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(Zusammengestellt aus Steins »Entstehung der neueren Ästhetik«)
Der Keim des Idealismus ist überall, wo von der Form (im Sinne Schillers) und nicht vom Stoff; vom Subjekt und nicht vom Objekt; von künstlerischer Eigenart und nicht von Nachahmung der Natur gesprochen wird. Der volle Trieb aber des Idealismus erscheint da, wo von dem Außerordentlichen der Menschenseele als dem Ursprung der Kunst die Rede ist, wo man etwas Übermenschliches im Menschen annimmt und diesem das Mehr-als-Natürliche der Kunst entsprechen läßt.
Durchaus werden wir dies kennen lernen als die Gesinnung Winckelmanns.
Winckelmann überrascht uns nach Vollendung der Geschichte der Kunst mit der Mitteilung, er werde der Betrachtung der Natur sich zuwenden. »Ich habe meine niedrige Hütte aufgeschlagen, wo man mir wohl will, um in diesem Lande der Menschlichkeit meine Jahre, ferne vom Kriegsgeschrei und in Ruhe, zu genießen, und meine letzten Betrachtungen werden von der Kunst auf die Natur gehen.« Ein beinahe leidenschaftliches Gefühl für große Schauspiele der Natur zeigt er im Jahre 1767 beim Ausbruche des Vesuv; er setzt sich Gefahren aus, um in zwei aufeinanderfolgenden Nächten diesen Anblick zu genießen. Seinen Aufenhalt in Porto d'Anzo am Meere schildert er wie folgt: »Dieses ist der Ort meiner Seligkeit, und hier wünschete ich Sie, mein Freund! zu sehen, und mit Ihnen längs dem stillen Ufer der See, unter dem mit Myrten bewachsenen hohen Gestade, sorgenlos zu schleichen und auch, wenn das Meer wütet und tobt, dasselbe unter einem Bogen des alten Tempels des Glücks, oder von dem Balkon meiner Zimmer selbst, ruhig anzuschauen.« Da erfahren wir, warum so oft in den Schilderungen der Kunstwerke der Blick auf das Meer zur Bezeichnung der durch das Kunstwerk erweckten Empfindung verwandt wird. Winckelmanns Naturgefühl steht in naher Beziehung zu dem belebenden Inhalt seiner Auffassung und Aneignung der Kunst.
»Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.« (Dürer.) Die Natur ist ein unversieglicher Quell. Um zu trinken, müssen wir das Wasser schöpfen und fassen. Die schöpfende Hand gibt diesem Vorgang sein gleichfalls völlig natürliches Gesetz. Dies ist das Verhältnis von Natur und Kunst. Wenn der Quell nicht fließt – ohne Beobachtung der Natur – können wir uns nicht erfrischen. Damit uns seine Welle als Getränk zu eigen werde, fassen wir sie aber in ein Gefäß. Diesem nun gab ursprünglich die Notdurft seiner Bestimmung seine Form; endlich erfand der künstlerische Verstand zu gleichem Zwecke die herrliche Amphora. Deren Gestalt läßt zwar den natürlichen Anlaß ihrer Bildung noch sehr wohl erkennen. Auf den ersten Blick erscheint sie als bestimmt, das Wasser einer Quelle aufzufangen. Aber die Kunst hat jenem Anlaß Gestalt gegeben und eine höhere Schönheit abgewonnen. Wie die Amphora zu dem fließenden Quell und der ersten schöpfenden Hand, so verhält sich das Kunstwerk zur Nachahmung der Natur.
Winckelmann drückt sich über dieses Verhältnis wohl auch so aus, daß der Künstler durch Beobachtung der Natur zur Schöpfung einer höheren Natur begeistert werde. »Die häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur veranlaßten die griechischen Künstler, noch weiter zu gehen: sie fingen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Teile als ganzer Verhältnisse zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten; ihr Urbild war eine bloß im Verstande entworfene geistige Natur.« Dies Ergebnis geistigen Schaffens ist nun jenes Ideal, nach welchem der Künstler arbeitet. Es erhebt die Kunst über die Natur und den gestaltenden Künstler über sich selbst. »Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur; die ideale Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.«
Das Göttliche. Sagt Winckelmann, wie er dies verstanden haben will? Er setzt für das künstlerisch Höchste und Wünschenswerte einen Namen ein, welchen er dem höchsten Wunsch und der geheimsten Ahnung des menschlichen Geistes entnimmt. Wie ist diese Bezeichnung in seiner allgemeinen Denkweise begründet?
Es zeigt sich in Winckelmanns Schilderungen der Kunstwerke und ästhetischen Erörterungen, daß er mit Bestimmtheit ein Maß der Empfindung als Ideal des Gemütes in sich trägt. Dieses seelische Ideal kann er den Kunstwerken nicht entnehmen. Wenn er sich auch in ihm durch Anschauungen der Kunst bestärkt fühlt, so ist es ihm doch ursprünglich eigen als Notwendigkeit seines Geistes. Findet er es in Kunstwerken ausgesprochen, so sagt er dann, in diesen Werken sei das Göttliche ausgedrückt. Demnach ist es eben dieses innerlich gehegte Maß der Empfindung, welches ihm den Gebrauch des erhabensten Wortes aufdrängt, welches seinen Begriff vom Göttlichen ausmacht.
Edle Einfalt und stille Größe: das ist das seelische Ideal, welches Winckelmann innerlich hegte und sodann in der Antike, in Raffaels Sixtina ausgedrückt fand.
»In allen Stellungen, die von dem Stand der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele nicht in dem Zustande, der ihr der natürlichste ist, sondern in einem gewaltsamen und erzwungenen Zustande. Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist sie in dem Stand der Einheit, in dem Stande der Ruhe.« Winckelmann geht bald von dieser Seelenschilderung aus und steigt von ihr zum Begriffe des Göttlichen auf. Bald steigt er vom Begriffe des Göttlichen zur Bezeichnung dieses Ideals der Einfalt herab. »Die Stille wurde nach dem Plato als der Zustand betrachtet, welcher das Mittel ist zwischen dem Schmerz und der Fröhlichkeit; und eben deswegen ist die Stille derjenige Zustand, welcher der Schönheit, so wie dem Meere, der eigentlichste ist, und die Erfahrung zeigt, daß die schönsten Wesen von stillem, gesittetem Wesen sind. Eben die Fassung wird in dieser Beziehung in dem Bilde sowohl als in dem, der es entwirft, erfordert: denn es kann der Begriff einer hohen Schönheit auch nicht anders erzeugt werden, als in einer stillen und von einzelnen Bildungen abgerufenen Betrachtung der Seele. Außerdem ist die Stille und die Ruhe im Menschen und bei Tieren der Zustand, welcher uns fähig macht, die wahre Beschaffenheit und Eigenschaften derselben zu untersuchen und zu erkennen, so wie man den Grund der Flüsse und des Meeres nur entdeckt, wenn das Wasser still und unbewegt ist; und folglich kann auch die Kunst nur in der Stille das eigentliche Wesen derselben ausdrücken.«
Die innere Größe ist also die Bedingung des Erhabenen und verrät sich als die Voraussetzung der ganzen metaphysischen Deduktion: diese innere Größe ist der Inhalt einer bestimmten und mit Sicherheit festgehaltenen seelischen Erfahrung.
»Der Ausdruck einer so großen Seele«, sagt Winckelmann bei Besprechung des Laokoon, »geht weit über die Bildung der schönen Natur: der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.« Nach Winckelmanns Begriffen entsteht also das idealistische Verfahren in der Kunst aus jenem Außerordentlichen der inneren Erfahrung. Diesen Idealismus des seelischen Gehalts fand er in den Werken der Griechen. »So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.« Er fand ihn in der Sixtinischen Madonna Raffaels: »Sehet die Madonna mit einem Gesicht voll Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen Größe, in einer selig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille, welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen ließen. Wie groß und edel ist ihr ganzer Umriß! Das Kind auf ihren Armen ist ein Kind über Kinder erhaben, durch ein Gesicht, aus welchem ein Strahl der Gottheit durch die Unschuld der Kindheit hervorzuleuchten scheint.«
Daß diese Empfindung eines seelisch Höchsten die Ursprüngliche geniale Grundanschauung Winckelmanns ist, zeigt sich auch darin, daß sie sich durch seine ganze Entwicklung hindurch erhält, soweit wir sie in Schriften vor uns haben; während doch im Übrigen Italien ihm so viel Neues gab, daß er seine in Deutschland geschriebene Erstlingsschrift von der Nachahmung der Griechen später kaum mehr gelten ließ. Das Ideal der edlen Einfalt und stillen Größe aber wird schon in dieser Schrift vollkommen ausgesprochen und begründet. Dann erkennen wir es wieder in der Auffassung des vergötterten Herkules und in der Beschreibung des Apollo. Und auf dieselbe Anschauung blickt der Autor immer wieder hin, sowohl in der Geschichte der Kunst als in der noch späteren Einleitung zu den Monumenti.
Versöhnung, Erlösung, Seligkeit:Hier klingen Wagnersche Worte an. L. dies durchzieht die Seele Winckelmanns als eine tief empfundene Ahnung und gibt ihm den Begriff des Göttlichen ein. Wenn wir auch von der kunsttheoretischen Anwendung dieses Gemütsideales absehen, so dürfte es ganz allein als Stimmung und Empfindung auf spätere deutsche Schriftsteller bedeutend eingewirkt haben. Herder war, wie es scheint, der einzige, bei dessen erstem literarischen Auftreten Winckelmann das Gefühl hatte, nun auch in der nordischen Ferne verstanden zu werden. Gerade jene Grundstimmung der Winckelmannschen Ästhetik klingt in den glücklichsten Worten der Kritischen Wälder an.
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Winckelmanns Geschichte der Kunst förderte, fast wie ein eigenes Kunstwerk, die Entwicklung der deutschen Poesie. Sie gab der ästhetischen Initiative der Deutschen dadurch eine bestimmte Richtung, daß sie ihr die Kunsttatsache der Antike aneignete und gleichsam einverleibte. Das idealistische Empfinden gewann durch sie Bestimmtheit: weil Winckelmann das Ideale aus reiner Empfindung zu bestimmen vermochte, wie wir dies eben gesehen haben, und weil er ferner das Urbild dieser Empfindung des Ideales durch seine Anschauung der göttlichen hellenischen Gestalten für jedermann kenntlich machte.
Hier wenden unsere Blicke von dem Ästhetiker sich auf den Menschen Winckelmann. Wie vollbrachte er das? Wie war es möglich, daß dieser deutsche Gelehrte die Kunst der Griechen in sich derart belebte, daß er sie in die geistige Entwicklung seines Volkes wie ein eigenes deutsches Kunsterlebnis hineinstellt? Wie gelangte der Sohn des märkischen Sandes, der hierauf im Schulstaub fast vergrabene Kinderlehrer zu der Aufrichtung eines ästhetisch bestimmenden, künstlerischen Maßes?
In der äußeren Welt ist die Grenze eines Gegenstandes seine Bestimmung. In der inneren Welt wachsen Bestimmungen immer nur aus Grenzenlosigkeit, aus einer Unendlichkeit des Empfindens hervor. Winckelmann war eine solche grenzenlos, unendlich empfindende Natur. Aus der Größe, ja aus dem Übermaß seines Empfindens tritt, durch die Not und das dringende Bedürfnis dieses Übermaßes erzwungen, die Bestimmtheit und Kraft seiner Anschauungen hervor.
Was für ein Leben war diesem Manne bis fast zu seinem vierzigsten Jahre zuteil geworden, wenn man ausschließlich die äußeren Ereignisse dieses Lebens beachtet! Das Schicksal schien selbst in seinen Gunstbezeigungen, in der Berufung durch Bünau, seiner zu spotten. Die Welt mußte dieser großen Seele als ein Gefängnis, das Leben als ein Irrsal erscheinen. Plötzlich nun treten auf der Höhe seines Lebens unserem Helden aus dieser selben, grau und öde ihn befangenden Wirklichkeit die Anschauungen der Kunst entgegen: Gestalten, welche seine Seele ausfüllen und sie in dem Besten, was sie in sich erfuhr, bestärken. Zuerst in Dresden; dann in Italien, wo man die Kunst zu atmen glaubt. Wenn er endlich den entscheidenden Entschluß gefaßt hat, nach Rom den Weg sich zu bahnen, klingt es noch fast wie ein Schrei der Verzweiflung: »Wer den Tod nicht scheuet, fürchtet sich vor keinen Schatten.« Dann sicher und fest: »Unglücklich kann mich nichts in der Welt machen.«
So verstehen wir nun den biographischen Moment seiner Ankunft in Rom. Sogleich in den ersten Wochen verwendete er alle Zeit auf die Anschauung der alten Kunstwerke. Mit welchem Blick ergriff er sie!
Er entdeckte jetzt die Antike. Manche sagen heute: Er erfand sie. Der Zustand und die schöpferische Kraft seines Gemüts ließe es als durchaus möglich annehmen, daß er in dem einen oder anderen Werke mehr sah, als dessen Verfertiger je gesehen hatte.
