne. Ich stehe mit untergeschlagnen Armen. Taps sitzt vor mir zwischen meinen Stiefeln und schaut tiefernst aufs Meer. Männe und Herr Diedel haben sich mir zu beiden Seiten postiert.
Die Frische und Kühle des Ufers tut mir unendlich wohl.
Plötzlich ward vor mir das Wasser unruhig, immer unruhiger. Die Wellen krönten sich mit Schaumspitzen, wie in einem Strudel wirbelt es zusammen, wirbelte, senkte und hob sich; und es stand vor meinen Augen die »Emporgetauchte«, Venus Anadyomene. Na, so was. Ich war wie geblendet, wandte meinen Oberkörper, meinen Kopf halb nach rückwärts, mit den Händen abwehrend. Ich sah meine Hunde, diese Helden, mit eingekniffnen Schwänzen dem nahen Waldrande zulaufen. Wartet, ihr Feigen! Aber nun . . . ich drehte ohne Furcht, ohne auch nur eine Spur von Furcht, die Stirn wieder der Schaumgebornen zu.
Es war ein hoheitsvolles Weib: so hoheitsvoll, daß mir ein Schauer durch die Seele ging. Sie wrang sich, und das nahm sich nicht schön aus, als wenn eine Wäscherin ein Stück Zeug auswringt, die Tropfen aus dem Haar und – ging dann, aus dem Wasser, dem Ufer, mir zu. Mit jedem Schritte ward sie bekleideter, und hielt endlich vor mir an in einem schwarzen Kleide, mit einem hellgrauen, sich anschmiegenden, eng anliegenden Jäckchen. Die fast übergroße, strenge, hoheitsvolle Venus Anadyomene hatte sich in die kleine, blonde, hübsche Lene Dethlefs verwandelt. Lene Dethlefs war eine jener flüchtigen Bekanntschaften gewesen, an die ich längst, längst nicht mehr gedacht hatte. Ich hielt sie umschlossen, und so, als wenn wir mit der Linken (übrigens sehr unschön verglichen) einen großen Laib Brotes halten, um mit der Rechten ein Stück »abzusäbeln«. Das Mädchen hatte die rechte Schulter, während ich sie an mich zog, gegen meine Brust gelehnt. Dann aber bog sie sich in meinen Arm zurück. Zwei sehr liebe, freundliche, gute Augen schauten mich an, ihre Lippen öffneten sich ein wenig, als wenn sie trinken wollte, und ich verschloß ihr den roten Mund.
»Nicht zu liebeln leis mit Augen, Sondern fest uns anzusaugen An geliebte Lippen . . .« |
Und sonderbar, während wir uns küßten und also nicht sprechen konnten, hörte ich neben mir, zweimal in kurzen Zwischenräumen, die Worte: »Sie sind sehr gütig, Sie sind sehr gütig . . .«
O Lene, kleine Lene Dethlefs, was hab ich in diesem Augenblick für eine Sehnsucht nach dir.
Und dann war Alles verschwunden, und ich starrte auf die langen, glatten Wellen der toten See. Am Waldrande empfingen mich meine Hunde. Männe und Herr Diedel, als wenn sie sich entschuldigen wollten, wedelten und wanden sich um meine Füße wie Schlangen. Der alte Taps aber hielt das nicht für nötig: er trabte wie ein hoher, greiser Würdenträger hinter mir her. Einmal sah ich mich noch nach der See um: ganz in der Ferne zog, mit leisem Geräusch, das Dampfschiff Kiel-Korsör. Die Lichter verschwanden aber bald wieder.
* * *
(Max Semmelbrott.)
Ich muß nämlich offen gestehen, daß ich lieber zwei Meilen Trab reite auf einem guten Pferde, oder Whist spiele, oder eine Nacht mit lustigen jungen Leuten durchtrinke, oder auf die Hühnerjagd gehe, oder einem Wettrennen zuschaue, als daß ich über neue Gedichte lese. Es kann mich von »den neusten Erscheinungen« selten etwas erwärmen. Vor einiger Zeit bin ich auf eine sonderbare Art (wie wir in Schleswig-Holstein sagen) »dazu« gekommen.
