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Haus Gadendorp, Juni.
(Gang durch die Niederung.)
Wenigstens jeden Sommer einmal durchwandre ich meine Schleifendörfer. Ich muß mir zu dem Ende einen ganzen Tag nehmen. Die Schleifendörfer haben diesen Namen, weil sie, in einer einzigen großen Marschniederung gelegen, von dem Bande eines kleinen Flusses eingeinselt sind. Sie gehörten, aber immer als freie Dörfer, in frühern Jahrhunderten zu Gadendorp. Jetzt hab ich, zur Freude der Bauern und Kätner, auch meine letzten Rechte (Spann-, Hede- [Spindel- und Spinnt-]), Arbeiterdienste, ablösen lassen. Das hat zu all meinem Mammon mir wieder eine Scheune voll Gold gebracht. Das Flüßchen, das diese schwere, reiche, üppige Niederung umschließt, bildet bei Gadendorp eine Schleife. Daher stammt wohl der Name. Übrigens kommt in alten Urkunden: Schleufmarsch vor. Es wird das gleiche sein.
Wenn ich meinen Niederungsweg vorhabe, muß es brennender, glühender Mittsommertag sein. Alle Taschen pfropf ich mir zu diesem Ausflug mit Zwanzigmarkstücken voll. Es würde sich nicht übel lohnen, mich an solchem Tage totzuschlagen und zu berauben.
Ich liebe vor allem, Freude zu machen, wo ich kann, zu helfen, wo ich kann, mit dem gelben Metall; glückliche Stunden zu bereiten, fröhliche Gesichter zu sehen. So pflaster ich denn, beinahe wörtlich zu nehmen, meine Fußtapfen mit Gold. Doch bin ich so klug, keiner Seele vorher zu sagen, welchen Tag ich wähle. Selbst bei dem bescheidnen, nie aufdringlichen, prächtig stolzen Charakter der Schleswig-Holsteiner könnt ich am Wege vielleicht allerlei Männlein und Weiblein treffen, die mir bittend in die Augen schauen würden. Und das wäre ja auch nur menschlich. Aber das wäre denn doch zu viel, selbst für meinen Geldbeutel. Aber eine kleine Liste, nach vorsichtig eingezognen Erkundigungen ausgefüllt, führ ich bei mir, so daß ich in diesen Stunden wohl öfter in ein Hüttlein eintrete, als in ein wohlhabendes Bauernhaus.
Gegen sechs Uhr abends treff ich in Schloß Moorhude bei Tante Aurelie ein, um bei ihr zu essen und ihr anzusagen, daß sie im Sommer neben ihrer jährlichen Manöver-Einquartierung auch »eine Portion« Dichter aufnehmen soll, da ich dann wieder Leben in meinen Apollosaal bringen will. Ich freue mich schon auf Tante Aurelies Gesicht: wie es die guten Deutschen im allgemeinen tun, hält sie den Dichter für einen – Gelehrten, der mit fürchterlich langem, »wallendem«, sagen die Poeten, Haar, fettigem und schmutzigem, offenem Hemdkragen, ewig in Wahnsinn rollenden Augen, in der Hand einen mit Saiten bespannten Stiefelknecht, genannt Lyra, in den Wäldern und Haiden, wie der alte Ossian, umherschwärmt, jede Nachtigall besingt in Strophen wie etwa die folgende:
O du süße Nachtigall, Du Lämmlein in den Bäumen, Die zarten, süßen Veilchen im Tal, Wie innig und sinnig sie träumen, |
nie einen Tropfen Geld hat, und, ohne Ausnahme Demokrat ist. Es nützt auch Alles nichts, daß ich ihr sage, daß wir große Dichter gehabt hätten und haben, die wirkliche Könige und Prinzen waren und sind; daß Bismarck in seinen wundervollen naturalistischen Briefen an Frau und Schwester ein großer Dichter ist.
In Moorhude laß ich mich von meinem Wagen abholen, trinke in Eckernsund im »Grünen Elefanten« noch ein Glas Bier, und gehe, wenn der Abend schön ist, den Wagen vorschickend, durch die Wälder und Walddörfer nach Gadendorp zurück.
