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Wer kennt heute noch Heinrich von Stein? Dieser liebenswerte und bedeutende Ästhetiker und Dichter ist ganz in der Stille dahingegangen. Sein Leben ist Bruchstück geblieben. Das Wenige, obschon Gute, was von seinen Freunden und Schülern über ihn erschienen ist, hat ihn nicht bekannt gemacht; und seine eigenen Bücher sind nicht für größere Kreise bestimmt.
Und doch – man wird uns danken, wenn man die gehaltvollen Worte, die ich hier aus ihm herausheben will, kennen gelernt und nachempfunden hat. Stein bedeutet die theoretische Verbindung zwischen Bayreuth und Weimar. Das beste Werkchen des früh verstorbenen Wagner-Jüngers ist eine Ästhetik der Klassiker, worin er Schillers und Goethes Sonderart und geistiges Verhältnis mit feinstem Verständnis gewürdigt hat.
Doch zuvor einen Blick auf zwei andere Charakterköpfe aus dem Kreise Richard Wagners!
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Gobineaus geistvolles und liebenswürdiges Aristokratengesicht, mit dem weißen Spitzbärtchen und der bedeutenden Stirnbildung, taucht vor uns auf. Wir sind auf einem Unterhaltungsabend der Diplomatie oder der Gräfin La Tour. Der lebhafte Mann von vielseitigen Interessen, der alles unter große Gesichtspunkte zu bringen weiß, fesselt uns sofort. Er ist befreundet mit Dom Pedro von Brasilien und weiß in Persien und Hellas oder Rom Bescheid. Wir fühlen es: hier ist mehr als Literatur.
Ja, es sind große Wesensunterschiede zwischen diesem vornehmen »Dilettanten« und der modern-französischen Literatur. Der Dichter der bedeutenden Szenen »Die Renaissance«, die mit Savonarola einsetzen und mit Michelangelo enden, hat keine Geistesverwandtschaft mit seinen dramatischen Altersgenossen. Weder in den Formen noch im Wesen. Scribe hatte das Klischee geschaffen für das moderne Konversations- und Gesellschaftsstück. Der ernstere Augier, dann Dumas, der Verfasser der sentimentalen »Kameliendame«, und der Theatraliker Sardou bauten diese Gattung weiter aus. Dazu die Possenverfasser Labiche, Meilhac, Halévy – sie kennzeichnen den französischen Gesellschaftsgeist der mittleren und späteren Jahrzehnte.
Ganz anders Gobineau. Joseph Arthur Graf von Gobineau ist geboren am 14. Juli 1816 zu Ville d'Avray. Sein Lebensgang hat ihn – fein genug – in weitestem Bogen um die Eigenart des Pariser Geistes herumgeführt. Gobineau war ein Weltwanderer und Arier, kein spezifischer Franzose.
Zuerst für die militärische Laufbahn bestimmt, rang er seinem Vater die Erlaubnis ab, sich einem mehr geistig gerichteten Leben widmen zu dürfen. Um aber nicht die Fühlung mit der Gesellschaft zu verlieren, trat er, was seinem Stande noch am meisten entsprach, in die diplomatische Laufbahn ein. In der Schweiz erzogen, früh mit deutscher Bildung vertraut, studierte der Abkömmling eines nordischen Geschlechts zu Paris in angestrengter Stille. Das Ergebnis dieser Studien wurde sein Hauptwerk: das inzwischen berühmt gewordene vierbändige Werk über die »Ungleichheit der menschlichen Rassen« ( Essay sur l'inégalité des races humaines, Paris 1853; deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, Stuttgart, Fr. Frommanns Verlag).
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Völkerpsychologie und den Werken Gobineaus überhaupt näherzutreten. Nur sofern er Steins Gedankenwelt streift, ist er uns hier wichtig. Und da sei bei seinem Rassenwerk nur wieder auf den Grundgedanken hingewiesen: er ließe sich etwa bezeichnen als heroischer Pessimismus. Das Werk erschien zu Beginn des Kaiserreiches; Zola hat in seinem Rougon-Macquart-Zyklus bitterste Abrechnung gehalten mit dieser bedenklichen Epoche, die 1870 äußerlich zusammenbrach, ohne daß aber der französische Geist eine Erneuerung erfahren hätte.
Man vergleiche nun aber den malenden Pessimismus des Verfassers von l'Assomoir mit dem schöpferischen Pessimismus des Dichters der »Renaissance«! Ich teile unten das Gespräch mit zwischen Michelangelo und Vittoria Colonna; das war die Schlußanschauung von Gobineau. Ablehnend urteilte er über den modischen Fortschrittswahn, wie wir gleich sehen werden; er glaubte an keinen »absoluten Fortschritt«, sondern nur an »Verrückung«, sogar an Herabstieg. Wir gewinnen zwar Neues, verlieren aber Altes; gewinnen wieder Altes und verlieren dafür Neues: weil unsere Spannkraft zu gering ist. Gobineau erkannte unsere Beschränkung. Er empfand die Enge dieses Planeten; und so führt sein Rassenwerk mit Naturnotwendigkeit theoretisch zur Sprengung der irdischen Enge, zur Metaphysik. Ethisch aber führt er zur strengsten Hochachtung des kulturschaffenden Geistes und des sittlichen Willens.
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Eine Hauptstelle aus Gobineaus großzügigen Betrachtungen (deutsche Ausgabe S. 208) soll uns seine Vortragsweise veranschaulichen.
»Der Gedanke der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit besticht die Modernen sehr, und sie stützen sich auf die Beobachtung, daß unsere Art Zivilisation Vorteile und Vorzüge besitzt, welche unsere anders gebildeten Vorgänger nicht hatten. Da werden denn alle die Dinge angeführt, die unsere Gesellschaften auszeichnen. Ich habe bereits hierüber geredet, will mich aber gerne dazu verstehen, sie nochmals aufzuzählen. Man versichert also, daß wir über alles, was ins Gebiet der Wissenschaft gehört, richtigere Ansichten haben; daß unsere Sitten im allgemeinen milde und unsere Moral der der Griechen und Römer vorzuziehen sei. Wir sollen ferner im Punkte der politischen Freiheit Gedanken und Empfindungen, Ansichten und Überzeugungen, sollen Eingebungen von Toleranz haben, welche mehr als alles andere unsere Überlegenheit beweisen. Es fehlt nicht an hoffnungsreichen Theoretikern, die da behaupten, daß die folgerichtige Fortentwickelung unserer Einrichtungen uns geradeswegs in jenen Garten der Hesperiden führen müsse, der so viel gesucht und so wenig gefunden worden, seit die ältesten Seefahrer festgestellt haben, daß er auf den Kanarischen Inseln nicht vorhanden war.
»Eine etwas ernstlichere Prüfung der Geschichte richtet diese hochfahrenden Ansprüche.