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Wagner sagt, alles Verständnis komme uns nur durch die Liebe.Bekanntlich auch ein Grundgedanke Goethes. L. Dies Wort bestätigt sich in Winckelmanns Entdeckung der Antike. Sein Liebe-Vermögen und Liebe-Bedürfen wandte sich fortschreitend immer mehr auf seine große geistige Arbeit und hauchte dieser Atem und Seele ein.
Ich will diese Erscheinung durch ein Beispiel zu erläutern versuchen, welches in allem einzelnen mit Winckelmann nichts gemein hat und deshalb den gemeinsamen Zug, auf den es hier ankommt, deutlich hervortreten läßt. In einem seiner bedeutendsten Romane, in Louis Lambert, hat Balzac eine Liebesleidenschaft geschildert, welche den von ihr Ergriffenen am Vorabend der Hochzeit wahnsinnig macht. In diesem Roman hat der Schriftsteller mehr als in einem anderen die Schilderung des Helden der eigenen inneren Erfahrung entnommen. Vor allem in diesem Zuge. Einer solchen Leidenschaft war Balzac selber fähig. Wir wissen, daß er Madame Hanska glühend, beständig, alle Hindernisse durchbrechend, bis zu seinem vorzeitigen Tode liebte. Und nun, mit welcher tiefen Betroffenheit erfahren wir, daß die beispiellose Leidenschaft des außerordentlichen Mannes zwar Erwiderung, aber doch keine ihrer völlig würdige Erwiderung fand. Eine solche wahrhaftige, mächtige Regung einer großen Seele sollte trügen dürfen? Es ist nicht anders. Ein übermächtiges Verhängnis scheint in solchen Naturen zu schalten und ihre Person einer höheren Bestimmung unterzuordnen. Diese höhere und übermächtige Bestimmung kündigt sich in ihnen selber als Übermaß des Empfindens an. Nun ringt ein solches Übermaß danach, sich ein Maß zu setzen. Bald glaubt der geniale Übermensch in einem anderen Wesen das Gegenbild seines Inneren und hiermit den würdigen Gegenstand seines Allempfindens zu erkennen; und hierin kann er irren, nach der Trüglichkeit der Natur. Oder er findet sein Maß in geistiger Arbeit, wie denn Balzac in einer völlig unbegreiflichen Arbeitsfülle sein Leben ganz eigentlich verzehrt und wie in Flammen aufgehen läßt: dann aber schafft das Genie Wahrheit und erhöht die Natur.
»Ich bin unter den wenigen Menschen,« schreibt Winckelmann, »welche die Freundschaft als das höchste menschliche Gut ansehen und über alles in der Welt schätzen; und ich wünschte den Ruhm aus der Welt zu nehmen, ein außerordentlicher Freund gewesen zu sein.« »Vom Himmel kam die Freundschaft«, ruft er aus; ganz wie er die höchste Schönheit durch Berufung auf die göttliche Schönheit zu beschreiben versucht. Wir haben das ästhetische Ideal der Ruhe von ihm entwerfen sehen; an einen Freund schreibt er: »In meinem höchsten Gute, welches die Ruhe ist, die ich aber niemals völlig erlangen werde, sind Sie der Mittelpunkt, und in diesem Kleinode der köstlichste Stein.« In einem Briefe aus seinem letzten Lebensjahre heißt es: »Endlich wird die Ruhe kommen an dem Orte, wo wir uns zu sehen und zu genießen hoffen; woran ich ohne die innigste Bewegung und ohne Freudentränen nicht gedenken kann. Dahin will ich, wie ein leichter Fußgänger, so wie ich gekommen bin, aus der Welt gehen. Ich weihe diese Tränen, die ich hier vergieße, der hohen Freundschaft, die aus dem Schoße der ewigen Liebe kommt, die ich errungen und in Ihnen gefunden habe.« Diese Empfindung hat bei Winckelmann in hohem Grade den Charakter selbstloser Hingebung .. Er schreibt, wenn er sich von verächtlicher Undankbarkeit eines Jugendfreundes überzeugt: »Ich hätte ein besser Herz zu finden verdienet. Allein: Erkenntlichkeit verlangen, heißt beinahe Undank verdienen.«
Diese Leidenschaft betrügt sich in der Schätzung ihres Gegenstandes. Es hat etwas Verletzendes, die Freundschaftsversicherungen Winckelmanns zu lesen, welche sich an einen albernen Livländer Baron richten und von diesem nicht nur mit seelenloser Gleichgültigkeit erwidert, sondern, wie es scheint, mit niederträchtiger List zur Glorifikation seines Namens durch Widmung einer Winckelmannschen Schrift ausgenutzt wurden. Noch verletzender ist es, wenn Winckelmann eine Zeitlang die Frau seines Freundes Mengs zum Gegenstande seiner leidenschaftlichen Empfindungen macht. Durch keine Deutung ist der wahre und wirkliche Schmerz aufzuheben, den diese Täuschungen des großen Mannes erwecken. In der Tat, es waltet ein Verhängnis in der Geschichte solcher Männer, ein Verhängnis, welches gegen die Beglückung des einzelnen gleichgültig erscheint, welches mit dem Glücke seines Lebenstages spielt, indessen es Menschheit in ihm und vermittelst seiner ausbildet. Es müßte möglich sein, sich dieses Verhängnisses durch ein höheres Bewußtsein zu bemächtigen! – Genug. Ein solches Verhängnis sehen wir in Leben und Tod Winckelmanns sich vollziehen.
Eben jene Leidenschaft macht ihn hellsehend für das Schöne. Denn seine Empfindung für das Schöne war eine durchaus leidenschaftliche. Oft begegnet in seiner Schilderung der Kunstwerke, metaphorisch, das Seelenschicksal Liebender. Einmal, wenn eine Pallas entdeckt ist, »bleibt er stumm, taub und wie sinnenlos, da er sie erblickt«. Das ist dasselbe Gefühl, welches Dante im fünften Gesänge des Inferno schildert. Gerade jene Freundschaft für den Livländer gewann ihm, in ausdrücklich hervorgehobenem, inneren Zusammenhange, eine seiner herrlichsten Schriften ab: »Über die Empfindung des Schönen.« Winckelmann ergriff das Schöne mit lebendiger Liebeskraft, wie ein Heiltum, wie einen Ersatz für die Unzulänglichkeit der ihm im Leben begegnenden Menschenwelt. Daher die Glut und Innigkeit seiner Lehre. Aus wahrstem Seelendrang und mit hohem Ernst verkündigt er: es sei an der Zeit, die Schönheit in ihren heiligen Rechten herzustellen.
Diese biographischen Erinnerungen sollten vor allem einen Zug der Winckelmannschen Ästhetik hervorheben. Die Idealität drängt in ihm zu bestimmtester Realität. Sein tiefes Seelenleben lehrt ihn sehen. Eine enge Seele schickt sich, wie in Schranken, in die Wirklichkeit; aber eine unendliche Seele, wie die seinige, ersieht sich in der Außenwelt Gestalten. Entzückt von der Anschauung des Apollo im Belvedere, schreibt Winckelmann die Anmerkung nieder: »Der ihn siehet, bekommet eine hohe Idee von der Wirklichkeit.«
Dieser Zug kehrt in der Kunstanschauung Goethes und Schillers wieder. Gerade er läßt Winckelmann als deren nächsten Vorläufer erscheinen. Schiller war der Ansicht, daß eine Regel, die von dem Dinge selbst zugleich befolgt und gegeben ist, das einzige Gesetz der Kunst sei. Je tiefer der Künstlergeist geartet ist, um so wahrer wird er den Sinn der Dinge darstellen. Er setzt Wahrheit an die Stelle der Wirklichkeit. Er weckt gleichsam die Seele des Wirklichen und leiht ihr seine Sprache. Dieser Idealismus ist bloßen Träumereien unverwandt und richtet sich vielmehr mit Ernst und gerechtem Sinn auf Deutung und Gestaltung der Natur. Goethe hatte es schon vor Schiller in Beziehung auf bildende Kunst ausgesprochen und in diesem Worte die gemeinsame Tendenz der deutschen Ästhetik ausgedrückt: »Der Stil ruht auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.«
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(Aus verschiedenen Werken Steins zusammengestellt und mit Überschriften versehen)
Goethe hegt bei seiner Rückkehr aus Italien den Gedanken, zu einer Anregung deutscher Kunst – hierunter fast ausschließlich die bildende Kunst verstanden – behutsam und besonnen vorzudringen. Er sah Weimar wieder am Abend des 18. Juni 1788 bei aufgehendem Vollmonde. Stille, hohe Ideale hegt er in der Seele. Nicht die helle Freude des Südens, aber eine würdige Milderung alles Daseins glaubt er als die Grundstimmung der aufgenommenen Kunsterfahrungen der Heimat und den Freunden mitteilen zu können.
In tiefster Seele aber erschrak er, als er eben jetzt völlig entgegengesetzte Dinge bei seinen Freunden in Geltung fand. »Heinses Ardinghello und Schillers Räuber« – so sagt er später in einer Zusammenstellung, der man noch etwas von dem damaligen Ingrimm anmerkt – »wurden nicht nur von ganz Deutschland bewundert, sondern auch von meinen nächsten Freunden, deren Sinnesart ich mir verwandt geglaubt hatte, als das eigentlich Beachtenswerte angepriesen. Wovon ich mich glücklich befreit hatte, das sollte ich nun mit ihnen wiederum ernst nehmen und anstaunen.« Goethe fühlte, daß er unter diesen Umständen mit dem, was er jetzt zu sagen hatte, von seinen Freunden nicht verstanden werden würde. Demnach mußte es ihm als ein Verhängnis erscheinen, daß er bei seiner Rückkehr in die Heimat Schillern an seinem Herde fand.
Goethe verschloß sich völlig in sich selbst. Dies ist ein Zug, der in Goethes Leben immer wiederkehrt, dieses für weniger scharfsichtige Freunde unmerkliche Zurücktreten in sich. Er geht aus einer Grundeigentümlichkeit seines Empfindens hervor. Es ist so bezeichnend für Goethe, wenn er sich, nach durchlebter Werther-Zeit, über das geistig Wünschenswerte zusammenfaßt: »Unter allen Besitzungen auf Erden ist ein eigen Herz die kostbarste, und unter Tausenden haben sie kaum zwei.« Dann einige Jahre später in Weimar heißt es: »Die Seele ist wie eine Stadt, die hinter sich ein Schloß auf dem Berge hat. Das Schloß bewachte ich und die Stadt ließ ich im Frieden und Kriege wehrlos; nun fang' ich an, auch die zu befestigen.« Niemals aber hatte er Besseres darbieten wollen, und nie fand er sich entschiedener unverstanden als jetzt bei der Rückkehr aus Italien.
Man möchte sagen, daß das Schicksal in den nächsten Jahren die beiden Männer in seine ernste Schule genommen habe. Die ersten neunziger Jahre bringen Katastrophen in beider Leben, welche zu tiefster Besinnung nötigten.
Ein Jahr nach jener ersten Begegnung in Rudolstadt bricht die große Revolution aus. Sie fesselt nicht nur das allgemeine Interesse gerade auch der Deutschen, wenigstens der Denkenden unter ihnen; sondern sie zieht auch Goethen unmittelbar in ihre Kreise. Die deutschen Fürsten glauben, im Jahre 1792, dem Unfug ein Ende machen zu sollen; der Krieg wird mit den höchsten Ansprüchen, als eine Art von Kreuzzug für Recht und Kultur unternommen. Nicht nur der Befehl seines Fürsten, sondern, wie es scheint, auch der eigene Wunsch ließ Goethe an diesem Feldzuge teilnehmen: er wollte eine Erfahrung dieser Art gemacht, Welt und Menschen auch von dieser Seite kennen gelernt haben. Das Unternehmen verlief, wie bekannt, äußerst unglücklich. Nach den Tagen von Valmy verscholl das Heer der Verbündeten für die in der Heimat ängstlich Harrenden fast vollständig für vier Wochen: endlich erschien es, zerrüttet durch einen fluchtartigen Rückzug, an der deutschen Grenze.
Mitten in dem Jammer und Elend dieses Rückzugs erblicken wir Goethe. Die Umgebung des Herzogs pflegte von ihm zu rühmen, daß bei argen Unbilden und Entbehrungen er sich doch einige Überlegenheit der Stimmung und Heiterkeit bewahrt habe. Jetzt aber erstarrte ihm Blick und Herz. Zu dem Anblick des Elends gesellte sich die Enttäuschung, da Goethe gewiß zu denen gehörte, die den Sieg der Verbündeten für sittlich notwendig gehalten hatten. – »In Rom erfuhr ich, was es heiße, ein Mensch zu sein«, sagte er einmal. Auch hier erfuhr er es in einem furchtbar veränderten Sinn. Aus Rom hatte er, als das Palladium jenes besseren Menschentums, die Kunst seinen Deutschen zubringen wollen. Jetzt erst verzagte er, überwältigt von dem Weltgeschick, völlig an der Mitteilung seiner Kunstgesinnungen. Die Kluft zwischen dem wirklichen Leben, wie er es nun erkannte, und jenen stillen Idealen schien unüberbrückbar.