Und einer jener Vollsommertage ist aus der hellen Nacht gestiegen. Die Sonne glüht von ihrem Aufgange an, bis sie hinabtaucht in gleicher Wut und Glut. Kein Hauch rührt sich, kein Wölkchen zeigt sich. Die Schwalben schießen schwirrend hintereinander durch die Luft; kommen sie beim offenen Fenster vorüber, klingt ihr Rufen und Jubilieren scharf ins Zimmer. Es ist nur ein sekundenlanges Geräusch, das uns ins Ohr schlägt. Alles ist früh auf den Beinen. In Eckernsund steht schon gewiß der dicke Schlachtermeister Hansen hemdärmelig in der Haustür; neben ihm sitzt sein Mops und niest in die Sonne.
Ich ziehe meinen Leinenkittel an, als wollt ich, wie im September, auf Hühner gehen, hab mir in meine Jagdtasche Rotwein, ein halbe kalte Ente, harte Eier und Brot gesteckt, nehme mir ein leichtes Büchslein aus dem Gewehrschrank und pfeife meinen Hunden: Taps, Männe und Herr Diedel begleiten mich.
Der Morgen ist herrlich. Ich gehe, als wenn mir das ein besondres Vergnügen macht, sofort durchs taunasse Gras. Die feuchten Blumen und Gräser schlagen mir um die Stiefel. Ich krempe mir die Hosen auf. Beim ersten Bauernhause, an dem ich vorübergehe, hör ich eine Frauenstimme: »Lise, mak de Middeldör to.« Gleich darauf Lachen aus einem Garten. Einer entfernt sich dort. Sehen kann ich ihn nicht, aber ich hör sein letztes Wort: »Na, dor lu'r up«. Langanhaltendes Gelächter folgt ihm. An der Fähre, die mich über das Flüßchen in die Schleifenmarsch bringen soll, steht schon die alte Frau bereit; sie hat mich von weitem gesehn. Die alte Frau mit ihren grauen Strähnen lieb ich. Wenn sie mich in trüben, nebligen Herbsttagen übersetzt, und die ganze Landschaft in Bleifarbe getaucht ist, kommt sie mir oft vor, als führe sie mich auf die Toteninsel. Sie lacht nicht; sie antwortet karg. Ich weiß, daß sie ein schweres Leben hat mit acht Kindern. »Na,« sag ich, als wir drüben sind, »Trien, ick bün Se ja noch wat schüllig (schuldig) blevn vunt letzte Mal«. Jetzt weiß sie Bescheid; sie lächelt. Ich gebe ihr ein Zwanzigmarkstück. »Kümmt de Herr hüt abend werr?« fragt sie. »Ja, dat kann sien; hüt abend avers kann'k ni wesseln, denn is dat düster«, antworte ich, und gebe ihr noch eine Doppelkrone. Sie lächelt wieder; sie sagt ganz leise: »Dank ok.« »Addüs, Trien.« »Addüs, Herr Graf.« Während ich mich auf den Weg mache, fühle ich, daß sie mir nachschaut. Ich seh mich verstohlen um. Sie hat die Hand als Schatten gegen die Sonne über die Augen gelegt, um besser sehen zu können. In diesem Augenblick kommt ein Lüftchen und kräuselt des Flüßchens Fläche, nimmt einige ihrer grauen Haare und läßt sie als Fähnchen flattern.
Nach wenigen Schritten schon mach ich Halt. Ich sehe auf einen breiten Wassergraben, der sich, in grader Linie auf mich zu, vor mir zeigt. Birken biegen sich zu beiden Seiten zu ihm hinab. Was ist das für ein trauliches, schlichtes Bild. Ich breche blauen Klee aus dem Grase und stecke ihn mir ins Knopfloch.
Ah, sieh da! Wer kommt denn dort? Wahrhaftig, der »Stabsoffizier«. Der Stabsoffizier, wie ihn das Städtchen nennt, ist ein von seinem Ruhegehalt in Eckernsund lebender Postmeister, der Tag und Nacht unendlich lange Spaziergänge macht. Außerdem ist seine Vorliebe für das Militär, besonders für die Stabsoffiziere, und für die Literatur bekannt. Das letzte Mal, als ich ihm begegnete, meinte er: Schopenhauer käme ihm immer vor wie ein alter, vergrämter Stabsoffizier. Was er wohl heute auf der Pfanne hat. »Ah, sieh da, sieh da, Herr Postmeister, schon so früh unterwegs.« »Gehorsamer Diener, Herr Graf, erlauben Sie auch mir, meine Verwunderung über Ihren zeitigen Morgengang anzusprechen. Ich konnte nicht schlafen, weil ich gestern einmal wieder Hamlet las. Wissen Sie, Hamlet . . . ja Hamlet . . . ich habe mal einen sehr schneidigen, aber fetten und ruhigen Stabsoffizier gekannt. So, denk ich mir, sah Hamlet aus. So diese . . . diese Ironie . . . diese sanfte Totstecherei; ganz gleichgültig, Ratte oder Mensch . . . wenn der uns unangenehm ist . . . Ja, der sprach auch so . . . wissen Sie, das Leben, Sein oder Nichtsein . . . das war so ein Gentleman . . . eigentlich fürchtete ihn jeder . . . seine Ironie, seine Ironie . . .«
Herr Gott, Schopenhauer und Hamlet mit Stabsoffizieren zu vergleichen. Übrigens, so ganz . . . ich wandere schon wieder fürbaß.