»Wir sind allerdings gelehrter als die Alten. Das kommt, weil wir uns ihre Entdeckungen zunutze gemacht haben. Wenn wir mehr Kenntnisse besitzen, so ist das einzig, weil wir ihre Fortsetzer, ihre Schüler und Erben sind. Folgt daraus, daß die Entdeckung der Dampfkraft und die Lösung einiger Probleme der Mechanik uns zur Allwissenheit führen? Allerhöchstens werden uns diese Erfolge dahin bringen, in alle Geheimnisse der Körperwelt einzudringen. Wenn wir diese Eroberung vollbracht haben werden, für die noch gar viel, viel zu tun ist, was wir noch gar nicht einmal angefangen haben noch auch nur ahnen, sind wir dann um einen einzigen Schritt über die reine, einfache Feststellung der Naturgesetze hinaus? Wir haben alsdann, ich gebe das zu, unsere Kräfte stark vermehrt und können dementsprechend auf die Natur zurückwirken und sie unseren Bedürfnissen gefügig machen. Wir haben auch die Erde über und über durchquert oder die Fahrt endgültig als unausführbar erkannt. Wir haben gelernt, in den Lüften zu steuern, und dadurch, daß wir uns den Grenzen der atembaren Luft auf einige tausend Meter nähern, gewisse astronomische oder sonstige Probleme entdeckt und aufgehellt; aber nichts weiter. Alles dies führt uns nicht zum Unendlichen. Und hätten wir alle Planetensysteme gezählt, die sich im Räume bewegen, wären wir dann diesem Unendlichen näher? Haben wir in betreff der großen Mysterien irgend etwas gelernt, das die Alten nicht gewußt hätten? Wir haben, scheint mir, die vor uns im Gebrauch gewesenen Methoden, das Geheimnis zu umkreisen, geändert, aber nicht einen Schritt weiter in sein Dunkel hinein getan.
»Und dann, lassen wir einmal gelten, daß wir über gewisse Tatsachen besser aufgeklärt sind, wie viele Kenntnisse haben wir anderseits verloren, die unseren fernsten Vorfahren vertraut waren! Ist es zweifelhaft, daß man zur Zeit Abrahams von der Urgeschichte weit mehr wußte, als uns davon bekannt ist? Wie viele von uns mit großer Mühe oder zufällig entdeckte Dinge sind schließlich nur Kenntnisse, die verloren gegangen waren und wieder aufgefunden wurden! Und wie weit sind wir in vielen Punkten hinter dem zurück, was man vordem gewesen! Was könnte man, wie ich schon oben bei einem anderen Gegenstande bemerkte, ja, was könnte man, wenn man unter unseren glänzendsten Arbeiten eine Auslese vornähme, jenen Wundern vergleichen, die Ägypten, Indien, Griechenland, Amerika uns noch aufweisen, und damit die grenzenlose Pracht so vieler anderer Gebäude bezeugen, welche der lastende Druck der Jahrhunderte, und weit mehr noch die törichten Verwüstungen des Menschen haben verschwinden lassen! Was sind unsere Künste neben denen Athens? Was unsere Denker neben denen Alexandriens und Indiens? Was unsere Dichter neben einem Kalidasa, Homer und Pindar?
»Kurz, wir fassen die Dinge nur anders an. Wir richten unseren Geist auf andere Ziele, andere Forschungen als die übrigen zivilisierten Gruppen der Menschheit; aber indem wir das Terrain wechselten, haben wir die Ländereien, welche jene bereits angebaut, nicht in ihrer ganzen Fruchtbarkeit zu erhalten vermocht. So hat also auf der einen Seite ein Preisgeben zu eben der Zeit stattgefunden, wo auf der anderen eine Eroberung stattfand. Es war dies ein leidiger Ersatz: weit entfernt, einen Fortschritt zu bekunden, bezeichnet er vielmehr nur eine Verrückung. Hätte hier ein wirklicher Erwerb vorliegen sollen, so hätte es uns gelingen müssen, zum mindesten die Hauptreichtümer der früheren Gesellschaften völlig unversehrt zu bewahren und sodann neben ihren Arbeiten gewisse große Errungenschaften aufzubauen, denen sie und wir gleichermaßen nachgegangen. Dann hätten unsere Wissenschaften und Künste, auf ihre Künste und Wissenschaften gelehnt, irgendeine tiefe neue Wahrheit über Leben und Tod, über die Bildung der Wesen, die Urelemente der Welt finden müssen. Nun hat aber die moderne Wissenschaft in allen diesen Fragen jene Lichtschimmer nicht mehr, die, wie wir anzunehmen allen Grund haben, mit der Morgenröte der ältesten Zeiten hereinbrachen, und aus eigener Erfindung und eigener Kraft hat sie es noch nicht weiter gebracht als zu dem demütigenden Geständnisse: ›Ich suche und finde nicht.‹ Es gibt also keine wirklichen Fortschritte in den geistigen Eroberungen des Menschen. Einzig unsere Kritik ist unbestreitbar besser als die unserer Vorgänger. Das ist ein wichtiger Punkt; aber Kritik besagt Einteilung und nicht Erwerbung.
»Alle uns vorausgegangenen Zivilisationen haben, gleich uns, vermeint, sich mit ihren unvergeßlichen Entdeckungen an den Felsen der Zeit festgeklammert zu haben. Alle haben an ihre Unsterblichkeit geglaubt. Die Familien der Inkas, deren Palankine mit reißender Schnelligkeit die wundervollen, 500 Meilen langen Chausseen durcheilten, welche noch heute Cuzco mit Quito verbinden, waren sicherlich von der ewigen Dauer ihrer Errungenschaften durchdrungen. Mit einem Flügelschlage hat die Zeit ihr Reich zu so vielen anderen in den tiefsten Abgrund des Nichts hinabgestürzt. Auch sie, diese Herrscher Perus, hatten ihre Wissenschaften, ihr Maschinenwesen, ihre gewaltigen Triebwerke, deren Arbeiten wir mit Staunen bewundern, ohne ihr Geheimnis erraten zu können. Auch sie kannten das Geheimnis, ungeheure Massen zu transportieren. Sie bauten Festungen, bei denen Steinblöcke von 28 Fuß Länge und 18 Fuß Breite aufeinandergeschichtet wurden. Die Ruinen von Tiahuanaco zeigen uns ein solches Schauspiel, und diese ungeheuerlichen Materialien waren mehrere Meilen weit herbeigeschafft worden. Wissen wir, wie die Ingenieure dieses verschwundenen Volkes es anfingen, um ein solches Problem zu lösen? Wir wissen es so wenig, als wir die beim Bau der gigantischen zyklopischen Mauern verwandten Mittel kennen, deren Trümmer noch an so vielen Punkten Südeuropas dem Andrang der Zeit Widerstand leisten.