Um sich von dem erlebten Unheil einigermaßen wiederherzustellen, suchte Goethe alte Freunde auf, Jakobi und seinen Kreis, die Umgebung der Fürstin Gallitzin. Die Freunde wollten den Dichter in ihm wiederfinden und, wenn nötig, wiedererwecken. Sie geben ihm Iphigenien zur abendlichen Vorlesung in die Hand. Aber Goethe »fühlt sich dem zarten Sinne entfremdet; auch von andern vorgetragen, war mir ein solcher Anklang lästig. Indem aber das Stück gar bald zurückgelegt ward, schien es, als wenn man mich durch einen höheren Grad von Folter zu prüfen gedenke. Man brachte Ödipus auf Kolonos, dessen erhabene Heiligkeit meinem gegen Kunst, Natur und Welt gewendeten, durch eine schreckliche Kampagne verhärteten Sinn ganz unerträglich schien; nicht hundert Zeilen hielt ich aus.«
Zu unsagbarem Ernst waren seine rein menschlichen inneren Erfahrungen angewachsen; aufs bestimmteste fühlte er, daß es sich in dieser Welt »etwa bloß so mit der Leier in der Hand« nicht leben lasse; Goethe war kein Dichter mehr.
Schillern hatte inzwischen, nachdem er soeben das Glück in seiner häuslichen Niederlassung zu finden schien, die Krankheit erfaßt, von welcher er eigentlich nicht wieder genesen ist. Im Januar 91, 92, dann wieder im Frühjahr 93 hatte sie in immer wiederholten Anfällen ihn niedergeworfen und sein Leben aufs ernsteste gefährdet. Schiller hatte dem Tode ins Auge gesehen und wußte von da an, daß er nur noch eine gemessene Zahl von Jahren zu leben habe. In seiner großartigen Weise spricht er es etwas später aus: es handle sich für ihn darum, das Erhaltungswerte aus dem Brande zu flüchten. – Auch er suchte, um sich herzustellen und zu erholen, alte Freunde auf und kehrte auf fast ein Jahr in die schwäbische Heimat zurück. Geistig erfrischt, hochgefaßt wendet er sich einem neuen Leben zu. Es gilt für ihn, nicht mehr zu zögern, sondern zu edlem entscheidenden Tun vorzuschreiten. So entsteht der Gedanke der Hören: die besten Schriftsteller Deutschlands sollen sich vereinigen, ein Außerordentliches soll geleistet werden.
Bei diesem Unternehmen durfte Goethe nicht fehlen. Schiller wandte sich an ihn mit einer würdig und ernst vorgetragenen Bitte um Beteiligung. Er erhielt eine freundlich zusagende Antwort.
Einer eigentlichen Befreundung bedurfte es zwischen uns nicht, sagte Goethe später zu Eckermann; wir fanden, daß unsere Richtungen auf eins gingen, und gehörten fernerhin zusammen. Es war eine plötzliche Einsicht, eine Entdeckung gleicher Tendenzen. Ich glaube, diese plötzliche Erleuchtung ging für Goethe Hauptfachlich von dem Eindruck aus, den die Art und Weise, wie Schiller hörte und sprach, auf ihn hervorbrachte. Er deutet hierauf mit den schlichten Worten hin: »Schillers Anziehungskraft war groß, er hielt alle fest, die sich ihm näherten.« Das war vor sechs Jahren nicht so gewesen. Schiller hatte sich seitdem beispiellos entwickelt; der leidenschaftlich Strebende hatte, durch die Umstände – deren nicht unwichtigster Bestandteil den Namen Goethe trug – vom lärmenden Erfolge weg- und auf sich selbst zurückgewiesen, in sich selbst das Unaussprechliche gefunden. Von da an vermochte er mit Milde nach außen zu blicken, nicht mehr begehrend, sondern des edelsten Besitzes gewiß. Ein innerlich bewahrtes, höheres Menschentum war aber Goethes eigentliches Lebensgeheimnis. Hier nun fand er sich von einem solchen höheren Menschentume ebenfalls angesprochen, bei sonst völliger Verschiedenheit der natürlichen Anläge und persönlichen Eigenart. So wie es hier zu ihm sprach, ist es ihm nur dieses eine Mal begegnet. Diese höchste Gemeinsamkeit aber war mit Worten durchaus nicht auch nur anzudeuten: deshalb kein allmähliches Sich-kennen-lernen, keine eigentliche Freundschaft. »Es scheint, als wenn wir, nach einem so unvermuteten Begegnen, miteinander fortwandern müßten«, schrieb Goethe im August; und hierbei verblieb es fernerhin.
»Wir fanden, daß unsere Richtungen auf eins gingen«: so Goethe. »Zwischen unseren Ideen über Kunst und Kunsttheorie fand sich eine unerwartete Übereinstimmung«, schreibt Schiller.
Wenn zwei Männer wie diese eine lange gehegte und völlig bewußte Abneigung aufgeben, so muß das, worüber sie diesen Gegensatz vergessen, ein Mittelpunkt ihres Lebens sein. Nun ist aber das von ihnen ausdrücklich als gemeinsam Erkannte, nach Schillers Worten, ihre Ansicht von der Kunst. Demnach ist diesen Männern hier die Kunst nicht Unterhaltung und Zerstreuung, nicht Überlieferung und Mode, sondern höchster Lebensernst. Das ist es auch, was Goethe Schillern vor allem zu sagen hatte: »Ich habe den redlichen und so seltenen Ernst, der in allem erscheint, was Sie geschrieben und getan haben, immer zu schätzen gewußt.«
Ist einem Menschen die Kunst, praktisch genommen, höchster Lebensernst, so wird er sie nun ferner, theoretisch gesprochen, in keiner Weise als eine bloße technische Virtuosität ansehen. Eine solche wird immer von anderen, bestimmten Absichten in Dienst genommen. Das aber soll die Kunst, über welche Goethe und Schiller sich verständigen, eben nicht.
Als Klopstock mit seinem Messias auftrat, forderten die deutschen Ästhetiker bereits seit einer Generation ein großes episches Gedicht. Die kritische Welt bewunderte Homer: soll eine Literatur aufblühen, so muß sie ein Epos haben, so hieß es; Klopstock teilte diese Überzeugung und faßte ausdrücklich ihr gemäß, wie bekannt, schon als Primaner den Gedanken seines Gedichts. Wielands erstes Werk ist ein Lehrgedicht über die Natur der Dinge. In diesem Gedichte sollte, nach der ausdrücklichen Versicherung des Verfassers, bewiesen werden, daß die bestehende Welt die beste unter allen möglichen Welten sei. Hier also ist es ein Satz eines ganz bestimmten spekulativen Systems, des Leibnitzischen; dort ist es ein ästhetisch-kritisches Modetheorem, welches die Fähigkeiten des jungen Dichters in seine Dienste nimmt. Vom Werther und von den Räubern würde man nichts Ähnliches sagen können. Diese Werke brechen aus gewaltigen seelischen Nötigungen hervor. Ihre Verfasser sind ursprüngliche, unendliche Naturen. Sie erschließen Tiefen, in welche andere noch nicht geblickt. Die Kunst ist ihnen der Ausdruck für etwas, was durchaus nur auf diese Weise zu sagen war, für eine durchaus eigene Weise, das Leben und die Dinge anzusehen, für ein individuelles Weltbild, eine Weltanschauung.
Schillers Lehre betrifft das innere Prinzip des Stiles. Goethe ging vom Gegenstande aus.
Der Stil in der Kunst sei erreicht (sagt Goethe), wenn der Gegenstand, vielsagend und bedeutsam, zu vollendetem Ausdruck kommt. Fragen wir, welche Darstellung ihren Gegenstand vollendet zum Ausdruck bringe, so kamen hierfür, wenn z. B. der Gegenstand in Blumen und Früchten bestand, die Regeln der Botanik in Betracht. Hier wurden wir zweifelhaft, wenigstens darüber, ob diese Instanz die endgültige, ob diese Prinzipien des Stiles vollständig und entscheidend seien. Setzt aber werden wir durch Schiller darauf hingewiesen, daß es allerdings einen letzten sicheren Maßstab aller Vollendung der Formen gibt: nämlich innere Vollendung des betrachtenden und schaffenden Geistes. Auch Goethe gebrauchte diesen Maßstab überall; er war ihm aber nicht als solcher zum Bewußtsein gekommen. Goethes Ansicht vom Stile, begründet durch die Schillersche Bestimmung des Idealen: hier ist, der Sache und dem Geiste nach, der Punkt der Begegnung der beiden künstlerischen Denker.
Das Gemeinsame in den Kunstansichten ist, daß sie sich dem bloß Natürlichen in der Kunst entgegensetzen. Alle Welt wollte damals das Natürliche, in Bildung und Erziehung, in der Dichtung, auf der Bühne wie im Leben. Goethe und Schiller wollten mehr, und eben auf dieses Mehr begründet sich ihr Anspruch auf Klassizität. Sie wollten aber deshalb in der Kunst mehr als das von ihren Zeitgenossen so genannte Natürliche, weil ein größerer gedanklicher Zusammenhang sich in ihren künstlerischen Prinzipien verdichtete.
Dementsprechend wurzelt die Art und Weise, wie Goethes Stilprinzip und Schillers Idealbegriff sich ergänzen, in der Art und Weise, wie ihre Welt- und Lebensanschauung sich ergänzt.
Ästhetisch heißt: was auf Empfindungen sich bezieht. Schiller nennt im Menschlichen ästhetisch, was aus Empfindung, aus Neigung getan wird. So entstand jenes wundervolle Wort, das Christentum sei die einzige ästhetische Religion, weil sein eigentlicher Charakterzug im Unterschiede von allen monotheistischen Religionen in der Aufhebung des Gesetzes liege (An Goethe 87). Schiller findet ein allgemeines Beispiel des menschlich Schönen in dem, was man guten Ton nennt. Das erste Gesetz des guten Tones sei: Schone fremde Freiheit! das zweite: Zeige selbst Freiheit! Schiller kannte keinen anderen Verkehr, als den durch diese Worte bezeichneten. Karoline von Wolzogen erzählt, daß ein Umgang, in welchem er sich Zwang antun muhte, von ihm unfehlbar, wenn auch nicht plötzlich und verletzend, so doch allmählich aufgegeben wurde.
Ein Gespräch jener Menschen, deren Verkehr Freiheit zeigt, wird durch die Form der Behandlungsweise der Gegenstände sich auszeichnen und das stoffliche Interesse am Gegenstände eliminieren. Goethe, Schiller, Körner, Humboldt werden über die alltäglichen Ereignisse so gesprochen haben, daß das Alltägliche sich durch ihre Auffassungsart verklärte, und es, durch diese Form und Art ihres Lebens, eine Lust zu leben war.
In dem Gespräch eines in solchem Sinne gebildeten Kreises werden wir kein plumpes Ja und grobes Nein vernehmen. Sondern wenn der eine etwas gesagt hat, wird der andere vor allem sich damit beschäftigen, es zu verstehen und es hiermit zunächst in einem gewissen Maße zugeben. Hierauf aber wird der fremde Gedanke, den er zu voller Wirkung hat kommen lassen, eigene Einfälle auslösen, und nun wird der Aufnehmende seinerseits etwas zu sagen haben. Ein Wechselspiel des Gebens und Nehmens wird den Inhalt des Verkehres ausmachen, und die als Ganzheit der Bildung ausgesprochene Forderung in jedem Augenblick verwirklichen.
Suchen wir nun auch das Schöne, um seinen Begriff verständlich zu analysieren, in der uns nahe umgebenden Wirklichkeit auf ... Ich erwarte in einem Zimmer seinen für den Augenblick abwesenden Besitzer. Unwillkürlich haftet der Blick an der Einrichtung und Ausschmückung des Raumes.
Zunächst fallen mir die Bilder auf. Sie hängen nicht in starr symmetrischen Gruppen, sondern so verschiedenartig verteilt, daß ihre Anordnung auf einen Betrachter weist, der sinnvoll sich an ihnen erfreuend jedes von ihnen an einer bestimmt ausgezeichneten Stelle zu sehen und wiederzufinden wünscht. Gleicherweise zeigt verschiedene, charakteristische Rahmung besondere Teilnahme an jedem einzelnen Blatt. Die Bilder selbst mögen sich so darstellen, daß sie auch bei flüchtigem Überblick den Gedanken an die Persönlichkeit aufdrängen, welche gerade diese Bilder zum Zimmerschmuck sich wählte.
Des weiteren bemerke ich die Stellung des Arbeitstisches, der Repositorien, und finde, daß sie auf zweckmäßige Benutzung des Lichtes und der Luft, auf regelmäßige emsige Arbeit weisen. Ein Ruheplatz deutet Stunden des Sinnens, des eigenen, bücherlosen Nachdenkens an. Andere Sitze aber scheinen den fremden Besucher zu behaglichem Gespräche einzuladen. Dieses alles in einer einzigen Anschauung vereinigt, fühle ich mich deutlich und wohltuend, durch die Vermittlung aller dieser Gegenstände, von einer menschlichen Seele angesprochen, und in der Erinnerung an ein solches Zimmer ist mir nicht anders zumute, als hätte ich ein freundliches, warmempfundenes Wort vernommen. Einen solchen Eindruck nenne ich schön.