Überall sind die Leute mit der Heuernte beschäftigt. Ich bleibe öfter stehn, um es mir zu betrachten. Vor einem »bis oben« vollgepackten Wagen reitet auf dem linken Gaul ein Greis mit dem fröhlichsten Gesicht. Er hat den linken Pantoffel ausgezogen und schlägt, wie nach dem Takt, unaufhörlich mit diesem die Hinterbacken des dicken Braunen.
Hinter einer der Katen, in die ich eintrete, tönt mir klägliches Schweinegeschrei entgegen. Als Kind verkroch ich mich auf den höchsten Boden, wenn ich Schweinegeschrei hörte. Es hat für mich das Kläglichste und zugleich Nervenerschütterndste, das ich mir denken kann.
Von einer Dorfschule her, weit über die Ebne herüber, klingt Kindergesang aus den offnen Fenstern. Zuweilen ist der dünne Violinstrich vernehmbar dazwischen. Das bewegt mein Herz: diese jungen, feinen Stimmchen. Sie singen:
Ich hab mich ergeben Mit Herz und mit Hand Dir Land voll Lieb und Leben, Mein teures Vaterland. |
Auf meinem Wege, den ich verfolge, ist es recht einsam. Die Menschen sind alle auf den Feldern. Nur einmal begegnet mir ein Schuster aus Eckernsund. Er raucht einen kalten Zigarrenstummel, den er sabbernd scharf in den linken Mundwinkel gebracht hat. Ohne diesen kalten Zigarrenstummel hab ich ihn noch nie gesehen. Es gibt übrigens Männer, die man nie ohne einen solchen kalten Zigarrenstummel sieht.
Gleich nach dem Schuster kommen mir noch zwei Menschen entgegen. Der eine sitzt auf einem Bauernwagen. Es ist der Doktor aus Eckernsund. »De Doktor mit de grote Tasch«, heißt es, wenn er, wie jetzt, eine gewaltige schwarze Ledertasche mit sich führt. Diese Tasche kennen die Bauern, vornehmlich die Weiber. Hat er die Tasche bei sich, so fährt er zu einer schweren Entbindung. Allerlei Zangen und gräßliche Instrumente enthält sie.
Hinter dem Doktor nähert sich mir der in Ruhestand befindliche alte würdige Pastor Grau, genannt Almanach. Er ist in seinem Dorfe bis heute geblieben. So lieb mir der Mann ist, und so gern ich mich mit ihm unterhalte, so hat er doch die mir nicht angenehme Gewohnheit, Neuigkeiten zu erzählen. Kaum treffen wir uns, so kramt er aus: »ja, ich weiß ganz genau, früher aß Frau von Zwingele mit stählernen Gabeln, nun hat sich diese hochmütige Person silberne Forken angeschafft . . .« Wir nennen ihn alle, in der ganzen Umgegend, weil er alles zu wissen scheint, Pastor Almanach.