»Verwechseln wir also nicht die Ergebnisse einer Zivilisation mit ihren Ursachen. Die Ursachen gehen verloren, die Ergebnisse geraten in Vergessenheit, wenn der Geist verschwindet, der sie hatte erblühen lassen, oder wenn sie fortleben, so ist es dank einem neuen Geiste, der sich ihrer bemächtigt und ihnen oft eine von der ursprünglichen verschiedene Bedeutung gibt. Die menschliche Erkenntnis flackert beständig hin und her, eilt von einem Punkte zum andern, besitzt keine Allgegenwart, übertreibt den Wert dessen, was sie innehat, vergißt, was sie fahren läßt; festgekettet in dem Kreise, aus dem nie herauszukommen sie verurteilt ist, bringt sie es nur dadurch zur Ertragsfähigkeit des einen Teiles ihrer Gebiete, daß sie den anderen brach liegen läßt, und steht so immer zugleich höher und tiefer als ihre Vorfahren. Die Menschheit übertrifft sich also nie selbst; die Menschheit ist also nicht ins Unendliche vervollkommnungsfähig.«
Indische Weisheit würde diesem Gedankengang beistimmen. Sie würde aber noch viel weiter gehen. Auch sie nimmt an, daß wir uns jetzt in einem »Kali Yuga«, in einem »schwarzen Zeitalter« befinden. Ihre Seher aber, die in der Akasha-Chronik zu lesen vermögen, und ihre überlieferten Schriften wissen zu sagen, daß die Erde und ihre Menschheit sich nach den Jahrtausenden des Herabstiegs wieder in aufsteigendem Bogen, den Ring schließend, dem Urlicht nähern werde. Und mit diesem Urlicht bleiben die Besten unter uns fortwährend in Fühlung, ja, aus seinem Feuer sind selbst im Unscheinbarsten Funken verteilt. Aber alle diese kosmischen oder planetarischen Phantasien – wie sie z. B. in den zwei Riesenbänden der Frau Blavatsky zu schwindelnder Höhe gehäuft sind – haben nur praktischen Wert, wenn sie als Aufrüttelungen unserer philiströsen Anschauungsenge dienen; wenn sie Horizonte öffnen, damit der Geist nicht in kleinen Nützlichkeiten, nicht im Alles-beweisen-wollen ersticke. Von dieser sehr wichtigen Seite betrachte man Gobineaus Erweiterungen unserer Sehweise.
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Als Diplomat in auswärtigen Diensten, hielt sich der Graf immer in weiten Horizonten, wobei besonders Persien schöne Anregungen gab. Er weilte in Bern, Hannover, Frankfurt, Persien, Athen, Rio de Janeiro, Stockholm.
»Das Jahr 1877« – so erzählt der unermüdlich für Gobineau wirkende Schemann in der Einleitung zu den »Asiatischen Novellen« (Reclam) – »brachte den Abschluß seiner amtlichen Laufbahn, nicht ohne daß bittere Kränkungen vorhergegangen wären, mit welcher der damalige Leiter des auswärtigen Amtes in Frankreich, der Herzog Decazes, den hohen Sinn dieses echten Weltweisen zu guter Letzt noch fast überschwer auf die Probe stellte. Da ihm von jetzt ab jede weitere politische Tätigkeit widerstrebte, so nahm Gobineau nach kurzem Aufenthalt in Frankreich behufs Ordnung seiner Angelegenheiten seinen dauernden Aufenthalt in Rom. Leider zwangen ihn seine zurückgegangenen Vermögensverhältnisse, sich von seinem Schlosse Trye zu trennen und gegen das frühere vollere Leben mancherlei Entbehrungen über sich ergehen zu lassen: als schwerste die, daß er nicht mehr mit vollen Händen geben konnte, da er selbst, wie er von sich sagte, durch seine Bedürfnislosigkeit wohl zum Derwisch getaugt haben würde. Aber auch seine Gesundheit hatte schwer, ja unheilbar gelitten – eine Erkenntnis, die sich dem nun Heimatlosen eben zu einer Zeit aufdrängte, da er, seinen äußeren Lebensverhältnissen nach, völlig frei geworden, sich mit jugendfrischem Mute auf eine neue, wahre Überfülle wissenschaftlicher und dichterischer Projekte werfen wollte. Ein Augenübel vor allem zwang ihn, das größte derselben, die Übersetzung des Kusch-Nameh, eines im Okzident fast unbekannten Heldengedichtes der Perser, aufzugeben. Aber dichterisch blieb er unermüdlich tätig, und fast rastloser noch sah man ihn in seinem Atelier als Bildhauer bei der Arbeit.«
Es ist eine feine Fügung, daß der Vereinsamte gerade in dieser Zeit Richard Wagner kennen lernte, das stärkste Schöpfergenie der Zeit. Sie faßten schnell eine glühende Bewunderung und Freundschaft füreinander; beide Künstlernaturen und Weltweise waren auf großen Stil zugeschnitten. Es folgten Besuche in Bayreuth – Frühjahr 1881 und 1882 – ungefähr in der Zeit, als Heinrich von Stein dort Hauslehrer war. Aber Gobineaus Kraft war gebrochen. Am 13. Oktober 1882, also ein halbes Jahr etwa vor Wagner, starb er auf einer Reise, in fremder Umgebung mutterseelenallein, zu Turin – in derselben Stadt, wo wenige Jahre später Nietzsches unheilbarer Wahnsinn ausbrach.
»Gobineau war als Mensch ausgezeichnet durch seltene Eigenschaften des Geistes und Herzens: Großsinnigkeit und Edelmut, tadellose Lauterkeit, funkelnden Witz, Jovialität und unerschöpflich heitere Laune; eine fast beispiellos zu nennende Beweglichkeit und Vielseitigkeit bei tiefster Durchdringung der heterogensten Gegenstände; endlich bei einem so seltenen Genie wahrhaft rührende Anspruchslosigkeit, Kindlichkeit und Herzensgüte« (Schemann).
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Die Literatur des 19. Jahrhunderts hat nicht die Fähigkeit besessen, solche Erscheinungen als Ganzes zu umfassen. Gobineau ist in Frankreich nicht mitgezählt worden.
In Deutschland hat Richard Wagner durch die »Bayreuther Blätter« auf seine bedeutende Lebensanschauung aufmerksam gemacht. Und in den Bayreuther Blättern war es bezeichnenderweise Heinrich von Stein, der Gobineaus dramatische Bilder »Renaissance« zuerst ausführlich besprochen hat – Stein, der 1880 Hauslehrer in Villa Wahnfried war und den Grafen persönlich gekannt hat.Hans von Wolzogen schreibt mir darüber: »Soviel ich erforschen kann, steht nur fest, daß Stein mit Gobineau bei den Berliner Aufführungen des ›Ringes‹ (durch Angelo Neumann im Viktoriatheater) im Mai 1881 zusammengewesen ist. Chamberlain irrt, wenn er meint, sie seien in Italien (Neapel) bei Wagner gleichzeitig Gäste gewesen. Es könnte höchstens sein, daß Stein auf der Durchreise in Rom 1880 schon Gobineau gesehen hätte. In Bayreuth trafen sie nicht zusammen.« – Dies nur nebenbei. Die geistige Verwandtschaft der beiden dichterischen Denker und Forscher ist das Wesentliche, auch wenn sie sich nie persönlich berührt hätten.