Auf einer langen, langweiligen Eisenbahnfahrt kaufte ich mir auf einer Haltestelle aus Verzweiflung eine Zeitung. Nachdem ich sie flüchtig durchgesehen hatte, legte ich sie weg. Durch was immer gezwungen, rafft ich sie noch einmal an mich und nahm, wunderbar, aber es war so, die Spalte vor: »Kunst, Theater und Literatur.« Da entdeckte ich denn zuerst in dieser Abteilung, daß der Justizrat Abelmeier ertrunken sei. Abelmeier. Abelmeier? Wer war Herr Abelmeier? Wie kommt Herr Abelmeier in die Spalte: »Kunst, Theater und Literatur«? Gleichviel. Ich forschte weiter: . . . »Ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben«, stand als Überschrift. Ah, also doch. Aber es kam, zu diesen Worten gehörend, eine Gesundheitversprechung für kranke Nieren, namentlich den Weibern empfohlen: es wurde Warners Safe Cure angepriesen. Kunst, Theater und Literatur? »Kunst, Theater und Literatur« . . . Nun folgte:
Central-Viehmarkt | |
Sengschweiue 39–40 Mark, Beste dänische Versandware 00–00 Mark, Mittelware 39–40 Mark, Sauen 30–41 Mark, Ferkel 40–41 Mark per 100 Pfund. |
Kunst, Theater und Literatur? »Kunst, Theater und Literatur.« Endlich, immer unter dieser Überschrift, in derselben Abteilung, erschaute ich die Besprechung einer eben erschienenen Gedichtsammlung. Der Dichter hieß Max Semmelbrott. Der Besprecher hatte sich mit einem »w.« begnügt. Ich las und las und brach schließlich in lautes Gelächter aus. Ein mir gegenüber sitzender Engländer erwachte. Zuweilen aber hatte ich beim Durchlesen die Stirn gerunzelt über einige Schändlichkeiten, die sich der Verfasser der Beurteilung erlaubte. Es ging mir durch den Kopf: vielleicht kennt der Besprecher den Dichter nicht und erlaubt sich, weil er sonst so manche Rücksicht zu nehmen hat, einmal seinen Lesern zu zeigen: Seht, was für ein strenger, unparteiischer Richter ich bin. Es war vielleicht auch die unbezähmbare Lust, einem Anfänger, der ihm noch nicht schaden kann, auf die Finger zu klopfen. Ei, ei, Herr Kritikus.
Abends kam ich an meinem Endziel an. Es war zu spät, um auszugehen. Ich griff, nachdem ich gegessen hatte, in den Wust von Tagesblättern, der vor mir auf einem Nebentischchen durcheinander geworfen war.
Und wieder spielte mir der Zufall, wenn ich nicht irre, in den »Allerneuesten Nachrichten« »Kunst und Wissenschaft« vor die Augen. Sofort fiel mir der Name Max Semmelbrott auf. Was finde ich nun wohl über diesen hier? Unbegreiflich, aber es steht da: Herr Max Semmelbrott ist ein zweiter Shakespeare. Ich brach wieder in Gelächter aus. Der Kellner kam herbeigesprungen: »Der Herr befehlen?« . . . »Bitte, eine Flasche Rüdesheimer.« Im stillen sagte ich: die deutschen Dichter und Besprecher will ich leben lassen.
Neugierig geworden, griff ich zu andern und immer andern Zeitungen: und richtig, ich fand in allen eine mehr oder minder lange »Kritik« über die Gedichte Max Semmelbrotts. Aber jede war grundverschieden. Die eine gemein: ich dachte mir, der Besprecher hat sich gewiß mit dem Dichter als Schüler einmal geprügelt, und ist von diesem tüchtig durchgewalkt worden; nun rächt er sich. Oder was ihn sonst bewogen hat. Möglich, daß er den Dichter nur schlägt und will den von ihm gehaßten Verleger oder des Dichters »Schule« treffen.
Die nächste Kritik war katzenbuckelig, die dritte: ganz augenscheinlich war das Buch gar nicht von dem Besprecher verstanden worden, vielleicht rührte sie her von einem Nüchternen: philisterhaft und langweilig-belehrend klang Alles; eine vierte: ein Witzbold gab sein ledernes Bestes; eine fünfte: »wir begrüßen in diesem Dichter endlich einmal wieder ein Original . . .«; eine sechste: » . . . Langweiligeres, mehr Althergebrachtes als in diesen Versen, die auch nicht eine Spur von Ursprünglichkeit verraten, ist uns nie vorgekommen . . .«; eine siebente: nur zwei oberherrliche Worte in unausstehlich hochnäsigem Tone; eine achte, und so fort, und so fort.