Weiter. In dem Hause eines armen Arbeiters, wo ich ein wenig verweilte, um glückliche Gesichter zu machen: die Doktor- und Apothekerrechnungen müssen – das läßt sich der ärmste Mensch nicht nehmen und quält sich damit – bezahlt werden, und das drückt das Herz; in diesem Hause liegt auf dem Tisch das Heft eines Kolportageromans. Es ist betitelt: Adelgunde und ihr Dämon oder das Geheimnis des Kellers. Beim Blättern entdeck ich sofort einen abscheulichen Baron und einen abscheulichen »Pfaffen«. Das versteht sich, die Barone und die Pastoren sind ja immer Scheusäler. Eine Stelle begann: »Der Baron sah sie höhnisch an, und indem er die vor ihm sich windende Adelgunde, die arme Näherin, mit lüsternen Augen betrachtete . . .« Eine andere: »Komtesse Aurelie« (dacht ichs nicht: einen echten, rechten Kolportageroman-Namen führt ja auch mein Tantchen in Moorhude) »sah dem ankommenden Leutnant, Grafen Arthur von Nesselstein, entgegen. In der Rechten hielt er ein noch lebendes, zappelndes, blutendes (!) Rebhuhn. Beide weideten sich an dem Anblick des gequälten Tieres . . .« Aber der Staatsanwalt kann nichts machen. Das trieft alles in solchem Roman von Tugendhaftigkeit und Sittlichkeit. Nicht nur, daß der letzte Rest von Geschmack an guter Lektüre bei unsern Bauern und Kleinbürgern vernichtet wird, so reizen auch diese Art Bücher gradezu zum Klassenhaß. Wann endlich wird Abhilfe kommen.
Unterdessen ist es sehr heiß geworden. Überall »an den Enden der Welt«, nach allen Seiten hin, flimmert die Ferne in der Sonne. Ich gehe auf einem schmalen Sommerdeich; in ununterbrochener Reihenfolge muß ich sich quer über den Deich ziehende, geschlossene Hecktore übersteigen. Das macht müde. Das Rindvieh, das der ausgezeichneten rotweißen Engenburger Rasse angehört, »birs't«, das heißt, es hebt den Schwanz in die Höh und rast in tollen, drolligen Sprüngen umher. Das wirken die bösen Fliegen.
In einem Graben, von stolzen langen gelben Wasserlilien umgeben, steht ein reinigender Arbeiter, dessen Hosen so hoch wie möglich emporgezogen sind. Er hält im Hinauswerfen der Kleie inne und ruft mir, mich nicht erkennend, zu: »Wat is de Klock all?« Ich forme meine Hände zum Sprachrohr und brülle: »De Klock is ülben (elf),« den Ton stark auf »ül« legend. In unsrer Gegend wird elf plattdeutsch zu ülben; nicht ganz so reizend klingt es in anderen Gegenden meiner Heimat, dort sagt man: ölben.
Männe und Herr Diedel hatten vorhin einen Hasen aufgestöbert und läuteten ihm nach. Und, mit Beschämung muß ich es sagen, selbst Taps, mein vortrefflich erzogner, gesetzter, von sich stark eingenommener, würdevoller Hühnerhund hat sich an der Jagd beteiligt. Nun treffen die drei, reumütig wie bekehrte Sünder, mit langen Zungen, hechelnd, wieder bei mir ein; aber in welchem Aufzuge. Sie scheinen sich alle drei den denkbar dicksten und zähesten Marschdreck ausgesucht zu haben. Männe und Herr Diedel kriegen sofort ein »gehöriges Jack voll« von mir. Aber Taps? Nein, das kann ich nicht. Wer so mit den guten, reuevollen, sich schämenden Augen bitten kann, den kann ich nicht schlagen. Ich zupfe ihm nur ein wenig rechts, ein wenig links den langen Behang und halte ihm eine kleine Strafpredigt, die er mit gebeugtem Haupte über sich ergehen läßt. Und dann wandern wir wieder weiter in der Glut.
Mein Rotwein, meine halbe Ente, meine Eier, mein Brot, Alles ist längst den Weg durch die Gurgel gegangen; und ich bin deshalb froh, als ich auf einer Anhöhe – diese liegt auf einem Haidestück mitten in der Niederung – das Gewese des reichen Hufners Hans Runge sehe. Also hin. Melk, Melk, Melk. Ein Milcheimer ist das Wappen der Schleifenmarsch. Ich verdurste. Es ist keiner zu Hause. So scheint es mir. Alles wird auf der Wiese beim Heuen sein. Ich trete in die Wohnstube. Da tritt mir die hübsche Anna entgegen. Wir kennen uns seit Jahren. »Milch,« sag ich, »Milch, Milch, Anna.« Und sie kommt gleich mit großen Kannen und Gläsern für mich, und mit Schüsseln für die Hunde. Ich lösche meinen Durst. Als sie die Trinkgeschirre vom Tische nehmen will, ziehe ich sie einfach an mich, die sanfte, schmiegsame, gute, gesunde, frische Anna, und küsse sie. Das werd ich wohl schon früher getan haben. Und das ist so über Alles im Leben entzückend: die Hände schwach gegen meine Brust stemmend, halb im Wehren, halb im Gewähren, läßt sie sich mir. Dann setzt sie sich zu mir aufs Sofa, ohne Ziererei.