Zur Kennzeichnung des Geistes, der Gobineau mit Bayreuth verband, stehe hier (auszugsweise) das berühmte Schlußgespräch zwischen Michelangelo und Vittoria Colonna. Das wird uns sogleich in die Atmosphäre führen, in der jene Menschen geatmet haben. Und wir werden hier zugleich die Quelle erkennen, aus der Heinrich von Stein, als Dichter dramatischer Skizzen, Anregungen für seine eigene Stilart geschöpft hat.
Ein Saal im Palazzo Colonna
Donna Vittoria, Marchesa von Pescara, schwarz gekleidet, liest an einem kleinen Tisch von Ebenholz, auf welchem eine silberne Lampe steht. Zwei Ehrendamen und eine Hofmeisterin in großen Hauben sind im Hintergrunde mit Handarbeit beschäftigt. Das Feuer ist im Kamin angezündet, und die Scheiter knistern laut in der Flamme. – Ein diensttuender Edelmann tritt auf.
Der Edelmann Herrin, der Herr Michelangelo kommt in diesem Augenblick die Treppe herauf.
Die Marchesa Es ist gut, leuchtet ihm! (Sie erhebt sich und wendet sich Michelangelo entgegen; dieser erscheint oben im Flur, vor ihm her gehen Edelknaben in der Diensttracht des Hauses Avalos mit Fackeln.) Guten Abend, mein Freund, wie befindet Ihr Euch an diesem etwas kalten Abend?
Michelangelo Ich küsse Eurer Exzellenz die Hand. Ich befinde mich besser, als ein Greis erwarten dürfte.
Marchesa Ihr seid hoffentlich nicht allein gekommen?
Michelangelo Nein. Seitdem Ihr mir verboten habt, nach Belieben und ohne Gefährten auszugehen, tue ich es nicht mehr. Antonio hat mir mit seiner Laterne bis an das Tor des Palastes geleuchtet, und da habe ich Eure Leute gefunden, die mich wie einen großen Herrn behandelt haben.
Marchesa Kommt, setzt Euch, da neben den Kamin. Hier ... in diesen Lehnstuhl ... Katharina, keinen Schritt; ich will Michelangelo bedienen ... Schön! Haltet Eure Füße näher ans Feuer.
Michelangelo (hat sich gesetzt) Ich lasse Euch gewähren, Frau Marchesa, ich lasse Euch gewähren ... Ein Herz wie das Eure steht auf dem Gipfel der Größe, und dieser Gipfel ist die Güte.
Marchesa (lächelnd) Was Ihr sagt, würde wahr sein, wenn es sich darum handelte, sich den Armen nützlich zu erweisen und, wie unser göttlicher Erlöser, Bettlern die staubigen Füße zu waschen. Aber Michelangelo bedienen? Das heißt nicht sich sonderlich erniedrigen.
Michelangelo Tut Eure Augen auf, Marchesa: was seht Ihr? Ein Wesen, durch die Jahre gebeugt, über das alle Schwächen des Alters hereingebrochen sind, das nicht ohne Mühe seine abgezehrten, zitternden Finger nach der wärmenden Flamme ausstreckt ... Was seht Ihr weiter? Spärliches Haar, weißes Haar auf einer Stirn, die des Elfenbeins Farbe annimmt, welke und eingefallene Wangen ... Ihr seht eine Ruine, Marchesa.
Marchesa Mir scheint, ich sehe neben mir, mir gegenwärtig, in dem Kreise, den meine Blicke beherrschen, einen jener Sterne, die Dante in so kleiner Zahl bis in die auserlesene Sphäre aufsteigen läßt. Ihr seid nicht alt, Michelangelo; Ihr lebt und werdet immer leben, wie jener reinste, taten- und wirkungsreichste Teil der menschlichen Geisteswesen, die Führerschaft der Welt, nie aufhören wird, zu sein.
Michelangelo Ich werde die Erde bald verlassen, ja. Der Keim spaltet die Hülse, die ihn umschließt. Ich habe lange genug hienieden gelebt. Ich bitte meinen Herrn, seinen Knecht zurückzurufen.
Marchesa Ihr seid müde, zu leben?
Michelangelo Ich bin begierig darauf, im Gegenteil. Mich dürstet nach der vollen Freiheit meines Seins; mich hungert nach dem, was ich ahne; mich drängt es, das zu schauen, was ich begreife. Nein, nein, nicht der Tod ist es, was ich kommen fühle, es ist das Leben, das Leben, davon man hienieden nur den Schatten gewahren kann, und das ich bald ganz und gar besitzen werde.
Marchesa Ich denke wie Ihr. Wir sind zwei sehr verschiedene Wesen, mein Freund. Ihr seid Michelangelo; ich bin nur ein begreifendes Weib, genug begreifend, um den Abstand zu ermessen, der mein Mitfühlen von Eurem Tatendrange trennt. Ihr habt viel für die Welt getan. Und während Ihr den Ton Eurer Statuen zu kneten glaubtet, habt Ihr in der Tat der allgemeinen Erkenntnis neue Formen und Ausdrucksweisen vorgeschrieben. Ich, was habe ich getan? Ich habe viel geliebt den, der nicht mehr ist ... Ich habe Euch selbst viel geliebt, und das ist alles.
Michelangelo So habt Ihr also genau ebensoviel gewirkt als ich. Solange der Himmel uns Fernando d'Avalos, den unvergleichlichen Marchese von Pescara, Euren edlen Gatten, gelassen hat, habt Ihr ihn geliebt und seid in seiner Liebe so beglückt gewesen, als es einem Weibe gegeben ist, sich beglückt zu fühlen. Glaubt mir: es war das ein edles Tun, und die Tugenden, die sich durch die Wonneschauer solcher Liebe allmählich in Euch entwickelten, wurden zum Meisterwerke menschlichen Wertes.
Marchesa Ich habe darüber nachgedacht ... Ich begreife, seit ich allein geblieben bin, bis zu welchem Grade das Glück klein macht. Muß ich es gestehen? Vielleicht ist es das Bewußtsein von dieser Wahrheit, das den meisten Trost in meinen Schmerz gießt. Ich habe den, den ich liebte, nicht weniger geliebt, seit ich ihn nicht mehr besitze; aber Kummer und Einsamkeit haben mir Überwindungen eingegeben, die ich schöner gefunden habe als die leichten Verdienste, deren Bildern nachzuhängen mir so bequem war. Und gerade die Schwierigkeiten haben mich genötigt, meine Kräfte zu verdoppeln, und haben vielleicht das aus mir gemacht, was das wolkenlose Glück niemals zustande gebracht hätte.