Schiller äußert sich in den ersten (ästhetischen) Briefen über den politischen Jammer, wie er es nennt. Auch in der Ankündigung der Horen hatte er betont, daß man hier der Politik mit Bewußtsein sich abkehre. Die Politik faßt sich für den Augenblick, von welchem wir reden, in ein großes Ereignis zusammen: die französische Revolution. Seit man in jener großen, denkwürdigen Nacht die Menschenrechte proklamierte, glaubten alle, die auf den Namen Mensch mit Bewußtsein Anspruch erhoben, daß nunmehr ihre gemeinsame Sache in Paris geführt werde und dort zum Austrag komme. Kant zum Beispiel folgte den Ereignissen der Revolution mit derartiger Aufmerksamkeit, daß er Vorkommnisse vorauszusagen pflegte nach seiner genauesten Kenntnis der Parteiverhältnisse; stimmte jemand mit seiner Ansicht über die Bedeutung der Revolution nicht überein, so brach der sonst so überaus höfliche Mann das Gespräch ab. Dies Beispiel bezeichne die Stimmung der Gebildeten Deutschlands im Hinblick auf Paris.
Jetzt erklärt Schiller: kein Wort mehr von diesen Dingen. Wir sind enttäuscht: nicht der Mensch, viel eher Tiger und Hyäne sind es, die ihre Sache in Paris zum Austrag bringen. Wir wollen daran arbeiten, daß ein ähnlicher Augenblick in künftigen Jahrhunderten ein würdigeres Geschlecht finde. Mit besonderer Beziehung auf Goethe lehren die ästhetischen Briefe: nur der Dichter ist der wahre und eigentliche Mensch, nur von ihm ist für die Sache der Menschheit Ernsthaftes und Heilsames zu erwarten.
Hier wird also ein Programm aufgestellt. Dieses konnte nicht kühner gefaßt werden. Was in Paris mißlungen ist, denken wir deutschen Schriftsteller in Weimar und Jena auf eine andere und bessere Weise in Angriff zu nehmen. Während dort nur Zerstörung eingetreten ist, denken wir vielmehr Grundsteine eines dauernden Gebäudes ineinanderzufügen.
Weimar und Paris! – Wenn wir heute durch die Straßen und nächsten Umgebungen Weimars wandeln, bewegt uns zu tiefster Rührung die fast unglaubliche Kleinheit der Verhältnisse, in welcher wir die Erinnerungen an unsere Klassiker antreffen. Wollen wir von hier aus zur Anschauung jenes Weimars gelangen, in welchem Goethe und Schiller selbst lebten, so müssen wir noch einige Schritte zurücktun, also z. B. die Stadt uns großenteils mit Stroh und Schindeln gedeckt denken, worauf Goethe in der Italienischen Reise einmal Bezug nimmt. All dies stimmt zu großer Bescheidenheit, besonders auch im nationalen Sinne. Kommt uns nun aber der Gedanke, was von Goethe und Schiller geistig dieser armen Erdenscholle abgewonnen worden ist, so dürfte wohl unsere Rührung in eine wahrhaft erhabene Stimmung übergehen. Diese würden wir nun festzuhalten haben, um das beinahe paradox kühne Programm der ästhetischen Briefe in seiner stillen und sicheren Größe bewundernd zu verstehen.
Goethe fand eine geistige Heimat in »Hermann und Dorothea«, als es um die irdische Heimstätte bedrohlich stand. Er schuf sich diese geistige Heimat im unmittelbaren, traulichen Verkehre mit Schiller, weil ihm dieser Verkehr das volle Gefühl einer von den Ereignissen des Erdentages unberührbaren, höheren Existenz gab. Im Gedichte selbst nun wird eine Heimat aufgefunden, und dem Flüchtling, Dorotheen, durch Liebe zugebracht. Ein deutsches Kleinleben bietet diese Heimat der vom Weltsturme der Revolution Erfaßten dar. Man mag in diesem Zuge mehr vielleicht als in einem anderen Zuge unserer klassischen Dichtungen spezifisch nationale Tendenz finden. Das große Programm der ästhetischen Briefe, »wir versuchen auf anderem Wege, was drüben mißlungen ist«, klingt wiederum an mit Beziehung auf deutsches Wesen, von welchem dem Schlüsse der Dichtung nach einzig der Frieden zu erhoffen stünde. Diese Schlußworte wären leer, wenn sie nicht durch einen Hinblick auf das, was Schiller und Goethe in jenen Jahren äußerer Bedrückung Deutschlands wirklich von Innen her schufen und vollbrachten, einen Inhalt bekämen.
Als Goethe die Vollendung des Demetrius aufgeben mußte und erst hiermit den Verlust des Freundes wirklich erfuhr, verfiel er einem Zustande, an welchen er noch nach Jahren nicht ohne Schaudern zurückdenken konnte. Die ungeheure Leidensfähigkeit seines Wesens trat hervor. Goethe ist eine tief tragische Natur. Schiller hat es ihm einmal gesagt, er sei eigentlich zur Tragödie angelegt, was Goethe auch zugab mit dem Beisatze, daß schon der bloße Versuch, eine wirkliche Tragödie zu schreiben, ihn zerstören könnte. Man vergleiche die Gretchentragödie mit dem Tragischen in der Jungfrau oder im Teil: bei Schiller geht alles auf Versöhnung, Goethe empfindet das Erbarmungslose, Unversöhnbare des Geschicks. »Es scheint, als wenn das Schicksal die Überzeugung habe, man seie nicht aus Nerven, Arterien und andern daher abgeleiteten Organen, sondern aus Draht zusammengeflochten«, so schreibt er in seinen letzten Lebensjahren an Zelter. »Man muß beizeiten verzweifeln lernen«, heißt es ein andermal. In Beziehung auf Schillers Verlust erzählt Heinrich Voß: er sei, als es sich um seinen und seines Vaters Weggang von Weimar handelte, dem leidenschaftlichen Widerspruche Goethes begegnet: die Menschen sollten ihn schonen, sie sollten ihn nicht durch das Vermeidliche verletzen, da das Unvermeidliche ihn schwer genug getroffen habe. »Daß Schiller starb, mußte ich ertragen«, habe der gewaltige Mann ausgerufen, im Tone des heftigsten Grimmes, mit Donnerstimme.
Das Gefühl der Trostlosigkeit des Daseins scheint Goethen jahrelang wenn auch nicht beherrscht, so doch als Grundstimmung seines Empfindens eingenommen zu haben. Ein poetisches Zeugnis dieser Stimmung sind die Wahlverwandtschaften (1807/08). Das Schicksal Liebender »in einer Welt, in der Gleichgültigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind«. Man denke an den Tod des Kindes, Ottilie vor dem kleinen Leichnam hingesunken, den Blick zu den Sternen richtend, »wo ein zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt«.
Indessen muh es nun erscheinen, als ob für Goethe das Aussprechen des Pathologischen ein wichtiger Bestandteil seiner poetischen Eigenart gewesen sei. Kein Wert ist in Anlage und Ausführung vollendeter als die Wahlverwandtschaften. Goethe hat gerade mit diesem Werte sich als Dichter wiedergefunden. Hier ist dieselbe Überzeugungstraft der Handlung, der Charaktere, wie im Werther oder in den ersten Büchern von Wilhelm Meister.
Wilhelm Meisters Wanderjahre sind neben dem Faust Goethes gehaltvollstes Werk. Merkwürdig aber ist, daß hier der Gehalt nicht der Form fähig wurde. Wir heben dies hervor, weil die völlig bewußte Formlosigkeit der Wanderjahre die Stimmung Goethes mitbezeichnet, welche wir hier schildernd nachzuempfinden versuchen: die Stimmung der Vereinsamung, wie sie ihn nach Schillers Tode nie wieder gänzlich verlassen hat. Aus dieser Stimmung erklärt sich die Abfassungsform der Wanderjahre. Aus ihr erklärt sich die ganze Lebeweise des letzten Lebensdrittels Goethes.
Was hat der Unermüdliche in diesen Jahren nicht alles versucht und getan, um klar und würdig seinen Tag zu durchleben. In den nun geöffneten Räumen des Goethehauses bekommen wir eine Anschauung von dem Bedürfnis nach Farbe und Vielgestalt, welchem Goethe für sich genug zu tun hatte, und zu dem er jeden gerne erweckte, der dieses Haus betrat. Da wurde fürstlichen Besuchen ein neuer Abguß aufgestellt, da wurde Eckermann oder Riemer eine der Mappen geöffnet, damit sie noch vor Tische »ein paar Augen voll nähmen«. Stiller und schmuckloser als die Besuchszimmer und die Zimmer der Kunstsammlung ist denn freilich das innere Eigentum Goethes, Wohn- und Schlafgemach und ein kleines, sehr schlichtes und überaus anmutiges Gartenzimmer, in dem er, wie man uns heute erzählt, oft mit Schiller gesessen. Farbe und Vielgestalt zeigen denn auch die literarischen Unternehmungen dieser ganzen Periode. Da erscheinen Zeitschriften: Kunst und Altertum, von Zeit zu Zeit ein Heft zur Morphologie oder Optische Beiträge. Preisaufgaben für bildende Künstler werden fernerhin gestellt und die eingesandten Werke beurteilt. Zelter erhält für seine Singakademie gesellige Lieder. Die Spruchdichtung wird reichlich fortgeführt und wird zu einem eigensten Ausdruck der Lebensweisheit des Greisen. Auch hier ein immer wechselndes Gewand: West-östlicher Divan, chinesisch-deutsche Tag- und Jahreszeiten, Weissagungen des Bakis. Für solches wechselvolles Treiben erfand sich Goethe dann wohl selbst die Benennung wunderlich. Wollte man ihm aber aus dergleichen als aus einem zerstreuten Wesen einen Vorwurf machen, so antwortete er: Wer mit fünfundzwanzig den Werther schrieb, wie soll der mit fünfundsiebzig leben! Mit zwanzig Jahren fand ich schon die Welt absurd, schreibt er an Zelter, und muß immer noch in ihr aushalten.
All dies betrachtend, blicken wir in ein poetisch-künstlerisches Chaos hinein, auf ein rhapsodisches Dichtungsmeer, um einen Goetheschen Ausdruck hierfür zu benutzen. Das Element dieses Meeres ist ungeheures, überreiches, immer sich steigerndes Weltenwissen; es wogt auf, bewegt von der Woge eines großen Wehs. Bewundernd haben wir nun als die eigentliche künstlerische Lebenstat Goethes dies zu erkennen, daß er diesem Chaos einen Kosmos abgewann durch die Vollendung des Faust.
In Dantes Hölle sind die Dichter der Vorzeit an schattigem Platze, ohne Qual, zu friedlichem Verkehre vereinigt. Wir finden im Leben edler Menschen immer wiederlehrend die Vorstellung einer solchen lebendigen Gemeinschaft der Erwählten; ob man nun in Wirklichkeit einen solchen Kreis zu bilden versuchte, oder ob man sich mit den Bildern der Verehrten umgab, oder ob man traumartig ohne Gunst des Lebens und ohne anschauliches Bild derartigen Vorstellungen nachging. In jedem Falle heißt es hier: höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit; denn in dem Persönlichen Charakter der Teilnehmer eines solchen idealen Kreises besteht sein seelenerquickender Bann.
Ein Mord bessert nie. Er regt das Rohe und Furchtbare in allen auf, in Gegnern und in Freunden der Sache. Wir bessern nur, wenn wir einen ganz andren Weg finden als den durch Kampf und Blut.
Viele töten ihr ganzes Leben lang, ohne daß es ihnen jemand ins Gesicht sagen dürfte. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß jeder, der nicht aus voller, freier und bewußter Liebe handelt, sich früher oder später auf der Bahn betrifft, die ich die Bahn des Mordes nennen muß. Er lebt vom Leben anderer. Ja, das tun heutigen Tages fast alle. Alle tun es, die herzlos und gleichgültig aneinander vorübergehen; denn Teilnahme irgend eines beseelten Wesens ist die Lebensluft, in der wir atmen.
Der Künstler findet in sich selbst etwas, was ihn alles Dreinschlagens überhebt, vielmehr dem Leben nun wieder zuführt, um aus diesem selbst Gestalten zu schaffen.
Wer begehrt, der leidet in allem. Wer nicht frei wird von sich, ist jedes Übels Knecht.
Und doch sind die heiligen Männer schon auf Erden frei geworden. Was sie dazu führt, muß ein ganz anderer Weg sein, nicht der Weg des Begehrens und auch nicht der Weg der Kasteiung.
Es ist ein innerer Weg. Sie kommen in ihren Grund, und der Grund ist Gott.
Wie betreten sie diesen Weg? Wie finden sie ihn?
Kein Finden, kein Betreten. Der Stein hat von seiner Natur eine Neigung zu der Erde, in das Niederste; wer ihm das nähme, der nähme ihm sein Wesen. Würde er tausend Jahre in der Luft mit Zwang gehalten, ihm bliebe doch seine Neigung; denn sobald er los würde, so fiele er nieder. Also hat der göttliche Mensch eine Neigung zu Gott; wiewohl er zu andren zufälligen Dingen wird gezogen mit Zwang, so bleibt ihm doch das Neigen zu Gott. Dieweil ihm das bleibt, wie viel Abziehen auch durch Zwang auf ihn fällt: wenn er los wird, zu Hand sinkt er in seinen Grund, in Gott.