Es ist die Mittagstunde. »Ünnermeel«, wie die Dithmarschen es nennen (»Unter Mittag«). Meine beiden großen Landsleute, die Dichter Klaus Groth und Johann Meyer, haben in unsterblichen Liedern diese Ünnermeel-Stimmung verwertet.
Und Alles ist so ruhig. so still, so heimlich, so rätselhaft. Diese Stunde ist die Königin des Tages.
Fortwährend, und das ist eigentlich das einzige Geräusch, das wir hören, singt aus einem Zweige der Linde vor unserm offen stehenden Fenster der graue Iritsch, wie wir plattdeutsch den Hänfling nennen. Ohne abzusetzen singt er. Ich möchte behaupten, daß es der einzige Vogel ist, der in der Mittagshitze seinen Gesang nicht aufhören läßt.
Von fern schallt ein Dudelsack. Näher und näher kommt er. Endlich steht er am Hause. Es ist ein dunkeläugiger, ältlicher Italiener. Sein Dudelsack ist mit einem rot und weiß geviereckten Betttuch überzogen. Am linken Stiefelabsatz sitzt dem Manne ein Haken wie ein Sporn. An diesem Haken ist ein Band befestigt. Stampft er mit dem linken Fuße, klirren Trommel und Schellen mit.
Anna und ich sind ans Fenster getreten. Ich rufe ihm zu: »Eviva Italia, eviva Sicilia, eviva Garibaldi, Umberto, Margarita.« Er ist außer sich vor Freude. Ich werfe ihm ein Goldstück zu. Er wird im Tanzen dermaßen lebhaft, daß ich fürchte, er wird verrückt. Ich winke ab. Allmählich entfernt er sich. Und in unser Zimmer klingen schwächer und schwächer werdend der Dudelsack und, gleichstarkbleibend, der süße Lärm des grauen Iritsches.
Ünnermeel . . .
Ein Uhr. Die zweite Hälfte des Tages beginnt. Herein tritt Tante Martha. Sie ist kugelrund, gutmütig blödsinnig, noch beim Waschen zu gebrauchen, und ißt außergewöhnlich viel. Sie lächelt uns an und nimmt aus einem Schranke eine Glasbüchse mit eingemachten Bickbeeren. Sachte trippelt sie mit diesen wieder hinaus. Gleich darauf kommt Großvater Jochen. Er ist neunzig; aber körperlich und geistig noch ganz frisch. Er beginnt sofort damit, daß er mir erzählt, einen so schönen Sommer hätte er seit 1817 nicht erlebt. 1816 hätte er schon am 21. Mai Buchweizen gesäet. »Jau, dat war up de Voßkoppel . . .«
»Addüs, lütt Anna.« Sie lacht; ich lache auch. Und schon bin ich wieder unterwegs: ich langer Schlaks »mit den schwarzen, sizilianischen Augen und den roten Normannenhaaren und der asiatischen Nase«, wie Timm von mir zu sagen beliebt.
Ich nähere mich dem Dorfe Tütdiek. In Tütdiek ist eine Kirche, die eine gute neue Orgel hat. Immer wenn ich in Tütdiek bin, spiele ich mit dem dortigen Küster, Herrn Spottoog, die Orgel, abwechselnd, er Händel, ich Bach. Und das muß wohl in meiner Seele etwas Wunderbares sein: Eben hab ich jene Mannesfreude an einem frischen Mädchen gehabt, bin außer mir in köstlichstem, natürlichstem Jubel gewesen, und jetzt werde ich mich mit tiefster Seele, eine halbe Stunde später, in Bach und Händel versenken.
Küster und Schullehrer Greis (Gregorius, Greggert, Greis) Spottoog hat seine Achtzig hinter sich. Ist das ein sonderbarer Kauz. Schenkt ich ihm neulich ein gutes Klavier. Und heute noch hat ers nicht geöffnet, sondern spielt nach wie vor auf dem schrecklichen Spinett, das ihm seit Urzeiten gehört. Ja, ein wunderbarer Kauz ist er: kein Gedanke daran, daß wir gleich in die Kirche gehen können, um Bach und Händel zu spielen. Kein Gedanke daran. Da käm ich schön an, wollt ich ihm mit dieser Bitte ins Haus fallen. Unser Gespräch entwickelt sich etwa so:
»Guten Tag, Herr Spottoog, wie gehts, wie stehts?«
»Ach, immer die alte Schmiere, Herr Graf. Ja, Sie können lachen; Sie können spazieren gehen, wohin und wann Sie wollen. Unsereiner . . .«
Herr Spottoog hält Offenheit für die erste Tugend.