Michelangelo Ob der Mensch einzig an sich arbeite oder, seine Tätigkeit ausbreitend, der toten Materie Leben einhauche, in beiden Fällen ist sein Werk dasselbe: er stellt seinesgleichen Beispiele hin. Man kann wahrheitsgemäß sagen, daß die tugendhaftesten Menschen Phidiasse sind, während die vollkommensten Künstler ebenso große Erzieher sind wie die Philosophen und Heiligen. Wenn es also mir an meinem Teile gelungen ist, in dieser Welt einiges Gute hervorzubringen, so weigert mir, Marchesa, den Ruhm nicht, mich mit Euch zu vergleichen. Und laßt mich hoffen, daß wir im Leben der Ewigkeit uns ebenbürtigen Fluges zu vollkommen gleichen Belohnungen werden emporschwingen dürfen.
Marchesa So sei es, Michelangelo. Und möge ich niemals von einem Wesen getrennt werden, das mich während so langer Jahre so viel große und ehrwürdige Wahrheiten hat betrachten lassen. Das ist die unermeßlichste Gunst, die ich vom Himmel erbitten könnte ...
Hier brechen wir dieses wundervolle Gespräch ab. Wir weisen nur noch auf den hier ausgesprochenen Gedanken hin, der auch den Lesern dieser Blätter vertraut ist. Sich selber zum Kunstwerk formen, ob auch im kleinsten Lebensbereich, ist eine dem schaffenden Künstlertum ebenbürtige Tat. Ein großer Künstler sagt uns das in diesem Gespräch. Er stellt sich bescheiden, fast bittend, neben ein »begreifend Weib«, die »nichts tat«, als die zwei wertvollsten Menschen ihres Bereiches von Herzen zu lieben und durch ihre achtungsvolle Liebe zu fördern – und sich mit ihnen.
So scheiden diese zwei Edelmenschen. Und als der Greis die breite Treppe des Palazzo hinuntergeht, dreht er sich noch einmal um, und sein Schlußwort lautet: »Euch, die ich so liebe, Euch segne ich aus meines Herzens Grunde.«
Diese zentrale Bedeutung der Kunst, als einer von innen her den Organismus durchdringenden Lebensmacht, stellen wir in die Mitte unserer Betrachtungen. In diesem Sinne ist der Bayreuther Kreis die Fortsetzung Weimars. Darin steht Bayreuth seit Goethes Tod als besonderes Kulturland in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Ich lege mich zwar auf kein Dogma fest. Hebbel, Keller, Storm, Mörike, Ludwig dachten nicht geringer von der Kunst; und wir möchten sie nicht missen. Ihr genaues Betrachten und Prägen ist sozusagen Prosa; in religiös-philosophischen Künstlernaturen wie Gobineau, Stein und Nietzsche ist etwas wie »unendliche Melodie«.
Heinrich von Stein lebte und webte im Empfindungskreise der Bayreuther Kunst. Das obige Gespräch zwischen Michelangelo und der Marchesa Colonna war einer reinen und hohen Natur wie der seinigen aus der Seele gesprochen. Und so war ihm sein Weg vorgezeichnet: Trennung von den materialistischen Anschauungen des Jahrhunderts, Anknüpfung an große Zeiten und große Menschen.
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Es ist lohnend, sich Steins verschollene Besprechung von Gobineaus »Renaissance« (Bayreuther Blätter, Januar 1881) hervorzuholen:
... »Daß die gewaltsame Zivilisation, welche uns umgibt, als eine herbe Nicht-Erfüllung gerade die vollsten und wärmsten Ansprüche unseres Gemütes einengt und oft gänzlich unterdrückt, das sagt uns eine Umfrage, kaum begonnen, nur allzuschnell. Die drangvolle Lebendigkeit ringsumher, ausgeprägt in jener unser Zeitalter gestaltenden Kunst der technischen Erfindung, welche, durch Kohlen und Eisen, den Fuß beflügelt und die Arme bewaffnet und stärkt, täuscht uns nicht mehr darüber, wie es um das Leben der Menschen dabei bestellt sei ...
»Der allgemeine Charakter der Renaissance ist der Umsturz und die Vernichtung des zwar selbst auf ursprüngliche Gewaltsamkeiten gegründeten, aber doch nun in sich zu einer gewissen Festigkeit, Abgeschlossenheit und teilweise schmuckvollen und reichen Erfreulichkeit gelangten Baues mittelalterlicher Kultur. Die Unbarmherzigkeit dieser Vernichtung steht nun im ersichtlich grausamsten und, am Ende jener Periode, auch in Wirklichkeit blutig furchtbaren Gegensätze gerade zu den besten Regungen künstlerischen Schaffens. In dem allgemeinen Zusammensturze jenes Baues sprießt die üppige Blume der bildenden Kunst auf, eine Stunde vor Abend, um im kalten Tau der hereinbrechenden Nacht schnell zu verwelken. Dem vergifteten Boden, welchen ringsum Trümmer bedecken, kann der kurze Anlauf ihrer Säfte keine volle, erfreuliche Frucht abgewinnen ...
»Eine diesen unseren Betrachtungen verwandte Antwort auf die Frage nach dem Charakter der Renaissance legt uns hier ein geistvoller und vornehmer Franzose in reicher Bilderfülle von Dialogen und Szenen vor. Die großen Namen der Zeit nehmen Gestalt an und treten als redende und handelnde Menschen uns vor die Augen. Wer hat nicht in seinen Träumen Raffael, umgeben von Gönnern und Schülern, zum Vatikan wandeln sehen, zur Werkstatt, durch die Straßen Roms, und wer verdankte nicht solchen Träumen die einzig ihm lieb gewordene Ahnung von der Geschichte jener Tage? Derlei bildsame Traumkraft nun nimmt hier, unter wohlgewandter schriftstellerischer Hand, leibhaftigere Formen an; und der Vereinigung eines sicheren historischen Bewußtseins mit warmer künstlerischer Empfindung verdanken wir diese unerschöpfliche Reihe stets gleich lebendiger Eindrücke.
»Wem es gelungen ist, beide, Raffael und Michelangelo, vor unseren Ohren sprechen zu lassen, ohne ein einziges Wal weder die historische Würde noch die individuelle Lebendigkeit durch den leisesten Schein des etwa bloß Erkünstelten zu stören – einen lauten, großsprecherischen Cellini, doch nicht hohl und anmaßend, und einen um seinen Erwerb häßlich geprellten Correggio dennoch, ohne Aufwand von Bitterkeit und Empfindung, ruhig überlegen darzustellen – und dem Tizian die Verteidigung einer schlechten Sache in den Mund zu legen, derart, daß man trotzdem den Meister Tizian sieht und hört; – einem solchen Künstler gegenüber darf man sich wohl der Lobsprüche für überhoben erachten. Denn der Künstler ist es, welcher in diesem Buche den Geschichtschreiber weit mehr als nur ersetzt ...