Ich stieß in Ermangelung eines Zechgenossen mein Glas an die Flasche an und sprach vor mich hin: »Max, Du sollst leben. Sieh, das sind Deine Beurteiler; möge sie alle der Teufel an den Beinen aufhängen. Das aber rufe ich Dir zu, Mäxchen, in dieser Mitternachtsstunde: kehr Dich nicht daran; schreibe, wie Dirs ums Herz ist, lösche die Gluten, wenn Du brennst, was geht Dich die Ästhetik der Akademiker an, was Deinen Schönheitssinn entzückt; hältst Du es nicht länger aus: nimm die Feder und schreibe, jauchze Dich aus auf dem Papier. Hast Du eine Freude gehabt, einen Schmerz, quält Dich etwas, weißt Du nicht vor Glückseligkeit nach einer süßen Stunde, wohin: schreib Dich nur aus, für Dich. Ob das dann andre schön finden, ist ja gänzlich Wurst. Bist Du was, so bleibst Du was, und aller Neid und alle Bosheit und Gemeinheit, und alles Todschweigen (ein berühmtes und bewährtes Mittel in Deutschland), um Dich zu ersticken, hilft nichts. Gehörst Du zu der großen Zahl derer, deren Gedichte nichts taugen, dann nützen Dir alle Lobredner der Erde nichts. Brüderle, halt aus! Behalt den Pust: denn Du hast als Dichter das Unglück, ein Deutscher zu sein.«
Das, was ich über Max Semmelbrott in den Zeitungen las, hat doch im großen und ganzen nur einen bestimmten Leserkreis, der eben nur jahrein, jahraus dies eine »Organ« hält und hineinblickt. Dieser Leserkreis nimmt nun Max Semmelbrott für das, als was er von dem Beurteiler, der oft auf Jahrzehnte der gleiche, hingestellt ist. Er gilt also nun dem betreffenden Leser als: der Lächerliche, der Langweilige, der Herrliche, der Ursprüngliche, der Anempfinder, der Edle, der Rohe, der Neuerstandene, der Wegmitihm und so fort in tausend Schattierungen. Nur wenn der Schriftsteller »Mode« wird, hebt er sich in einer einzigen stechenden Farbe vom dumpfen Grau des Hintergrundes ab; dann ist er bei Lebzeiten Gemeingut seines Volkes geworden.
Hat Max Semmelbrott Geld, zeigen sich der erstaunten Welt Max Semmelbrotts Dichtungen in zweiter Auflage; etwa mit der Empfehlung: »daß eine zweite Auflage in so kurzer Zeit nötig geworden ist, beweist, daß unser Dichter &c.«
Hat Max Semmelbrott Geld, so würde ich ihm empfehlen, die Anzeigen seiner Gedichte zwischen die Butter- und Bohnenpreise immerwährend einrücken zu lassen und in die Börsenberichte. Das erachte ich als das einzige Mittel, wenn der deutsche Dichter auf sich aufmerksam machen will. Denn die Butter- und Bohnenpreise liest das deutsche Volk, Kritiken nicht.
Oder es müßten über Max Semmelbrott jene geheimnisvollen Ausrufe erlassen werden, wie wir sie in den Zeitungen und an den Litfaßsäulen lesen. Z. B. »Max Semmelbrott kommt« oder: »Max Semmelbrott ist da«. Dann wäre die Neugierde erregt. Endlich platzt die Bombe: Max Semmelbrott wird in einer langen Anzeige an den Litfaßsäulen und in den Zeitungen zwischen den Bohnen- und Butterpreisen als der »berühmte Dichter« angepriesen. Alles lacht natürlich, aber – sein Name ist doch bekannt geworden. Das wäre am Ende . . . na, die »hehre Muse« . . . o Gott, die »hehre Muse« in Deutschland . . . .