»Nun, nun, Herr Spottoog. Jeder hat zu tun im Leben. Sagen Sie mal: ich schmachte nach Musik.«
»So.«
»Ja, wie wär es denn?«
Gleich darauf sitzt Herr Spottoog am Spinett, und ich muß, ehe wir zu Bach und Händel übergehen können, noch allerlei mir ins Ohr klingen lassen. Der Küster beginnt, indem er mit den krummsten Fingern in fabelhafter Geläufigkeit die Tasten regiert:
»Das Gewitter«, »Kühe auf dem Nachhauseweg« – »Muh, Muh, Muh«, singt er leise dazu –, »Die Eisenbahn«, »Die Husaren kommen«, »Die Lokomotive« – »Zsch, zsch, zsch«, murmelt er dabei –, »Die Nachtigall«, »Der Fabrikhammer« und so fort und so fort. Endlich geht er in Gesang über. Er dichtet und ist Tonsetzer zugleich. Und ich muß gestehn, einige von seinen volksliederartigen Gesängen sind »Perlen«.
Er beginnt ein Lied von Busch. Seine Stimme ist leise, eintönig, wie ein über Kiesel rollendes Bächlein. Ich sitze dicht hinter ihm, um zu lauschen. Ich sehe, wie der alte Kopf im Takt wackelt . . . Und er singt:
Kohjungenleed. | |
Wees't noch, Johann, hier hebt wie seten, Hier hebt wi unser Vesper eten, Hier an denn Wall, in düsse Eck, Ick weet noch, wie dat Brot uns smeck. Hier lag dat Bottermasch, de Sweb, Un snakn vun de düre Tid, Un wöhln uns in Gras un Krut, Un jauln ock mennimal as de Voß, |
Dann geht er über in ernstere Weisen. Mir ist oft bei ähnlichen Gelegenheiten der Gedanke gekommen,. wie viel Urkraft in manchem Volksschullehrer auf den Dörfern verloren geht. Sie kennen, wie die Dorfpastoren, die Bauern »in- und auswendig«.
»Und manche Rose verduftet so« – – ja, manche Rose.
Greis Spottoog erhebt sich. Ich werfe so hin: »Mein verehrter Herr Spottoog, Bach habe ich lieber als Händel.«
»So, so, immer die alte Sache, Herr Graf.«
Jetzt hab ich ihn, wohin ich ihn haben will. Wir gehn, streitend, in die Kirche. Der Balgentreter lauert schon lange. Er weiß Bescheid. Und er weiß, daß er heut abend im Krug »een utgevn« kann, wenn ich mit Küster Spottoog in der Kirche war.
Und nun spielt dieser selbe Küster Spottoog, der eben noch »Kühe auf dem Nachhauseweg« (»Muh, Muh, Muh«) zum Besten gegeben hat, und »Die Lokomotive« (»Zsch, Zsch, Zsch«), in einer Weise Händel, daß ich gar nicht weiß, wohin ich soll mit meinem jubelnden Herzen. Der ganze Händel ist das: der pompöse Händel, der Triumphator.
Dann muß ich auf die Bank, und ich spiele meinen Liebling, Johann Sebastian.
Und dann wieder Greis Spottoog Händel, und ich wieder Johann Sebastian; und das geht so drei Stunden durch. Und wir spielen uns satt und sind übervollen Herzens von all dem Unvergleichlichen, Herrlichen.
Greis Spottoog und ich trennen uns ganz gemütlich. Die beiden großen Meister haben allen Groll, haben alle lustige Streitlust aus uns herausgetrieben. Greis Spottoog verspricht mir sogar, mich in Gadendorp zu besuchen und sich auf meiner mächtigen Orgel dort zu versuchen. Das hätt ich kaum von ihm gedacht, mir das zu versprechen.
Um sechs Uhr bin ich bei Tante Aurelie in Moorhude. Wir essen im chinesischen Saal. Der chinesische Saal ist sehr kühl. Ich sehe aus den weit offen stehenden Fenstern in den welligen Park hinaus. Die Schatten werden schon schräger. Ein fast die Sinne benehmender Duft der Rosenbeete strömt herein.