»Vor allem in dem Geschick des Größten unter ihnen, Michelangelos, steht der Inhalt des ganzen Zeitalters in einem erhabenen und unserem Dichter zugleich am vollkommensten gelungenen Bilde vor unseren Augen. An ihm und Machiavelli sind alle Ereignisse der Renaissance vorübergezogen. Sie haben beide Savonarola gekannt; Machiavelli hat dem Cesar Borgia gedient, Michelangelo war Julius' II. stolzester Diener; unter Leo X. sind sie sich begegnet; und in dem nun von den Fremden bedrohten Florenz begegnen sie sich zum letzten Male: da nun finden wir Machiavelli vom Hunger zernagt, verlassen und trostlos erbittert, jedoch Michelangelo völlig unberührt von all diesen Vergangenheiten; wenn jener zornig-höhnisch in die Rufe der exaltierten Menge einstimmt, so achtet vielmehr dieser die Menge nicht, aber er geht zu den Mauern, ordnet die Verteidigung und rettet die Stadt ... Wie nimmt in der ergreifenden Schlußszene des Buches (mit Vittoria Colonna) die Tragödie der Renaissance in ihrer vollen Würde und Größe Abschied von uns, wenn dem Greise die dienende Zartheit und geistige Schönheit einer Frau ein erstes Liebeswort als letzten Segensspruch entlockt! Nach dem Tode Raffaels wird Vittoria Colonna zum ersten Male erwähnt; sie hatte dem Michelangelo gesagt, daß er jenem ein Freund sein müsse, und diese Erinnerung treibt ihm die ersten bitteren Tränen in die Augen, als er nun von Raffaels plötzlichem Tode hört. Wie ein ruheloser Dämon hat er noch eben in später Nacht in seiner Werkstatt gemeißelt und geschafft, bei dem Licht einer sinnreich ergrübelten, auf dem eigenen Haupte befestigten Leuchte; die Nachricht von Raffaels Erkrankung schreckt ihn von der Arbeit auf, er muß ihn noch sehen, muß Abschied nehmen von ihm – auf der Straße Fackeln, Bewaffnete, eine Sänfte eilt vorbei: es ist der Papst, der bereits von dem Toten Abschied nahm. Da sinkt Michelangelo auf eine Marmorbank zur Seite nieder und beweint sein Geschick, daß es ihn keinen Freund finden ließ, daß es ihn keinen Menschen finden ließ ...
»Erst spät, jener Frau gegenüber, findet er zu seinen milder verklingenden Klagen auch ein leises Wort des Trostes: ›Ce qui va disparaître, ne disparaîtra pas tout entier.‹ In uns, uns allein, glühte ein ewiger Funke. Wir haben keine Flamme zu entzünden vermocht, aber der Funke glühet fort: was da nun vergehen muß, kann doch niemals gänzlich vergehen.«
Das sind geradezu prophetische Worte. Heinrich von Stein konnte diese letzten Sätze über sein eigenes kurzes Leben schreiben!
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Es liegt ein wundersam seiner Duft über Gobineaus Gesamtpersönlichkeit. Die Natur, vielleicht das keltische Element, das sich mit seinem etwaigen Normannentum mischte, gab ihm etwas, was sie Heinrich von Stein versagt hat, und was doch im Leben eines Einsamen eine sehr wesentliche Waffe ist: die Natur gab ihm zu allem sachlichen Lebensernst einen leisen Humor, eine anmutige Ironie. Man lese seinen ernsthaft-graziösen »Turkmenenkrieg« in den Asiatischen Novellen! Oder man beachte den eleganten und doch sachlichen, mit lächelnder Teilnahme über den Dingen stehenden Plauderton in »Trois ans en Asie« (Paris, Leroux, von Schemann neu herausgegeben)! Vor allem aber immer wieder bewundern wir sein sachliches und seelisches Einfühlungstalent in scheinbar ganz entlegene und doch, kraft des Geistes, herzlich nahe Zustände.
Darum gebührt ihm in diesen Blättern eine Ehrenstelle.
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Als der kranke Nietzsche aus der schroffen Bergeinsamkeit von Sils-Maria nach Menschen schrie, die seinem Geist gewachsen wären, schien ihm das Schicksal in Heinrich von Stein das Ideal eines Jüngers zuführen zu wollen.
Nur durch Austausch und Wechselbeziehungen läutern und fördern sich große Gedanken. Dumpfe Unempfänglichkeit tötet ihr Bestes; sie verkrüppeln oder werden verzerrt. Nietzsches heftiges Temperament erlag der letzteren Gefahr; die peinliche Stille reizte zu lauterem Reden und schärferem Zuspitzen, zum Herausfordern der Nation, zum Vorfordern Gottes: – und das wurde Nietzsches Tragödie. Der kranke Körper zerbrach und riß den Geist mit sich.
Im Herbst 1882 begannen die persönlichen Beziehungen zwischen Stein und Nietzsche. Beide waren unzeitgemäße Geister. Denn beide gingen von der vornehmsten Geisteswissenschaft aus: von Philosophie und Theologie. Das Jahrhundert aber ging rauhere Wege. Die naturalistische Großstadtliteratur setzte damals ein, jene Anklage- und Müdigkeitsliteratur einer um ihre Ideale betrogenen Gesellschaft, die in den Außendingen, in Kritik, Methode, Analyse alles Heil suchte und zunächst nur »fin de siècle« fand. Wer von Geschichte, Philosophie und Theologie kam, der konnte an diese radikal und hartnäckig durchgeführte Literatur der »exakten Naturwissenschaft« keine Anknüpfung finden.
Es gab damals nur einen großen Künstler und Denker in Deutschland, der die Welt als Idealist von ihrer geistigen Seite zu betrachten gestimmt war: das war Richard Wagner. In seinem Bereich bewegte sich alles, was dem alten Idealismus treu geblieben. Und in seinem geistigen Bann streiften sich auch Stein und Nietzsche, der den »Fall Wagner« noch nicht veröffentlicht hatte, aber schon irre war am Dichterkomponisten des »Parsifal«.
Heinrich von Stein hatte sich, nach einjähriger Tätigkeit in Villa Wahnfried, zu Halle als Privatdozent habilitiert. Bei einem Besuch in Leipzig traf er Nietzsche nicht zu Hause. Dieser sandte ihm als Gegenbesuch die Aushängebogen seiner »Fröhlichen Wissenschaft« und drückte ihm mit einigen Zeilen sein Bedauern über Steins verfehlten Besuch aus (Nietzsches gesammelte Briefe, herausgegeben von Frau Förster-Nietzsche und Kurt Wachsmuth. Berlin, Schuster & Löffler; III, S. 223 f.). Der Brief schloß mit den bezeichnenden Worten: »Man hat mir erzählt, daß Sie, mehr als jemand sonst vielleicht, sich Schopenhauer und Wagner mit Herz und Geist zugewendet haben. Dies ist etwas Unschätzbares, vorausgesetzt, daß es seine Zeit hat.«
Stein schickte als Antwort die Aushängebogen seines neuesten Werkes: die historisch-dramatischen Skizzen »Helden und Welt«. Nietzsches Antwort ist kennzeichnend:
»... Ja, Sie sind ein Dichter! Das empfinde ich: die Affekte, ihr Wechsel, nicht am wenigsten der szenische Apparat – das ist wirksam und glaubwürdig (worauf alles ankommt).