Heroisch ist jeder innere Zustand, der den Menschen dazu treibt, das eigene Leben zu verachten und alle Kraft an die Erreichung eines hohen Zieles zu setzen. Das Heroische betätigt sich im Leiden sowohl wie im Handeln. Im Gegensatz zum Erhabenen der übrigen Natur, das uns direkt nur die Nichtigkeit des Physischen zeigt, führt es uns die Macht des Geistigen unmittelbar vor Augen. Kolumbus auf dem Meere ist ein Beispiel des Heroischen, in dem sich die Herrschaft eines geistigen Kernes über die ganze reale Welt darstellt.
Die Ahnung der Weisesten aller Zeiten erschließt uns einen wundervollen Gedanken: den der Erlösung. Es soll schon im Leben etwas ergriffen und besessen werden können, was allen Bann und alle Qual des Lebens löst. Blicken wir auf die Sixtina: da hat Raffael diesen Gedanken gemalt, da hat er die Madonna, das Kind im Widerschein der Erlösungsidee aufgefaßt. Wie hat er so etwas malerisch ausgedrückt?«
Im Gesicht der Madonna finden sich Züge, welche die Wirklichkeit überschreiten. Ich nenne einen von ihnen, den auffälligsten: der Abstand zwischen den Augen ist größer als anatomisch richtig ist. Man überzeugt sich leicht, daß gerade dieser Zug für den gewollten Ausdruck wichtig wird. Der Blick des Nachsinnenden richtet sich in die Ferne; er hebt sich, dem Flug der Gedanken folgend, über das Nächstliegende empor. Hier ist dieser Zug verstärkt. Es scheint, als ob diese Augen über alles Irdische hinblickten und nun etwas sähen, was nie ein Mensch sah.Diese für eine idealistische Ästhetik so wichtige Beobachtung, die nicht vereinzelt steht, wird z. B. auch durch den Moses von Michelangelo bestätigt, bei dem bekanntlich der mächtig wirkende Kopf nicht anatomisch genau in der Mitte der Schultern sitzt. L.
Den Künstler treibt das Gefühl der inneren Zusammengehörigkeit mit Menschen, die er nicht kennt. Nicht das reale Publikum der Gegenwart hat er bei seiner Mitteilung im Auge; er schafft in einer idealen Gemeinsamkeit mit Seelen, die ihn verstehen, die ihm als ersehnt vorschweben, und die vielleicht erst später einmal, gleichviel wann, kommen werden.
Das Ideal
Vor kurzem am ersten Frühlingstage
Auf dem Berge dort am knospenden Hage
Tät' ich um dich Frau Sonne befragen –
Sie weiß dich wohnen und wollt' es nicht sagen.
Meine Mutter weiß einen Wundersang,
Mit dem sie den trotzigen Knaben zwang,
Wenn sie nächtens an meinem Bette gesessen,
Das war dein Name – ich hab' ihn vergessen.
Ich kenne dich doch, du entgehst mir nicht!
Und birgst du mir gleich dein Schelmengesicht,
Bald fass' ich dich und küss' deinen Mund
Und blicke dich krank und küss' dich gesund!
Lösungen des Welträtsels werden nicht gelehrt, sondern erlebt.
Freude ist die Leidenschaft, durch die wir besser werden. Soviel du dir und anderen Freude stiehlst und verdirbst, daran tust du Sünde.
Ruhelos
Wenn Morgenwind vom hellen Osten weht.
Verläßt der Landmann seine enge Hütte,
Er lenkt zu rüst'ger Arbeit seine Schritte
Und schafft, bis hoch die Sonn' am Himmel steht.
Dann läßt er müde sich im Schatten nieder
Und trocknet sich die Stirn und reckt die Glieder.
Dann wieder fleißig, und aufs neu' ermattet,
Bis, wenn die Dunkelheit vom Himmel steigt,
Ihn Schlaf umfängt ...
Wenn alles nächtens schweigt.
Ist's laut in mir, und nie bin ich umschattet!
Ihr Sterne, ihr, dies zwiefach glühnde Licht,
Seid mein Geschick – der Mittag endet nicht!
Giordano Bruno
(nachgedichtet von H. v. Stein).
Der innere Unwert eines Zeitalters gibt sich darin kund, nur und gerade darin, daß es Trieben, die in weite Zukunft weisen, weil ihr Inhalt ewig ist, keine Nahrung zu geben vermag.
Letzter Wunsch
Weit am Horizonte
Jagen sich gleich Rossen
Kämme weißer Wogen.
Eine schäumt gewaltig
Zu des Himmels Bogen,
Glättet sich – verschwindend.
Gliche ihr mein Leben!
Noch dem späten Wandrer
Fern ein leuchtend Sinnbild!
Es ist die Macht der Sehnsucht, die den Jüngling aus dem seligen Kindheitstraume weckt) bald muß er in der Schule der Enttäuschung erfahren, daß diese Sehnsucht sich nicht erfüllt, und daß die Welt nur Bescheidungen, keine Erfüllung hat. Seine Sehnsucht bleibt sein edelster Besitz; und dessen in sich gewiß zu werden, ist einzig etwas wie erfülltes Sehnen.
*
Die weite, düstre Vorhalle eines Königspalastes im assyrischen Stil. Links blickt man in ein kleines, üppiges Gemach, mit bereitstehender Tafel; nach rechts führen Gänge zur Pforte sowie zu den anderen Teilen des Palastes.
Hannibal im Vordergrund links, in der Haltung eines Wartenden nach dem Eingang blickend; ein Beamter des Hofes, von mehreren Bediensteten umgeben, gesellt sich zu ihm.
Der Hofmann Tretet ein wenig zur Seite, mein Feldherr. Der König wird sogleich die Halle durchschreiten.
Hannibal Darum eben stehe ich hier.
Der Hofmann Jedoch, verzeiht mir, es kann Euch nicht entgangen sein, daß Ihr dem Könige augenblicklich nicht allzu genehm sein werdet, daß Ihr, gerade herausgesagt, in Ungnade bei ihm gefallen seid.
Hannibal Wäre ich in Gnaden, so hätte ich minder nötig, mit ihm zu reden.
(Die Ersten des Gefolges erscheinen bereits im Hintergrunde.)
Der Hofmann So verzeiht meiner Unhöflichkeit; ich folge meiner Pflicht.
(Auf seinen Wink nähern sich die Diener dem Hannibal. Dieser tritt einen Schritt zurück; ein Blick schmerzlichsten Ingrimms hält jene ferne, indessen seine Aufmerksamkeit dem Eingange zugewandt bleibt; dort erscheint soeben König Prusias mit wenigem Gefolge, aber in feierlichem Aufzuge und auserlesener Pracht. – Prusias' Mienen drücken beim ersten Anblick Hannibals das heftigste Erschrecken aus; in tiefster Unterwürfigkeit nähert sich ihm)
Der Hofmann Herr, es gelang mir nicht –
Prusias (winkt ihm heftig, zu schwelgen, und wendet sich, schnell gefaßt, zu Hannibal) Du hieltest dich lange fern und siehst zum Entsetzen übel aus. Ich bin es wohl zufrieden, dich zu treffen; solltest du ein Gesuch an mich haben, so habe ich nicht minder dir ein Anliegen auszusprechen. (Zu dem Gefolge, von Hannibal abgewandt.) Das Mahl beginne! Gehet hinein, ich folge euch in kurzem.
Einer aus dem Gefolge (bedeutsam, obwohl ebenfalle äußerst devot) Mein König möge in Gnaden seiner heute erwarteten Gäste gedenken.
Prusias Tue, wie ich dir gesagt; sorge du, daß sie mich nicht vermissen. – Seid fröhlich, meine Freunde: beginnt das Gelage ohne mich!
(Das Gefolge ab in das Gemach links, welches hierauf durch sich schließende, schwere und kostbare Teppiche dem Blick entzogen wird.)
Prusias Wohl denn, Hannibal, ich will dir Rede stehen. Du sollst nicht klagen, daß ich mich dir versagt habe. Ich bin entschlossen dir zu helfen, wenn es noch möglich ist.
Hannibal Mir zu helfen? Mein König, ich kam nicht, um deine Hilfe anzuflehen.
Prusias Mein großer Freund! Nicht nur dir helfen, mit Wohltun über alle Maßen wahrhaft dich beglücken, das war mein Wille, als ich dich zu mir rief. Wie ward es nur so, daß du unwillig beiseite stehest, daß ich dir Rechenschaft geben, Rechenschaft von dir fordern muß?
Hannibal Herr, ich glaube, es steht heute noch bei dir, mich so glücklich zu machen, als ich werden will. Gib mir nicht über Verdienst, aber laß mich dafür gelten, was ich bin: dein Feldherr, der noch nie aus einer Schlacht besiegt nach Hause kam. Hierin bestätige mich, und laß mich übrigens beiseite stehen von Hof und Welt; nur aber: bliebe es so, wie es jetzt ist – müßte ich weiter in deinem Banne leben wie ein unfreier Mann, zittern vor einem Morgen unentrinnbarer neuer Entschlüsse und Gebote, auf Gnade und Laune, ein altersschwacher Knecht – nun, ich rede frei, ertrage es nicht mehr ohne das, will es fürder so nicht mehr ertragen.
Prusias Ich vertraue dir wider tausend Verleumdungen. So auch jetzt, wo du mich allzu kühn anherrschest, als sei ich dein Knecht, vergebe ich es dem Zorne einiger müßigen Tage. So beweise ich dir, daß, wenn man dir von meiner Ungnade sagte, man dich belog. Und nun erwäge einzig dies, und gestehe, daß ich recht hatte, dich eine Weile ferne zu halten: wir wollen Frieden machen mit Pergamon, wollen nicht Mord noch Raub mehr. Da wir entschlossen sind und entschieden haben, mag ich jetzt auch wohl gedenken, was dir für ein weiteres Geschick zu bereiten wäre, denn zu Kriegestaten bleibt kein Raum mehr.
Hannibal Du wolltest Frieden machen mit dem Hause des Attalus? Mit dem Erzfeinde wider deine und deiner Brüder Freiheit, dem Verräter eurer aller? Und ist dir denn auf einmal Pergamon nicht mehr wie ein Raub von deinem eigenen Gute, und aller bittre Haß, der mich zum Rächer und unerbittlichen Kriegesmeister hierher berief, soll plötzlich verloschen und vergessen sein? – O König, irre dich doch nicht! Laß deine Hofburg alten Leuten lieber offen stehen zum Rate in solchen Entschließungen. Dein Königtum ruht übel auf deren Schultern, die dir zum Frieden mit Pergamon geraten haben; denn wer dem Todfeind flugs verzeiht, dem kann es nimmer Ernst um seine Sache sein – und ich sehe, oh, ich sehe, wohin wir inzwischen geraten sind.
Prusias Und sollte es dir denn also unmöglich sein, dich einmal in Frieden zu behaben und Taten des Friedens zu tun? Sieh, dazu wollte ich dich gewinnen und gewöhnen: nun du voll Ungeduld dich zu mir drängtest, sei es dir eingestanden. Ich wollte solchen milden Zwang, da ich wußte, daß dein feuriger Geist dich über diese Dinge verblenden würde.
Hannibal Was für Bedingungen bot dir Eumenes?
Prusias Ich will den Frieden, Hannibal, selbst wenn ich ihn erkaufen müßte; du änderst nichts daran. Ich schwur es mir bereits damals, als ich mit Philipp verbündet war, und nun mit einem Schlage die Nachricht von der Niederlage bei Chios und von den Plünderungen des Pergamenischen Landes anlangte, von tausend Untaten, welche nicht allein von den Horden des Makedoniers begangen waren, sondern von Leuten, deren Feldzeichen meinen Namen trugen. Die waren es, welche die Tempel umstürzten, Altäre, Götterbilder und Weihgeschenke verstümmelten und vernichteten: das dünkte mich unerträgliche Schmach. Nur herbste Not vermochte mich hierauf nochmals zum Antiochus hinzuzwingen – und da nun der Tag von Magnesia, das gleiche Mißlingen, das gleiche Unheil wie zuvor, nur mich selber noch viel näher angehend, ja bedrohend!
Hannibal Magnesia war keine Schlacht, und also auch keine Niederlage. Muß ich dich daran erinnern, wie ich dir aus dem Zustand unseres Heeres den nächsten Tag vorherverkündete, nachdem ich vergebens den Rückzug geraten – wie sie es nannten, befohlen hatte? Du allein folgtest mir und erhieltest dein Heer. Nun, da sind wir also belehrt, daß in gleicher Lage eine solche Niederlage zu vermeiden sei, denn dies haben wir an uns erfahren, und demnach keinen Grund zum Verzagen.
Prusias Bis heute zehrst du von dem Danke, den mein Heer und Land dir für jenen Rat schuldete. Wohl! Doch was schufest du uns Besseres, als ich von vorneherein gewollt, da ich aller Teilnahme am Kampfe abgesagt hatte? Seither aber trugen wir nun sogar diesen Dank dir abermals mit unserem Blute ab: denn um deinetwillen geschah es, daß die Fackel des Krieges bis heute nicht erlosch. Dem habe ich jetzt ein Ende gesetzt und bin zu meinen ersten Beschlüssen zurückgekehrt.