»Spottoog und ich spielten heute wieder einmal Bach und Händel.«
»Ja, Händel oder Bändel, wie heißt er, der hat ja unsere Gesangbuchlieder komponiert, nicht wahr? Die Regierung hat jetzt das neue Gesangbuch herausgegeben . . .«
Ich lächele, lächele und sage: »Tantchen, Dein Geisenheimer Kosackenberg ist wirklich vorzüglich. Aber wie ist es mit meiner Dichter-Einquartierung bei Dir? Im September bin ich in Gadendorp. Dann wollen wir wieder Theater ›machen‹. Da werden viele Dichter und Schauspieler kommen, und in Eckernsund und Gadendorp bring ich sie nicht alle unter . . .«
»Um Gotteswillen, auch noch Schauspieler . . .«
Aber wir einigen uns.
Mein Wagen ist vorgefahren. Und weiter gehts nach Eckernsund. Die Hunde hab ich mit in den Wagen genommen. Sie haben sich müde gelaufen. In der Nähe Eckernsunds komm ich bei einer Villa vorbei. Hier wohnt ein pensionierter dänischer General. Alle dänischen Offiziere sind Gentlemen, Kavaliere. Und erst recht einer der alte General. Wir lieben und schätzen ihn sehr, den freundlichen Menschen. Neulich hat er seine Frau begraben, mit der er vierzig Jahre überaus glücklich gelebt hat. Ich war beim Begräbnis. Schon ist der Sarg auf den Leichenwagen geschoben, schon wankt der alte Herr, von mir geführt, die Treppe hinab, tief, tief gerührt, mit tränenden Augen, schon ziehen die Pferde an, als der alte General plötzlich sagt: »O, i hab mei Sigarrtasch vergessen,« und er verschwindet noch einmal in der Villa.
Vorn in Eckernsund liegt eine berühmte große Lederfabrik, die einen Weltumsatz hat. Auf dem glatten Dach eines Trockenraums stehen etwa fünfzig Blechwindfänge mit beweglichen Klappen. Diese Klappen drehen sich, immer gleich zusammen, nach dem leichten Zuge. Ein Abendlüftchen hat sich aufgemacht. Und die Klappen drehen sich: sie stellen mir Philosophen und Professoren vor, die in höchster Weisheit mit höchster Erkenntnis die Perückenhäupter wenden. Ach, ach, ach, was soll denn alle diese Weisheit und Gelehrsamkeit? Dünkel, Dünkel; wer sagt denn, ob sie das richtige treffen.
Im »Grünen Elefanten« trink ich statt Erlanger weißen Burgunder. Die Nacht ist so schön, daß ich meinen Wagen mit den ermatteten Hunden nach Gadendorp vorausschicke, um zu Fuß den Weg durch die Wälder und Walddörfer zu nehmen.
Der Vollmond stand in der hellen Sommernacht am Himmel. Es war eine jener lichten Nächte: Morgen und Abend laufen gleichsam ineinander. Starke Dunkelheit tritt nicht ein. Gegen den blassen klaren Himmel, auch wenn der Mond nicht schiene, würde man die ganze Nacht die schwarzen Umrisse der Bäume scharf unterscheiden können. Die Sterne flimmern schwach. Aber sie sind deutlich sichtbar. Im Vorwärtsschreiten mußte ich oft das Bild des großen Bären betrachten, das mir gegenüber glitzerte. Über dem Mittelstern der Deichsel (des Wagens) blinkt ein kleiner, kaum erkennbarer; er hockt wie ein Äffchen auf dem Kameel. In Schleswig-Holstein wird dies Sternlein Hans Dünk genannt. Eigentlich aber ist sein Name Hans Dühmk (Däumling). Wir finden auch in andern Ländern, die die Sage vom Däumling haben, gleichentsprechende Benennungen.
Ich wanderte in gemütlichem Schritte durch die Dörfer. Als ich schon das letzte durchschritten, ward ich durch ein Geräusch angehalten.
Am letzten Haus, das stumm wie alle andern der Mitternacht sein treues Dach vertraut, will ich vorübergehn. Noch nicht am End der blühenden Gartenhecke blieb ich stehn, wie angewurzelt; mich erschreckt ein Lärm. Zwei Menschen sprachen eifrig aufeinander. Vielleicht ein Ehezwist, was gehts mich an. Der Mann sagt wütend Vorwurf schnell auf Vorwurf. Von tiefem Gram gab seine Stimme oft wie bebend ausgesprochnes bittres Wort. Die Frau besänftigte und sprach zur Güte. Doch hatten sie die Stimmen ganz gesenkt, zum Flüstern fast, brach es mit Ungestüm von neuem um so heftiger nur los . . .