»Was die Sprache betrifft – nun, wir sprechen zusammen über die Sprache, wenn wir uns einmal sehen: das ist nichts für den Brief. Gewiß, lieber Herr Doktor, Sie lesen noch zu viel Bücher, namentlich deutsche Bücher! Wie kann man nur ein deutsches Buch lesen!
»Ah, Verzeihung! Ich tat es selber eben und habe Tränen dabei vergossen.
»Wagner sagte mir einmal, ich schreibe lateinisch und nicht deutsch: was einmal wahr ist und sodann – auch meinem Ohre wohlklingt. Ich kann nun einmal an allem deutschen Wesen nur einen Anteil haben und nicht mehr. Betrachten Sie meinen Namen: meine Vorfahren waren polnische Edelleute, noch die Mutter meines Großvaters war Polin. Nun, ich mache mir aus meinem Halbdeutschtum eine Tugend zurecht und nehme in Anspruch, mehr von der Kunst der Sprache zu verstehen, als es den Deutschen möglich ist ...«
Ohne das Nietzscheproblem anpacken zu wollen, darf man zu diesem ersten Brief, in dem sich Nietzsche sozusagen vorstellte, doch wohl den Kopf schütteln. Und wer Steins außerordentliche Sachlichkeit in Erwägung zieht, die eine Folge war seiner reinen Hingabe an seine Ideale, der fürchtet schon nach diesem ersten Briefe, daß Stein und Nietzsche keinen guten Akkord geben würden.
Der Schluß des Briefes verstärkt unsren Eindruck. Nietzsche deutet an, daß er den Standort der »Heldenverehrung« zu überwinden trachte, um auch das tragische Problem unter sich zu bekommen, obwohl ja der Held »die annehmbarste Form des Daseins sei, namentlich wenn man keine andere Wahl hat« (echt Nietzsche!). Und er verrät vollends, daß er von Steins naivem und ungebrochenem Idealismus weit entfernt ist, denn er beanstandet die seelischen Kräfte, die durch Entsagung entfesselt werden, als »Probleme der Grausamkeit«! »Es sind fast lauter Probleme der Grausamkeit, die Sie behandeln: tut dies Ihnen wohl?« Die Erklärung kommt freilich sofort hinterher: »Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich selber zuviel von dieser »tragischen« Komplexion im Leibe habe, um sie nicht oft zu verwünschen« – und wir verstehen das. Nietzsche bedurfte dieser Speise nicht mehr; sein Leben lastete schon leidvoll genug. Aber es gibt jenseits der Tragik nur eine Möglichkeit der Höherentwicklung: die betrachtende Ruhe. Und es ist auch dort Sonnenschein: die Herzensgüte. Diese Höchststufe läßt sich vortrefflich mit souveräner geistiger Unbefangenheit vereinigen. In diesem Sinne läßt Gobineau seinen Michelangelo zu Vittoria Colonna die wichtigen Worte sagen: »Ein Herz wie das Eure steht auf dem Gipfel der Größe: und dieser Gipfel heißt die Güte.«
Nietzsche hat diesen Gipfel nicht gefunden. Fast geziert klingt der Schluß dieses Briefes:
»Doch, um hier fortfahren zu können, müßte ich Ihnen verraten, was ich niemanden noch verraten habe – die Aufgabe, vor der ich stehe, die Aufgabe meines Lebens. Nein, davon dürfen wir nicht miteinander sprechen. Oder vielmehr: so, wie wir beide sind, zwei sehr getrennte Wesen, dürfen wir davon nicht einmal miteinander schweigen.«
Was der stete und strenge Idealist Heinrich von Stein zu diesem Briefe gedacht hat? Wir wissen es nicht. Als Gegengabe für »Zarathustra« sandte Stein mit einigen warmen und ehrerbietigen Dankesworten mehrere seiner schön übersetzten Giordano-Bruno-Sonette, enthält sich aber jeder Kritik. Leise antastend versucht er jedoch für das, wovon ihm das Herz voll ist, für Bayreuth, dem abgesprengten Einsiedler gleichfalls das Herz warm zu machen.
»Wie sehr wünschte ich, daß Sie diesen Sommer zum Parsifal nach Bayreuth kämen. Wenn ich an den Parsifal denke, so denke ich an ein Bild reiner Schönheit – an ein Seelenerlebnis reinmenschlicher Art, die dargestellte Entwickelung eines Knaben zum Manne. Durchaus kein Pseudochristentum, und überhaupt weniger Tendenz ist für mich im Parsifal als in irgendeinem Wagnerschen Werke. So schreibe ich denn auch – zaghaft und kühn zugleich, meinen Wunsch hier nicht als Wagnerianer nieder, sondern weil ich dem Parsifal diesen Hörer und diesem Hörer den Parsifal wünsche.«
Nietzsche antwortet aus Venedig:
»Diese Gedichte Giordano Brunos sind ein Geschenk, für welches ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin. Ich habe mir erlaubt, sie mir zuzueignen, wie als ob ich sie gemacht hätte und für mich – und sie als stärkende Tropfen ›eingenommen‹. Ja, wenn Sie wüßten, wie selten noch etwas Stärkendes von außen her zu mir kommt! Ich sprach vor zwei Jahren mit einer Art Ingrimm davon, daß ein Ereignis wie der Parsifal ferne von mir, gerade von mir, vorübergehen mußte; und auch jetzt wieder, wo ich noch einen zweiten Grund weiß, um nach Bayreuth zu gehen, – nämlich Sie, mein lieber Herr Doktor, der Sie zu meinen großen ›Hoffnungen‹ gehören –, auch jetzt wieder habe ich Zweifel daran, ob ich hinkommen darf. Nämlich: das Gesetz, das über mir ist, meine Aufgabe, läßt mir keine Zeit dafür. Mein Sohn Zarathustra mag Ihnen verraten haben, was sich in mir bewegt; und wenn ich alles von mir erlange, was ich will, so werde ich mit dem Bewußtsein sterben, daß künftige Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde tun« (!) ...