Hannibal Da wirfst du mir denn vor, daß ich dir Siege gewann, doch will ich es dir danken, so du auch meine Antwort erträgst. Entweder, König, du täuschest dich oder du lügst. Es ist nicht Eumenes, mit welchem du Frieden schließest, und es ist nicht deine Weisheit, welche dich zum Frieden zwingt.
Prusias Ich bezwang mich und ertrug Scheltworte von dir; nun aber sage ich dir: Suche denn dein Heim, wo du es finden magst! Mit Milde dir zu wehren, nicht mich dir zu beugen, war und bin ich gesinnt. Geh! Laß uns nach unserer Weise in Staat und Volke leben – geh!
Hannibal Auf den Landstraßen fürchte ich nur auch dieselben Feinde, die mich aus diesem Palaste vertreiben. – Soll ich am Wege liegen, umgebracht, wie ein Hund? – Die Römer geboten dir Frieden! Dich zwang dieselbe Furcht – (laut auflachend) erriet ich's, Prusias?
Prusias (mit wiedergewonnener Ruhe) Was könntest du mir erwidern, wenn ich nun fände, es wäre besser so, und begäbe mich unter ihren Schutz?
Hannibal Unter ihren Schutz!! – (Sich gleichfalls fassend, mit großem Ernst und Nachdruck) Mein König, ich würde nun selbst vielmehr deine Weisheit wecken und also zu dir sprechen.
Ihr wollt in eurer Weise in Land und Volke leben, tut wohl und recht daran. Zugleich begibst du dich in den Schutz des römischen Senats. Sagtest du mir: Ich will die eigene Art meines Volkes vernichten, um sicherer zu herrschen, und begäbest dich also in jenes Schutz: auch dann noch wäre es heilloser Unverstand, dennoch aber rechter gedacht und gesagt.
Ich habe diese Leute als Feinde nie gescheut. Auch habe ich ihre Führer oft unbesonnen, die Römer selber aber tapfer befunden: sie sind in ihrem Lande ein edles, starkes Geschlecht. Nun aber merke wohl, wie sie als Freunde handeln, seit die Fremde ihnen lockend erscheint.Man beachte die nun folgende prachtvolle Charakteristik römischer Weltherrschaft! L.
Ihre lauernden Blicke ersehen, was an äußeren Formen ihnen verständlich ist, sicher und schnell: in eurem Staatswesen, in euren Gebräuchen, in Handel und Verkehr, ja in den Sängen eurer Dichter und in den Spielen eurer Jugend. Weil es ihnen nun hierin behagt, stellen sich auf einmal Römer ein – ihr seid ja Freunde, – ihre besten, erfahrensten Leute stellen sich ein mit Rat und Tat, und die ihnen folgen, werden nicht zu klagen haben. Nun habt ihr plötzlich Parteien und streitende Gewalten, – ihr nennt es eine Aristokraten-Partei, oder eine hellenische Partei, oder die Partei der Freiheit – – es sind die Römer in eurem Lande, in euren Gewändern, in eurem Fleisch und Blut.
Denn achte wohl auf, König, wie das weiter zugeht. Diese eure Partei der Freiheit gewinnt die Obmacht, so daß man sich auf sie verlassen mag und die Toren sich an ihr erfreuen. Nun erfolgen Gesetze und Einrichtungen, klug, trefflich nach innen und außen, – von jener allerweisesten Partei vorgeschlagen, – von euch allen mit Jubel angenommen. Unter diesen wachsen eure Kinder auf, und wachsen also auf, daß ihr eure Kinder bald nicht mehr erkennt. Es ist eine fremde Sippe unter eurer Obhut groß geworden; der Tropfen echten Blutes streitet in ihnen mit der Übermacht einer fremden Gewöhnung. Ihr aber seid in eurem eigenen Lande nicht mehr daheim: es gehorcht ja weisen Gesetzen, – von denen nur eure Väter nichts wußten, als sie nach ihrem einstimmigen Willen das Land verteilten und bebauten. Ihr habt, geht es gut, noch euer Brot, aber nicht mehr eure Sitte, und keine Treue, keinen Glauben mehr, denn der mit dir handelt und wandelt ist nicht dein Bruder, sondern ein Feind, und Feinde, nicht deine Väter schalten über dich: das, das allein ist Knechtschaft, das ist Sklaverei der Völker! Dankt es den Römern, wenn sie euch dann auch Knechte heißen, und die es nicht zufrieden sind, mit offener Gewalt verbannen: so ist noch Hoffnung wider jene, doch seid ihr elend durch sie geworden, euer Heim ist euch verloren.
Prusias Das alles, wie du es schilderst, geht mich nichts an. Ich bin der König, und mein Volk gehorcht mir; vertrage ich mich also jenen, so vermag ich doch noch ebensowohl ihren Einfluß durch meine Befehle im Zaume zu halten.
Hannibal Aber nicht doch, König; deine neuen Freunde sind vortreffliche Männer, und zum Erstaunen klug: die magst du bald keine Stunde mehr von deiner Seite lassen, die gehen dir mit Rat und Tat, dir selbst zum Wohlgefallen, zur Hand – betrügen dich um dich selbst, daß du bald nur noch befiehlst, was ihnen gefällt.
(Prusias verscheucht seine Betroffenheit durch eine Gebärde des Unwillens.)
Oder gut, so gehen sie vom Hofe und stehen unter deinem Volke, ohne daß du es ahnst. Das gehorcht nun wohl noch ferner deinen Befehlen, aber gar anders als vordem. Den Leuten sind plötzlich die Augen geöffnet für das Wesen des Staates und der Gesetze, sie könnten ein jeder selber König sein und finden schlecht, was du befiehlst. Dich, ihren Vater, achten sie für ihren Unterdrücker; sie gehorchen, ja! aber dem hohlen Gespenste der Macht, anstatt mit innigem Zutrauen dem besseren Wissen, ihres besten Mannes und erwählten, angestammten Walters. – Bald gehorchen sie auch nicht mehr. Auf Markt und Gassen streckt dir die Empörung ihr unholdes Antlitz entgegen, und aus den Winkeln deines Schlosses zischt ihr Schlangenhaupt hervor. Da besinnst du dich wohl bald und rufst sie wieder, die treuen Freunde, welche dich zuvor so wohl berieten, daß alles stille und gut war.
Prusias (ist immer aufmerksamer geworden, doch entgegnet er nicht ohne Ironie) Da gibt es denn keinen Ausweg mehr? Ich bin gefangen?
Hannibal Der beste Ausweg eröffnet sich dir eben dann, den zu betreten jeden ein Zaudern ankommt, bis er sich also verraten sieht. – Du nimmst die Besten deines Landes, welchen du noch, trotz Tücken und Trug, vertrauen kannst, und ziehest fort mit ihnen zu entlegenen Völkern und offenem Kampfe gegen Rom.
Prusias Damit es mir gelinge wie dir, und um zu enden wie du?
Hannibal Wenn du keinen treueren König findest am Ende deines Lebens, – – keinen klügeren in der Fülle deiner Erfahrung, daß er sie nutze! So ward es denn nochmals Zeit, zu reden, davon ich bisher stilleschwieg. Wohl bin ich hier nicht um Eumenes und nicht um deine Kriege wider den. Ich weile hier um Hoffnung wider Rom; die hege ich, wenn du mir treu bleibst, größere heute noch als je.
Prusias (mit ernster Teilnahme) Rede, denn wohl ist es Zeit, zu reden! – Wo sind deine Hilfsvölker, wo deine Heere und Könige, um den Kampf wider jene zu erneuern?
Hannibal Wo waren sie, als ich mit meiner Sippe nach Spanien kam? Wo, als mein Vater zuvor durch einen treulosen Frieden mit Rom verraten ward? Wo damals, als meine Vorfahren, gedrängt von unverschämten Pöbelrotten, aus Tyrus flohen und eine neue Königin der Welt, Karthago, schufen? Ich kehrte zu dieser Heimat der Völker, und auch der Besten in unserem Volke, dem kräftereichen Osten, jetzt zurück. Was vermochte ich mit spanischen Hirtenstämmen, was mit den rohen Haufen der Kelten an Alpen und Apennin? Vielmehr hier an diesen Fernen und unser aller Mutterlande wird sich die Macht der Römer brechen. Hier kämpfte ich nun bereits gegen ein römisches Karthago, aber auch ein libysch gewordenes Rom; so entkräfteten sich jene, so erstarkten wir: du widerstehe ihnen zuerst, denn dazu rettete ich dich aus dem Unverstande des Pöbelheeres von Magnesia. Deiner ersten Schlacht wartet man in Armenien; der ganze Osten fällt dir zu, wenn ich dir meinen letzten Sieg gewann.
Prusias (voller Ergriffenheit) Nicht deinen letzten Sieg! Nein, dieser Mann wird nie erlahmen, nie ersterben. Höre denn meine flehende Bitte: Fliehe noch heute, sei es nach Armenien, sei es in ein anderes Land, und beginne dort den Kampf! Ich folge dir!
Hannibal Verschicke mich nicht allzuweit mehr, König, denn allerdings wohl endet es mit mir. – Seht doch den mürben Leib – das Reden zehrt mich auf. Ich muß einen Becher Weins mir von deiner Tafel nehmen, sonst vermag ich nicht mehr aufrecht vor dir zu stehen, viel weniger noch mich aufzumachen und in die Weite von dir zu gehen.
(Er wendet sich nach dem Hintergrunde links und hat den Vorhang aufgeschlagen, ehe Prusias ihn zurückhalten kann. Man erblickt das Gelage: die Tafel von römischen Centurionen besetzt. Beim Anblick Hannibals schrecken sie empor und bleiben an ihren Plätzen festgebannt. Hannibal kehrt sich um und nähert sich lächelnd dem Prusias, welcher seinen Anblick nicht erträgt, und während jener die Hand wie schmeichelnd über da« Haupt de« Königs gleiten läßt, Locken und Krone berührend, unter dieser Berührung auf einer Bank an einem Pfeiler niedersinkt.)
Hannibal (wendet sich heftig nach der Tafel um und ruft laut) Ist mir Alten hier nicht ein Becher Weines mehr gegönnt?
(Regungslose Stille. Plötzlich springt ein Knabe aus der Dienerschaft auf, entreißt einem Römer den gefüllten Becher und überreicht ihn kniend dem Hannibal. – Hinter Ihm schließt sich der Vorhang des Seitengemachs.)
Fürchtest du die Römer nicht mehr? Willst du dich nicht auch beizeiten besinnen, daß du nicht endest wie ich? Ein Knabe wie du, schwur ich meinem Vater und begann meinen Kampf – Geh, sieh nach deinem Herrn!
(Er hat Gift in den Becher gegossen, hält denselben fest erhoben und steht In ruhiger Haltung da.)
Hab' ich mein Tagewerk getan? Hab' ich vollendet?
Ihre besten Männer habe ich getötet, in tausend Schlachten habe ich sie fliehen sehn; ich zwang sie von der Bahn ruhmvoller Kriege auf die Wege der List und des Trugs; ich habe Rom besiegt.
Warum schweigt denn der bittere Haß nicht hier in der Brust? Muß ich ihnen das Leben mißgönnen und die Wacht, die ich ihnen nicht nehmen konnte? Werden sie meines Todes spotten dürfen?
Besser kenne ich euer Schicksal. Welche Welt ist euch untertan, welche Herrschaft gewannet ihr euch! Wie bald sehnt ihr, als Herren dieser Welt, euch nach den Herden des Remus und den Albanerbergen zurück, an welchen zuletzt ich euch Auge in Auge bedroht! Verstoßt inzwischen eure Edelsten, daß Schwächlinge und Bösewichter eure Herrscher werden: Glück zu der Welt, die ihr beherrscht! Glück zu dem Heldentums, welches mich in euch überlebt!
(Den Pokal mit beiden Händen fassend.) Du bist die letzte Gabe, welche mir die Welt gegönnt hat, du meine Welt! Und Rom bedeute mir das Gift, das ich dareingoß. Du höchst tödlicher Feind all meiner Tage, du höchst willkommener nun im letzten Elend! So fluche ich euch anderen allen und segne meinen Feind.
Und keinem Hoffnungsmorgen trinke ich diesen Trank. Ich trinke ihn einer düstern Nacht, die ich erschuf, wie meinem Hasse sie gefiel. Der überlebt mich in den Gliedern eures Leibes, in jeder Stunde eures hoffnungslosen Lebens. Ich aber entkomme ihm nun. Ihr! Neidet meinen Tod!
(Seine zum Krampfe verzerrten Mienen glätten sich zu vollkommener Ruhe, wenn er den Becher an die Lippen setzt. Er läßt ihn fallen und stürzt zu Boden. Zugleich dringen von allen Seiten, aus Hallen und Gemach, Scharen römischer Soldaten, von ihren Offizieren geführt, in voller Waffenrüstung ein.)