Die Tür klinkt auf und bleibt geöffnet stehn; ein breiter Lichtstrahl führte eine Straße durch des entschlafnen Gartens dunklen Hauptgang. Syringen dufteten und Nachtviolen . . .
Und seine Hände überm Haupte ringend, entstürzt der Mann dem Garten in die Weite. Sie hinterher, doch kaum zehn Schritte sinds, da macht sie halt und schreit ihm nach: »Hans Dünk.« Und ungestümer ward ihr Ruf: »Hans Dünk, kumm weller« (wieder) »Hans, Hans Dünk, kumm weller, Hans.« Doch er lief immer noch, und leiser klang und ängstlicher die Mahnung: »Hans, min Hans.«
Alles das war so überraschend für mich gekommen, daß ich im Schatten wie gebannt stehn geblieben war. Ich wagte nicht über den breiten Lichtstrahl, den die Lampe aus der Tür geworfen hatte, hinüberzutreten.
Ich kannte, wie ich von jedem in meiner Gegend unterrichtet bin, die beiden und ihre Verhältnisse. Es waren Peter Jönksen und seine Frau, junge Leute. Ich wußte, daß sie höchst unglücklich lebten. Sie war eine böse Keiftrine, die ihrem Manne auf alle Weise das Leben sauer machte, ihn namentlich durch eine blödsinnige Eifersucht bis aufs Blut peinigte. Alte Weiber und Kinder wurden ihm von ihr auf allen Wegen heimlich nachgesandt zum Auskundschaften und umstellten ihn, wo er sich befand. Sie machte ihren Mann überall lächerlich dadurch.
Ich hatte tiefes Mitleid für den Unglücklichen, dem sein bißchen Freud und Freiheit, die ihm so wie so durch die Ehe genommen waren, noch mehr geschmälert wurden durch das unangenehme Weibsbild.
Peter Jönksen blieb auf den Ruf seiner Frau: »Hans, Hans Dünk,« wirklich stehn. Ich konnte Alles deutlich beobachten in der hellen Nacht.
Erst schritt er langsam, dann schneller zurück. Ich konnte die Augen des bösen Weibes über ihren Sieg funkeln sehen. Als er bei ihr angekommen war, überhäufte sie ihn mit Schmeichelreden, von denen ich nur einmal verstand, daß sie ihn daran erinnerte, wie er ihr so oft erzählt habe, er wäre Hans Dünk, der Mittelreiter vorm Geschütz – der große Wagen wurde in ein solches, wohl aus einer lustigen Erzählung ihres Mannes, der Artillerist in Rendsburg gewesen war, verwandelt. Und sie zeigte nach dem kleinen Stern hinauf. Der gutmütige, stark beschränkte Peter schien sich beruhigen zu wollen. Doch mit einemmal,. als käme ihm die schreckliche Lage seines ewigen Gefängnisses mit dem ewigen Wärter und Aufpasser klar zu Sinnen, riß er sich von ihr los und lief, mit erhoben Händen, querfeldein in grader Richtung weg. Ich sehe ihn heute noch: wie von großen Vögeln verfolgt, die ihm den Kopf umschlugen, wehrte er sich mit den Armen in der Luft. Allmählich verschwand er im blauen Duft, der am Himmelsrand nebelte. Ich konnte, da die Frau ins Haus zurückkehrte, meinen Weg ruhig fortsetzen. Im Stillen hoffte ich, daß Peter Jönksen nach der nächsten Station gerannt sei, um über Hamburg nach irgend einem überseeischen Platze zu entkommen. Aber ich hatte mich getäuscht, denn am andern Morgen erzählte mir Marcs, daß Peter Jönksen tot im Rehrmoor gefunden worden sei.
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Wer von den beiden ist ein echter Dichter, Byron oder Tennyson? Ohne Zweifel Byron. Aber hunderttausende, unterschiedslos, ob sie Königinnen oder Küchenmädchen sind, würden sich für Tennyson entscheiden. Wirkliche, wahre, echte Poesie muß empfunden werden. Und wirkliche, wahre, echte Poesie zu empfinden, ist immer nur sehr wenigen gegeben.
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»Naturalismus im Frack,« könnten wir von einigen Schriftstellern ganz gut sagen.
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