* * *
Meine kleine arabische Schimmelstute mit dem wenig morgenländischen Namen: »Hab dich nicht« ritt ich. Sie ist seit einem halben Jahr mein Lieblings-Reitpferd. Ich hatte sie zäumen lassen, als solle sie einen reichen Beduinenfürsten tragen. Ich selbst trug, wunderlich im Gegensatz stehend zu meinem südländisch aufgeputzten Gaule, ein schwarzes Samtwams, das ein breiter, hellbrauner Ledergurt hielt. An diesem Gurte hing das dolchartige, phantastisch geschnitzte Elfenbeinmesser, das mir meine Mutter vererbt hat. Als Kopfbedeckung führte ich wie immer meinen uralten, riesigen, ruppigen, grauen Filz mit der kurzen Sperberfeder. Der Hut paßt mir so gut, daß ich auch im Winde oder bei schnellern Gangarten ihn nicht besonders zu befestigen brauche. Was die lieben Menschen über meine Person, über meine Kleidung, Gewohnheiten, Eigentümlichkeiten sagen, ist mir stets gleichgültig gewesen. Auf meinen Besitzungen kennt mich zudem jedes Kind, so daß es nicht mehr auffällt.
Die feurige adliche Stute ist andrerseits das sanfteste Tier, das ich je geritten habe. Ich habe sie nur mit Zucker gezogen. Sporn und Peitsche würde sie so übel empfinden, daß sie vor Scham, so lächerlich das klingen mag, sterben könnte. Die wenigen Unarten hab ich ihr bald abgewöhnt. Ein merkwürdiges Tier: es kommt mir stets vor, als wüßte sie, daß alle Welt sie liebt und hätscheln müßte. Sie vertraut jedem. Sie hält alle Menschen für liebe gute Geschöpfe, weil sie selbst ein so gutes, treuherziges Geschöpf ist. So spricht man eigentlich nicht von einem Pferde. Was gehts mich an. Willkommen ist mir jener schnelle Schritt, den die Pferde gern annehmen, wenns nach Hause geht. Das ist dann wie das rasche, gleichmäßige Ticktack einer Stutzuhr.
Ich reite in diesem Schritt, bei dem »Hab dich nicht« den Hals auf und nieder bewegt, und mal rechts, mal links den Kopf ausbiegt, als wenn sie nach dem Zügel beißen will. Wir ziehen durch eine Tannenallee, deren Bäume schon vor Jahrhunderten gepflanzt sind.
Über mir liegt ein schleswig-holsteinischer Himmel gespannt, also grau, und ein ganz, ganz klein wenig langweilig (Pardon.). Die Luft steht gleichsam still heut. Es ist wie Sonntagsluft. Sonntagsluft würde ich nicht schreiben, wenn ich deutscher »Schriftsteller« wäre. Da würden mir die Herren Kritiker schön die Wahrheit sagen.
Während wir noch im Baumweg sind, klingt von Zeit zu Zeit ein Gelächter aus dem Waldkrug: »Kiek ut«. Ich reite auf ihn zu. Es ist so, als wenn in einer Schule, unter deren geöffneten Fenstern wir sitzen, stehen oder vorbei gehn, der Lehrer leise etwas vorsagt, das wir nicht vernehmen: plötzlich fällt dann brüllend, laut die ganze kleine Herde mit dem Stichwort ein. So kommt mir das Gelächter vor: einer muß dort eine Geschichte erzählen, in die mit kurzer stürmischer Heiterkeit die übrigen einbrechen.
Näher und näher schallen mir diese Ausbrüche entgegen. Endlich halt ich, doch so, daß mich die Besucher des Gastzimmers nicht sehn können, vor einer Seitentür. Aus dieser tritt mit gerötetem Gesicht und verlegnem Lächeln der junge beweibte Bauer Klaus Asmussen und entfernt sich, ohne sich umzusehn. Gleich hinter ihm her erscheint das Schenkmädchen Marie und schilt, halb zu mir, den sie schon entdeckt hat, gewendet, ohne an irgendwelche Höflichkeit in diesem Augenblick zu denken: »Dat's ja'n verheirat'ten Kerl. Wat de sick wull inbild't. Wat de mi vör'n Narr'n hol'n will«. Wie zur Bekräftigung knallt eine Lachsalve von der Trinkstube her. Ich beruhige die erregte Marie. Nachdem ich einen tüchtigen Schluck aus einem braunen Tonkrug getan habe, um den herum steht: »Peifer, Peifer, du mußt plasen, dann danzen die Pauern, als wär'n sei rasend«, und nachdem das Mädchen der Stute Zucker gereicht hat, setze ich meinen Weg fort. Vor mir verschwindet in einem Knicktor der betröpfelte Klaus Asmussen. Hinter mir hör ich immer schwächer die Lachfolgen. Das kommt davon, mein lieber Klaus Asmussen. Und ich breche selber in ein lautes Gelächter aus und singe den bekannten Gassenhauer: »Das kommt davon, das kommt davon, wenn man auf Reisen geht . . .«