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Vorbemerkung. Auch hier hat H. v. Stein einen Dialog mit steter innerer Steigerung geschlossen auf ein Ziel zugeführt; und zwar ist es eine Unterhaltung zwischen Cromwell und seiner kongenialen Tochter. Es handelt sich hier (kurz vor der Hinrichtung des gefangenen Königs) um eine bestimmte Bitte, die sie dem Lord-Protektor vorzutragen, um eine nicht leichte Erlaubnis, die sie dem Vater abzuringen hat. Wie sie das anstellt, wie sie ihn an seiner weichsten Stelle packt – an der Liebe zu der eigenen Tochter, eben zu ihr selber – bis er in einem gleichsam lässig hingesagten Schlußsatz die erbetene Erlaubnis erteilt: das ist, bei aller Schlichtheit, bewundernswert und bedeutend. L.
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Cromwell Gott erbarme sich unser! Was tatest du bei dem Gottesverachter, Lästerer und Verführer?
Elisabeth Könnte ich nun nicht rein vor Euch treten, mein Vater, so hätte mich keine Gewalt der Erde vermocht, zu ihm zu gehen.
Cromwell O Kind, es gibt finstre Mächte, welche uns verblenden. Trotze Gottes strengem Gerichte nicht. Soll ich armer Sünder ins Gericht gehen mit dir, meine Tochter? Sage, wie vermochtest du es? Ich habe diesen als einen Erzfeind des Glaubens und böse erkannt. Fiel dir das auch bei, als du seine Türe entriegeltest?
Elisabeth Seine Gemahlin hat mich hingesandt. Er fragte mich wie du: Was willst du? das war seine erste Frage. Es klang rauh und hart. »Eure Gemahlin sendet mich«, antwortete ich; »nicht um alles in der Welt stände ich sonst hier.« Er schwieg und glaubte mir nicht, aber schwieg, als ob er weiter hören wolle.
Cromwell Er ist ein Lügner, und meine Tochter hätte niemals zu ihm reden sollen. Soll ich dich in Zucht nehmen? Der Himmel straft mich, daß ich dich meine gute Tochter genannt habe. Mir bangt um deine Entsühnung.
Elisabeth»Seine Gemahlin, ferne und einsam, hat zu mir gesandt, denn sie glaubt den Männern nicht, welche ihr Nachricht von deinem Schicksal gaben. Sie hat mich um vieles gebeten, davon möchte ich ihr manches gewähren. Aber nur eines kann ich gewähren, und darum bin ich hier. Sie wollte von mir wissen, ob du ruhig im Gewissen seiest, ob du ihrer gedenkest, und ob du Hoffnung hegest. Ich bin zu kühn, daß ich glaubte, ich könnte das von Euch erfragen« – so redete ich weiter zu ihm – –
Cromwell Du erbleichst, Elisabeth? Sieh, ich liebe dich nun: sage mir ohne Erbangen alles, und wenn du auch vor Gott darum erzittern müßtest. Was verlangte die Königin weiter von dir?
Elisabeth Willst du mich darum fragen, Vater? – Der Gefangene blickte freundlich auf, als er mich so sprechen hörte, und sah, daß mir bange wurde.
Cromwell Er hat ein süßes Lächeln. Kind, Kind, damit hat er Gott die Herzen seiner Richter gestohlen. Wie nanntest du ihn, als du zu ihm sprachest?
Elisabeth Man hat mich gelehrt, daß der Männer Herz stolz und unbeugsam sei, und das sah ich nun vor mir. In mir aber waren die Worte seiner Gemahlin, heiße, heiße Worte, wie die bittren Tränen einer Frau. – Ich nannte ihn König, und beugte mich tief, damit ich eine Antwort von ihm erhielte.
Cromwell Daran sündigtest du. Antwortete er dir?
Elisabeth »Wie wenig Hoffnung ich habe,« dies waren seine Worte »magst du von deinem Vater erfahren.«
Cromwell Wie wußte er, daß du meine Tochter seiest?
Elisabeth Konnte jemand anderes zu ihm gelangen, als Cromwells Tochter, welche dem Volke und den Wachen bekannt ist?
Cromwell Gewiß, gewiß, darum wagtest du es. Aber daran dachte Karl im Gefängnisse nicht. Er hätte ja ein Wunder der Hölle eher geglaubt, als daß es seines Richters Tochter sei, welche ihm Botschaft bringe. Er kannte dich?
Elisabeth So helfe mir der Erlöser, als ich nach diesem Euch nichts mehr verhehlen werde. Ich sah ihn einst zu Hofe in seiner königlichen Pracht, und sein Blick traf mich unter allen Frauen, die umherstanden. »Es ist Cromwells Tochter«, hörte ich ihm antworten. Da wandte er sich noch einmal nach mir um.
Cromwell Und um deswillen suchtest du ihn nun auf!?
Elisabeth Ich habe die ganze Nacht im Gebete darum gerungen, ob ich zu ihm dürfe, wenn ich daran gedächte. Aber Gott tilgte alles Gedenken aus meiner Seele. Und als ich den einsamen Mann in jenem düsteren Zimmer erblickte, gedachte ich, mein Vater, jenes schönen Königs nicht. Hätte ich seines Glanzes gedacht, so hätte ich ihn nun und nimmermehr König genannt, denn ich haßte seinen Glanz, wie deine Tochter es von dir erfahren und gelernt hat.
Cromwell Und es ängstete dich doch, und machte dich bangen im Gebete eine ganze Nacht hindurch? O, das vergiß ihm nicht, der du ihre Gebete hörtest, wie er die Augen deines Volkes verblendete! – Warum sagtest du mir damals nicht davon, Elisabeth, daß du Karl Stuart gesehen habest, da du mir doch alles von je vertraut hast?
Elisabeth Ich achtete seiner damals nicht. Das Gedränge hatte mich festgehalten, wo er mit seinem Gefolge vorüberschritt. Nur jetzt, da ich zu ihm gehen sollte, ward mir, im Gedanken daran, wehe und eng ums Herz.
Cromwell Wie antwortete er dir weiter, Tochter?
Elisabeth Kalt, kalt und höhnisch: »Das laß sie wissen, daß ich ruhig sterbe.«
Cromwell Nicht halb so ruhig, er löge es denn, als ich die ganze Schuld seines Todes auf mich allein nehme. Ich habe sein verstocktes Herz erkannt, so daß ich nun weder Haß noch ein leises Mitleiden mehr für ihn empfinden kann. Ich weiß nur, daß er stirbt und sterben muß. Laß das seine Frau wissen, wie ich es dir hier sage, nicht mehr und nicht härter, zugleich mit seiner Antwort. Weise sie um Trost an Gott, wenn sie noch zu ihm beten kann. Auf Erden ist es mit diesem Geschlecht zu Ende.
Elisabeth Vater, zürne mir nicht, wenn ich weiter zu dir rede. – Ich hörte Euch oft sagen –
Cromwell Rede, meine Tochter, rede frei. Dein Herz ist treu, ich kann dich nicht verdammen, ob ich es schon für Sünde halte, was du tatest, denn er steht nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Frevler vor mir. So mache es denn auch du mit Ihm im Gebete ab, ich bin nicht dein Mittler, wie auch dein Richter nicht. Was hörtest du mich sagen, Elisabeth?
Elisabeth Vater, Ihr liebt Eure Tochter?
Cromwell O, was soll mir nun das? In Gott, Elisabeth! Wüßte ich, daß du nicht in der Gnade ständest, so wäre mein Herz auch sogleich eiseskalt gegen dich, ich könnte dich dann nicht lieben.
Elisabeth Ich hörte Euch sagen, es müsse noch viel Blut fließen, ehe Ihr auch nur den Grund Eures Werkes für fest und sicher hieltet.
Cromwell Ja, Karl Stuarts Blut. Sein Richtblock ist der unerschütterliche Grundstein der wahren und heiligen Republik.
Elisabeth Verzeiht mir, werdet nicht zornig, Ihr sagtet, es könne auch dann noch mißlingen.
Cromwell Mir kann es mißlingen, vieles noch. Aber die Gemeinde ist dann fest gegründet.
Elisabeth Ach, alle sagen ja, sie ruhe auf Euch; Ihr habt es ausgerichtet bis hieher, und ohne Euch könnte sie auch nimmermehr bestehen.
Cromwell Laß dich doch nicht betören, Kind. So spricht die Menge. Kein Gläubiger spricht so. Du weißt es doch recht gut, die du mich kanntest, als noch niemand in London meinen schlechten Namen nannte, daß ich es nicht vermocht und geschaffen habe, was uns gelungen ist. Sprach in deiner Kindheit dein Vater je von Schlachten und Königtum, Parlamenten, Kampf und Sieg? Ich habe es nicht gewollt und nicht getan. Nicht eine Stunde ertrüge ich's, wäre es nicht Gottes Werk.
Elisabeth Aber Ihr sagtet doch eben, es könnte Euch mißlingen?
Cromwell Nicht das Werk, das Werk kann nimmermehr mißlingen. O mein Kind, mein Kind! Wenn mir etwas mißlänge, dann wäre ich eben Gottes Werkzeug nicht mehr, und bevor das geschähe, nimmt mich der Herr in Gnaden hinweg, wir erleben es nimmermehr.
Elisabeth Ich erleb' es auch nicht, nicht wahr? Es geschieht ein Wunder, das tilgt uns beide im gleichen Augenblicke von der Erde, wenn sich die Gnade von uns wenden will. – Denn das kann ja nicht sein, daß Gott uns prüfen wollte, und wir noch einmal als Besiegte von hier gingen.
Cromwell Was drängest du mich so? Mir wird düster zu Sinne.
Elisabeth Kennst du die Ratschlüsse Gottes so gewiß und genau? Vater, ich weiß nur, daß Gott milde ist.
Cromwell Ich habe einmal an ihm gezweifelt; als ich aus bittrer Not und im Unmut meiner Väter Boden verließ und hinüber wollte nach der Neuen Welt. Ich hatte es fest beschlossen, und war mir bitter schwer geworden; an dergleichen hätte ich nie gedacht, wären nicht die Lasten gewesen, und das bittre Unrecht, das mir geschah, und die Hungersnot. Das erregte in mir einen heftigen Grimm, so daß ich nimmer freundlich reden konnte seitdem, denn es hatte mich übermannt. Es war ein böser, weltlicher Grimm, und in allem, was ich tat, daß ich's nie wieder abzuändern vermeinte – wie ich mein Landgut verkaufte, und mein Vieh, und mein Pferd, das mich bis dahin getragen, und meines Oheims Amtsröcke, und alles Hausgerät – in alle diesem rief ich nicht zum Herrn, nicht ein einziges Mal. Als wir nun auf dem Schiff waren, und ich, ruhig und sicher im Herzen, meiner Heimat zu vergessen gedachte, verbot man mir die Ausfahrt und zwang uns mit amtlicher Gewalt vom Könige, wieder ans Land zu gehen. Da erkannte ich den Willen Gottes, und er gebot mir fortan. Daran darf ich nicht zweifeln, sonst wäre ich ein verlorener Mensch. Glaubt meine Tochter, daß ich das bin?
Elisabeth Und wenn du selbst es glaubtest, ich würde nicht von dir weichen. Ich würde nicht von dir weichen, wenn Gott uns nun prüft. O Vater, die Stuarts werden siegen.
Cromwell So tue ich denn das Meine, wenn Karl Stuart morgen stirbt.
Elisabeth Wir werden noch einmal fliehen müssen, von London weg, in die Neue Welt. O Vater, wie will ich dich im Unglück pflegen und lieben. Jetzt kommt mir meine Liebe oft wie Sünde vor, wie eitel nichts. Da solltest du noch schöne, gute Tage haben, mein Vater – so weit von hier, als Vergessen ist, als die Gedanken nicht nachfliegen können, und lassen uns Ruhe vor Kampf und Sieg – dann hast du deine Tochter noch, und du wirst nicht elend sein, mein Vater.
Cromwell Sie lassen mich aber nicht entkommen, sie greifen mich und richten mich hin, für Karls des Ersten Mord, werden sie sagen, und so sterbe ich gern.
Elisabeth Gern? Und ich? Soll dann allein bleiben, frei und ledig und betteln gehen?
Cromwell Es geschieht ein Wunder, Elisabeth, das tilgt uns beide im gleichen Augenblicke von der Erde.
Elisabeth Aber wenn Gott das Wunder uns versagte! Wenn sie dich weggeführt hätten, und ich wüßte nicht, wohin! Wenn ich nicht wüßte, ob du lebst, oder tot bist! O, ich müßte zu dir dringen, ich müßte dich sehen, im Gefängnisse, und könnte ich dir auch nicht helfen!
Cromwell Drüben, drüben siehest du mich dann! Im Tode. Vor Gott.
Elisabeth Auch du, auch du müßtest mich sehen, mich sprechen, auch wenn du mir nichts mehr zu sagen hättest. Vor dem Tode. Das ist so ein bitterer Augenblick. Da ist der verstockte Sünder – ein Sterbender! Und der Streiter Gottes ist auch nur ein Sterbender. So haben sich niemals ein Vater und eine Tochter gesehen; werden sich so nicht wiedersehen. Da drüben, da ist wieder Licht und Klarheit, Helle, die uns blendet, – das sind wir ja nicht mehr, die wir uns hier geliebt haben. Wir müssen uns vor dem Tode sehen, oder ich sterbe nimmer ruhig, und das ist entsetzlich, und das gönnest du auch dem Frevler nicht, in Qualen ruhlos zu sterben.