* * *
In den letzten zwei Wochen zog ich aus neuerschienenen Büchern und Zeitschriften folgende Gedichte aus, die ich in meiner Sammlung niederlegen will:
Heinrich von Reder:
Einsam sitz ich auf dem Bühle, Sinnend blick ich ins Gefild, Bis zuletzt die Abenddämmrung Mir verdeckt ein jedes Bild. Überm dunklen Tannenhange Tiefe Trauer füllt die Seele, |
* * *
Ferdinand Avenarius:
Ein Traum. | |
Im tiefsten Innern unsrer Seele, dort, Wo nicht des Denkens helle Sonne scheint, Glimmt eine heiße, unbekannte Welt. Wir wissen nicht, was in ihr webt und wühlt, Nur manchmal dehnt sie plötzlich sich und tastet Stöhnend am Boden unsrer Sonnenwelt Und schüttelt ihn und reißt sich einen Spalt Und glüht herauf. Doch vor der Sonne Licht Schreckt sie zurück und kriecht in sich zusammen. Nacht wars. In einem langen dumpfen Saal |
Spätfrost. | |
Wie war des Lenzes erstes Träumen schön! Wie Kindeslächeln sah es von den Höhn. Wie eine Seele, deren warmes Hoffen Noch nie des Schicksals kalte Hand getroffen. Da ward es Nacht. Und grau im Osten wards, Und mehr und mehr belebt sich sein Gesicht Und wie sein Vampyrblick herabgesehn, |
Die Pest. | |
Einst hat ein Mann die Pest gesehn Frühmorgens über die Felder gehn, Die Hähne krähten nur heiser und schwach, Mißtönig nur bellten die Hunde ihm nach. In einem grauen Bettlerkleid, Und wo ein Dorf von fern sie sah, Und wedelt, wie man Mücken schreckt, Und hüstelnd schlich sie fort am Stab, |
Wipfelrauschen. | |
Am alten Eichstamm Ins Moos gestreckt, Von Farrenfächern Und Zweigen bedeckt, Kann in den Wipfeln Von weitem kommts her Stürmisch aufbrausend Doch da flicht sichs dazwischen Dann wie heimliches Weh, Dann wieder bäumts auf, Du Reiter, und hältst du Und plötzlich ergreifts mich, Daß droben tönend |
* * *
Prinz Emil zu Schönaich-Carolath:
Es ragt auf dunklen Eiben Das Grafenschloß ins Land, Auf den Türmen und in den Scheiben Liegt der Sonne letzter Brand. Die rotbestrahlten Zinnen |
Vorüberreitend. | |
Dort wo die Wiesen abwärts gehn Zur blauen Bergeskette, Mag tief im rauschenden Walde stehn Die kleine verlaßne Gloriette. Es liegt das Schlößchen bis an den Hals Es klettern über den Erker stumm In jener verwilderten Einsamkeit, Da stand, umstoben von Sommerwind, Es blühten die Nelken düsterbunt Des Hirsches Brunftruf schnob vorbei, Zuweilen die brütende Flur entlang Und um uns schloß im Dämmerschein Ich habe verlassen mein Heiligtum, Mag lachen das Leben königlich Nun decken die Wälder in Ewigkeit Wohl zieht bald über die Heimatflur Der Tag bricht an, ein Sturm aus West Wir ziehen des Wegs zum letztenmal, |
Am Kaisergrabe. | |
Das war ein Frühling bang und schwer, Der über Deutschland gekommen Und unsren Herzen, unserm Heer Zwei Heldenkaiser genommen! Der Märzschnee stob in grimmem Flug Fast hundert Jahre, die reich an Streit Jetzt hat den neu erwachten Tag Es hat uns Gottes allmächtige Hand Und müßten wir zahlen im Wasgauwald Und müßten wir geben für jeden Stein, Kein Zoll breit deutschen Bodens sei Wir haben des Kaisers letzten Pfad O könnten schmücken den neuen Thron Wir aber wollen ohn Unterlaß Wir wollen am doppelten Kaisergrab So schließe denn über der Fürstengruft Ein Volk, ein Herz! Seis Friedenszeit, |
Einer Fremden. | |
So wie man Sterne findet, deren Bahn Den Erdkreis streift auf Nimmerwiedersehen, Wohl deshalb nur, daß ihr Vorübergehen Heimweh nach Gott und Schmerz uns angetan, Zog deiner Liebe tiefe Melodie |
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Peter Hille:
Törichte Menschheit, in usum Delphini liest du die Erde, Grade den herrlichsten Satz nimmt der Magister dir weg. |
Seegesicht. | |
Triefendes, sonniges Blut, Silberne Wunden der Flut. Scheitlige Grate und plätschernde Flossen, Krähende Pausbacks auf halsenden Rossen. Schnaubende Augen der Wut, Hohles Tritonengetut. Gleitendes, kräftiges Leibesumschließen, Wildes Bedräuen mit Zacken und Spießen, Fleischgelbe Muschel, duftig zart, Von Amorinen flüsternd bewahrt. Hingegossen weiche Linien, Grüßende, rauschende Palmen und Pinien, Angeblühte rosige Brüste, Lächelnde sonnengestreifte Küste. |
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Prinz Reuß:
Der deutsche Jäger. | |
In Waldestiefen ist des Jägers Ort, »Die Augen auf!« sein stetes Losungswort, Der Brunfthirsch seines Schusses beste Wahl, Der Tannenwuchs sein Schönheitsideal. Mit Elch und Hirsch im Nordmanianaforst, Und schau den Waldbach dir im Frühling an, Und fragst du nach des deutschen Jägers Herz, Heia! ihr Mädchen, schaut ins Herz dem Mann, |
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Franz Sandvoß:
Ein überquellend Herz verhöhnen, Es ist so leicht und so gemein; Den kämpfend Lebenden zu krönen, Wie fiel es je den Stumpfen ein? |
Die Goldwage. | |
Sorgsam präge das Wort und genau dann wäg es der Dichter, Braucht er doch einzig die Goldwaage zu solchem Geschäft. |
* * *
Sprach nicht der Heiland: Wer ein Weib begehrend sieht, Der bricht die Eh in seinem Herzen schon? Und ich, O Gott, in diesem Sinn, wie brach mit dir ich oft Die Ehe, die du Engelsreine treu gewahrt! Wahrhaftig, wär in deiner Brust von gleicher Glut Ein Fünklein je erwacht, der Teufel hätt es leicht Bei des Infernos Ehebrechern einen Platz Uns aufzusparen – – »Schweig, um Gottes willen schweig! Der Teufel hat es immer leicht. Ach, wider ihn Was sind wir Arme?« Dann mit ihren Küssen heiß Erstickt sie ihm das Wort und hing am Nacken ihm In Tränen lächelnd – – – |
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Reinhold Fuchs:
(Sonette vom Nordseestrande.)
Auf dem Hünengrabe. | |
Den Geierhelm auf seinen blonden Haaren, Zog einst, der friedlich schlummert hier im Grunde, Im Siegesflug bis fern zum Griechensunde, Umjubelt laut von kühnen Wickingsscharen. Ein lustig Spiel nur deuchten ihn Gefahren; Aus seinem Grabe, drauf einst Roß und Sklave Im Winde schwankt darauf die Heideblume, |
Die verlorene Quelle. | |
Im öden Meere gibt es eine Stelle, Weit draußen vor dem letzten Dünenrande, Da sieht erstaunt beim tiefsten Ebbestande Der Wandrer sprudelnd eine frische Quelle. Einst war umblüht der Born, der kühle, helle, Als dort ich stand, betäubt vom Mövenschreien, Einst schlang ums Haupt ihm Lorbeer sich und Rose, |
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Ernst Ziel:
Heut berühmt zu werden, kann nicht schwer, Nein, es muß sehr leicht sein. Eines macht, Poet, dich populär: Was du schreibst, muß seicht sein. Was jeder weiß und jeder kennt, Sei sentimental – Ihr wollt am Lied, weil es pikant, Eines kränkt die Subalternen, |
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Otto Ernst:
Dichterruhm. | |
So leicht entgeht der Dichter nicht dem Ruhm! Kann er die Gunst der Massen nicht erlungern, So preist die Nachwelt doch sein Heldentum, Daß ers verstand, heroisch zu verhungern. |
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. . . und wie sagt in »den zwei Reigen« Conrad Ferdinand Meyer:
Doch Leben hat das Leben gern, Und leicht gewöhnt sich Brust an Brust. Die Toten liegen tief und fern Und wissen nichts von unsrer Lust . . . |
Kellinghusen (Holstein), 1886.