Cromwell (sie unterbrechend) War es das, was dir die Königin noch weiter ans Herz gelegt?
Elisabeth Nein, nein, die hat seine Errettung, und Hilfe und Pflege von mir erbeten, das ich alles nicht gewährte, vermöchte ich's auch. – Aber er, der König Karl, als er gesagt, er sterbe ruhig, und ich gehen wollte, da fiel er plötzlich zur Erde nieder, und suchte nach meiner Hand, und hielt mich an den Falten des Kleides fest, und jammerte und schrie: »Meine Kinder, ich will sie noch einmal sehen, sterbe nicht ohne das, kann nicht von hinnen« – da riß ich mich los – und darum bebte ich, als ich vorhin zu dir sprach.
Cromwell Weinte er? – – Gott hat ihn gerichtet, nicht ich. Aber seine Kinder bringe zu ihm, sorge, daß es geschieht.
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Das Lager [bei Bunzelwitz, 1761, wo Friedrich der starken Übermacht der vereinigten Russen und Österreicher gegenüberstand. Eine Katastrophe wurde nur durch den endlichen Abzug – nicht Angriff, wie hier Heinrich von Stein (wohl in Verwechslung mit Liegnitz) annimmt! – verhindert].
Wachtfeuer – schlafende Soldaten – Posten etwas entfernter – Blick über Höhen und weites Land in mattem Sternenlichte.
Friedrich kommt langsam einher, steht im Lichte des Feuers stille. Einige Soldaten regen sich: »Was will der Alte?«
Friedrich (drohend) Der Teufel holt euch, wenn ihr noch einmal mein Stroh vergeßt, daß ich auf der bloßen Erde im Zelte liege und nicht einschlafen kann! (Die Soldaten machen Miene, aufzustehen.) Haltet euch ruhig, Kerls, daß ihr mir die andern nicht weckt.
(Er tritt etwas zurück und setzt sich auf eine der mit der Fahne vorne an den Gewehren niedergesetzten Trommeln. Eine Gestalt richtet sich am Feuer auf.)
Ziethen (nähert sich dem starr vor sich hinblickenden Friedrich, der ihn endlich bemerkt)
Friedrich Was macht Er so spät noch auf, Ziethen?
Ziethen Auch Ihro Majestät suchen den Schlaf vergebens.
Friedrich Wer sagt Ihm, daß ich den Schlaf suche. Es gibt im Grunde nichts Alberneres als den Schlaf. Es verlohnt sich nicht zu leben, wenn man die Hälfte des Lebens den Toten gleicht.
Ziethen Ihro Majestät vergeben Ihrem alten Ziethen, wenn er Dero Philosophie in diesem Augenblicke für eine Ausflucht hält, die jeden anderen täuschen könnte, nur nicht Ihro Majestät treuen Diener. Unsere ganz und gar verzweifelte Lage –
Friedrich Was fällt Ihm ein, Ziethen! Das Wort bin ich in Seinem Munde nicht gewohnt!
Ziethen Majestät halten zu Gnaden: vermutlich die Sache selbst nicht. Die begegnet nur einmal.
Friedrich Ach was! Nach Kolin hatt' ich keine Soldaten mehr. Heute sieht Er intakte Truppen und ein unangreifbares Lager.
Ziethen Das in seiner Unangreifbarkeit die letzten Hilfsmittel von Dero Staaten aufzehrt. Kolin war die erste verlorene Schlacht; wir erfuhren erst, wie viele Hoffnungen und Aussichten wir noch hatten. – Wenn wir heute siegten –
Friedrich Ziethen, Ziethen, was macht Er! Weiß Er etwa nicht, daß die letzten Wochen aus mir einen alten Mann gemacht haben? Als ich vorhin »Kolin« sagte, so war es mir, als dächt' ich fünfzig Jahre zurück – das sind die Sorgen, die unaufhörlichen Evenements, die die Berechnung von Monaten über den Haufen werfen und nun in einer Nacht verlangen, sie wieder aufzubauen, und das immer wieder, immer wieder. Nach jedem Erfolg die Hoffnung auf Frieden, der mir nichts verbürgen soll, als meinen unangetasteten Besitz, will sagen meine Ehre – jedesmal vereitelt durch die Habgier der drei Weiber, die mir weder Ehre noch Leben gönnen – – seit wann lassen meine Generals mich ihnen etwas vorklagen, anstatt meinen Klagen den Grund zu benehmen!
Ziethen Ihro Majestät wollen den General einen Moment aus dem Auge lassen, so würde Dero treuer Diener vielleicht noch Tröstliches vorzubringen haben.
Friedrich Er überrascht mich immer mehr. Ist Er unter die Diplomaten gegangen, weil Er am Militär verzweifelt, und hat da auf eigene Hand etwas ausgemittelt? Ein neues Bündnis? Wie? Laß Er sich sagen: darauf trau' ich nun gar nicht mehr.
Ziethen (streng) Ich habe einen Verbündeten, der allewege hilft, und mit dem ich Ew. Majestät zusammenbringen möchte, und kostete es mein Leben. Er wohnt da oben, über den Sternen. Vor ihm sind Ew. Majestät unsägliche Mühen und Sorgen der letzten Jahre nichts, und daher auch unsere verzweifelte Lage ein eitler Anschein. Als ich Ew. Majestät so eben dasitzen sah und mir etwa dachte, was Ew. Majestät augenblicks bewegen möchte – da war es mir, als sähe ich Ihn, der ein weit größerer König ist als Dero Majestät, über Dero Sorgen lächeln. Er sorgt ja auch für Ew. Majestät und Ew. Majestät Tun und Unternehmen –
Friedrich Nein, Ziethen, da irrt Er sich. Es gibt kein Haupt über den Wolken, das für uns denkt. Das muß unser eigenes Hirn besorgen, so übel es ihm oft gerät.
Ziethen Da hör' ich nun – Ew. Majestät halten zu Gnaden – Dero Freunde, die verfluchten Franzosen-Kerls. Das ist meines allergnädigsten Königs wahre Meinung nicht. Das sollte in Dero christgläubigen Landen nicht ausgesprochen werden dürfen.
Friedrich Nun kommen die Franzosen daran. Gönn Er mir die, da die deutschen Fäuste mir nicht helfen und die deutschen Schriftsteller mich langweilen.
Ziethen (tief traurig) So hat der deutsche Husarengeneral auch nichts weiter vorzubringen und muß nun doch Ew. Majestät Ihrem eigenen Nachsinnen überlassen.
Friedrich Wenn Er brummen will, Ziethen, so geh Er nur immer Seiner Wege. Ich schätze Seinen Glauben, das weiß Er. Nur versuche Er einmal, auch den meinigen zu verstehen. Komm Er, wir wollen das besprechen, wenn es Ihm recht ist. – Nehm Er sich ein paar Scheit Holz – die Kerls brauchen nicht alles in einer Nacht zu verbrennen, und mach Er sich einen Sitz zurecht ... Seh Er, Ziethen: Irgend etwas der Art habe ich auch immer wieder versucht zu glauben. Aber – wie soll ich Ihm das deutlich machen – ich habe es nie über den Wolken gesucht, und überhaupt nicht draußen, außer meiner Haut, in dem, was mich von außen her betrifft – da hab' ich's nicht gefunden. Das weiß Er ganz gut. daß ich die Nichtswürdigen verachte, die gar keinen Glauben haben. Ich bin darauf gekommen, daß ein honetter Mensch zu so einem Gefühl von sich und seinem Schicksal gelangt, welches er dann Glauben nennt. Worauf dies Gefühl aber in der Tat beruht, das kann Er mir so wenig sagen wie ich Ihm.
Ziethen Den Glauben, den Ew. Majestät da beschreiben, haben die Heiden auch. Unsere Kirche lehrt, daß Gott unser gütiger Vater ist und für uns sorgt: das weiß der Christ, und Ew. Majestät könnten es wissen, wenn Sie nur wollen.
Friedrich Ziethen, seh Er sich einmal um: was sieht Er da? Die Werke eines gütigen Gottes? – (Da Ziethen den Blick immer fest auf den König gerichtet hält:) Vor sich, mein lieber Ziethen, sieht Er einen vorzeitigen Greis, der seine Jugend seinem Vater und sein Mannesalter dem Staate aufgeopfert hat, und, weil kein Mensch das Wünschen je verlernt, etwa noch einige Abendstunden für sich behalten möchte. Doch der gütige Vater da oben versagt ihm den Wunsch.
Ziethen Nein, Ew. Majestät, ich sehe etwas anderes vor mir, ich sehe den großen König vor mir, der in allen Preußenherzen ein ewiges Beispiel bleibt, wenn er längst nicht mehr um ein paar Jahre seines Erdenlebens mit dem Schöpfer hadert. – Das seh' ich vor mir mit meinen alten Augen.Diese Worte rufen uns, fast wörtlich, das Gespräch im Palazzo Colonna ins Gedächtnis zurück (S. 62 ff.). L.
Friedrich Meint Er, meint Er, Ziethen – – es wird etwas von mir bleiben, sagt Er? – Ja, Geduld – das werden sie von mir lernen können, wenn sie künftig sich an mich erinnern. Geduld. Nichts weiter. Kein Warten irgend worauf, kein Streben irgend wohin. Das war vordem. Wenn die Zeit um ist, sieht man, daß man vergeblich gewartet hat; und, was das Streben anbetrifft, daß man sich in Ziel und Wegen irrte.
Wozu denn aber Geduld haben, fragt Er? – Nun, das frag' ich Ihn. Weiß Er das, hat Ihm das Sein gütiger Gott erschlossen?
Ziethen Das hat mir mein gütiger Gott hienieden verhüllt; er verhüllt sich hier, um sich dereinst zu offenbaren.
Friedrich Er verhüllt sich? Nein! sag' ich Ihm. Es liegt ja alles offen zutage. Deutlich, mit Millionen eherner Zungen spricht uns die Natur der Dinge an. Nein! Wenn uns ein himmlischer Zauberer etwas vorspiegelte, wie Er meint, dann könnten wir dies klare Auge für die Dinge nicht haben, dann hätte er vor allem unser Auge verschleiert, dann hätte er uns ein Bewußtsein gegeben, weiß Er, wie zwischen Schlafen und Wachen, wo wir nicht wissen, was wir sehen. Ach, es ist nicht an dem, Ziethen. Wir sehen unerbittlich klar! Und das ist das Große an unserem Geschick. Gerade das gibt uns Geduld.
Ziethen Ew. Majestät wollen mit Dero hohem Verstand den meistern, der über alle Vernunft ist. Die Rechnung kann nicht aufgehen. Wollen Ew. Majestät den Ansatz prüfen: da steckt der Fehler. Gott will allerdings solche Fügsamkeit, wie ein Kind sie beim Einschlafen hat, wo es nicht mehr weiß, was es sieht: dann fühlt und weiß man Ihn.
Friedrich Ja, ja, da hat Er in Seiner Art recht – das Gefühl kenn' ich – – aber, sieht Er wohl, dann ist ja Sein Gott eben nicht das sinnende Haupt, das für uns denkt – sonst brächten die Gedanken uns ihm nahe – aber der Boden, das Schlummernde, da zu unseren Füßen, dem wir gleichen, wenn wir auf ihm – in ihm ruhn. (Er ist in Bewegung und Ergriffenheit aufgestanden und wendet seine Blick« nach dem nächsten Wachtfeuer.) Seh Er, die Leute wollt' ich glücklich machen. Was erring' ich ihnen? Da, eine Stunde Schlaf hinter ein paar Schanzen, die sie für kurze Zeit vor dem Feinde sichern.
Und ich bin schuld an ihrem namenlosen Unglück. Ich.
Ziethen Ew. Majestät sind schuld, daß Dero Untertanen tausendmal sterben und tausendmal wieder aufleben möchten für ihren König, weil sie ihn aus treuester Seele lieben.
Friedrich Da liegt es, das Rätsel!! Das hält uns am Leben fest, ohne daß wir sagen können, warum. Geh Er mit seinen Reden von einem verborgenen Gott – Vorsehung – Güte! – Wenn so ein Kerl mir sagen kann, warum er mich liebt, so weiß ich mehr als alle Seine Pfaffen.
He, du da! – – (Er lauscht.)
Ziethen, hört Er – das war ein Widerhall – ein Kommandoruf – da! – Rollende Räder! ...
Gerettet! Viktoria, sie greifen an! – Besorg Er uns die Pferde, Ziethen! – (Leiser als vorhin, mit veränderter Stimme.) He, du da! He, ihr Kerls! Aufgestanden! Euer König muß Wache stehen, sonst brächen die Feinde im Schlafe euch das Genick. (Zu einem Meldenden, der herantritt.) Ja wohl, ja wohl, hab' es schon gehört. – Die Herren Kommandeure! –
(Ein Reitknecht bringt des Königs Pferd. Ziethen und die Generale. In den dunklen Zwischenräumen zwischen den Wachtfeuern treten die Kompagnien zusammen. Der König reitet schweigend, stark auf die Soldaten starrend, zwischen den dicht an ihn gedrängten Generalen durch die Nacht.)