Welch ein Brief! Sagen wir es knapp: Zarathustra erhebt sich gegen Parsifal. Hier läßt sich fein einsetzen, um die Psychologie jener Zeit und jener Kreise zu erfassen. Wagner hatte den Zeitgenossen mit Posaunenstößen und in höchstgesteigerter Ausdrucksweise den deutschen Idealismus in Kunst und Weltanschauung zurückgerufen. Er und sein Kreis neigten zu Superlativen. Es gab Reibung oder eben Unterordnung für jeden, der mit Wagners Lebens- und Ausdruckskraft in Berührung geriet. Nietzsche, erst begeisterter Jünger, entwickelte sich immer mehr zum Ketzer. Aber das Superlativische, schon in der »Geburt der Tragödie« auffallend, blieb. Seine trotzige Selbständigkeit wurde nur immer hartnäckiger; der laute Erfolg von Bayreuth, mit so mancherlei unfeinen Begleiterscheinungen und Klatschereien der ersten Zeit, drang nicht angenehm in seine Stille. Dies alles erwäge man; und man bedenke das Schicksal so manches Komponisten, der heute noch unfreiwillig in Wagners Bannkreis nach Eigenart ringt: und man wird die Luft, in der ein vereinsamter Ringer wie Nietzsche seine Gereiztheiten formte, verstehend beurteilen. Und so sehen wir auch den Größenwahn des Satzes, »daß künftige Jahrtausende (!) auf meinen (!) Namen ihre höchsten (!) Gelübde tun«, in milderem Lichte. Überreiztheit lag nicht nur beim kranken und schlaflosen Nietzsche: Überreiztheit war eine Begleiterscheinung von Wagners energisch durchgesetzter musikalisch-dramatischer Schöpfung mitten in widerspenstiger Zeit.
Bald darauf kam eine persönliche Zusammenkunft auf den Höhen von Ober-Engadin im August 1884 zustande. Es scheinen anregende und reiche Stunden gewesen zu sein. Nietzsches Schwester, Frau Förster-Nietzsche, die Herausgeberin des Briefwechsels, berichtet darüber in ihrer Weise (Briefe III, S. 234):
»Stein kam nur für wenige Tage nach Sils-Maria, fast teilnahmlos für die Natur, nur in den Anblick meines Bruders versunken. Eigentlich haben sie sich nur zwei Tage wirklich genossen, denn bei Steins Ankunft hatte mein Bruder gerade Migräne, die am folgenden Tage gegen Abend wiederkehrte und erst am dritten Tage ihn vollkommen verließ. Stein notiert in seinem Tagebuch: ›26. VIII. 84. Nach Sils, abends bei Nietzsche. Bejammernswerter Anblick. 27. Großartiger Eindruck seines freien Geistes, seiner Bildersprache. Schnee und Winterwind. Er bekommt Kopfschmerzen – abends Anblick seines Leidens. 28. Er hat nicht geschlafen, ist aber frisch wie ein Jüngling. Welcher sonniger, Herrlicher Tag!‹ – Von dieser Zusammenkunft haben beide die herrlichste Erinnerung behalten. Mein Bruder, mit dem ich kurz darauf in Zürich zusammentraf, konnte nur mit bewegter Stimme von diesem wundervollen Menschen sprechen, bei dem ihn auch alles so tief sympathisch berührte.«
Damit war der Höhepunkt erreicht. Wenn Nietzsches Schwester betont, wie sehr beide in ihren ernsten und fast melancholischen Charakteren einander ähnlich waren, und dann fortfährt: »Nur war mein Bruder als der Ältere bereits zum Humor (?) und zum Lachen durchgedrungen (?), und er sprach die bestimmte Hoffnung aus, daß, wenn Stein längere Zeit mit ihm zusammen wäre, er es auch noch lernen würde« – so ist das doch wohl ein psychologischer Irrtum. Stein hätte Nietzsches Lachen nie gelernt. Wir haben oben angedeutet, welche Entwicklung der Verfasser von »Helden und Welt«, der mit Gobineau mehr Verwandtschaft hat als mit Nietzsche, vermutlich genommen hätte.
Noch am Ende jenes Jahres 1884 zeigte sich an einem plastischen Beispiel, wie wenig diese beiden Geister aufeinander gestimmt waren, so daß die Fernwirkung völlig versagte. Stein hatte sich mit Entschiedenheit der praktischen Arbeit zugewandt. »Treues, herzliches Mitgehen und Verstehen« gelobt er zwar Nietzsche auch jetzt wieder; aber gleich hinterher heißt es: »Pläne machen ist mir ganz und gar verwehrt.« Dann lesen wir weiter:
»Das Heimweh nach einem Tage wie der 28. August, der zweite unseres Zusammenseins, ließ mich oft zweifeln, ob ich nicht auf alle Weise meinen Besuch hätte länger ausdehnen sollen. Aber es steht so mit mir. Ich bin entschieden in die gelehrte Laufbahn einzutreten genötigt. Nun habe ich diese Aufgabe so in mich aufgenommen, daß ich für jetzt mit meinen Studien über Ästhetik wirklich lebe; in dem Grade, daß ich mich unbehaglich fühle, wenn ich dieser Pflicht nicht genüge. Dies mag gut oder schlimm sein – ich selbst, wie ich sonst war, würde es schlimm nennen, – für jetzt bestimmt es mein Lebensgefühl. In der Tiefe lauscht und wacht eine unendliche Sehnsucht nach wirklichem, freiem Leben. Aber nachgeben will ich dieser nun nicht mehr – bis ich sie verwirklichen kann. Deshalb also sehen Sie mich von Bibliothek zu Bibliothek ziehen, und in meiner Dachstube in Berlin gefesselt – C. Poststraße 23 III, wo ich für Briefe immer zu finden bin.«
Hier haben wir den Schillerschen Idealismus der Tat. Stein verschließt den heiligen Drang nach den Bergen der Freiheit, der freischöpferischen Poesie in sich als eine kostbare Hoffnung; er schlägt den Weg ein, der ihn allein mit Sicherheit zur Höhe führen kann: Arbeit. In der Zentralstätte erregter Arbeit, in Berlin, widmet sich der Privatdozent der philosophisch-ästhetischen Vertiefung. Er verarbeitet, was er von Wagners Genie an Anregungen empfangen hat.
Wehmütig und ergreifend berührt uns in diesem Zusammenhang die Antwort, die nun ein kranker Mann, dem der Segen der Arbeit versagt war, aus seinem einsamen Hochgebirge sandte. Es war das Gedicht »Einsiedlers Sehnsucht«:
O Lebens Mittag! Feierliche Zeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit:
Wo bleibt ihr, Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!
Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt:
Wer wohnt den Sternen
So nahe, wer des Lichtes Abgrundsfernen?
Mein Reich – hier oben hab' ich mir's entdeckt –
Und all dies Mein – ward's nicht für euch entdeckt?
Welch ein Angstruf nach Menschen! Man muß das ganze Gedicht nachlesen (Briefe III, S. 245; auch, etwas geändert, Nietzsches Gedichte, S. 132). Wieder verstärkt sich uns die Überzeugung: Hätte dieser nach ebenbürtigem Austausch hungernde Denker von vornherein Geister gefunden, die ihn durch Aussprache berichtigt und gemildert hätten, wir hätten alle miteinander Vorteil davon gehabt.
Steins Entgegnung – sagen wir es offen – ist diesem leidenschaftlichen Ruf nicht gewachsen.
»Verehrter Freund!
Wiederum auf einen solchen Anruf bliebe mir nur Eine Antwort: zu kommen; mich dem Verständnis des Neuen, was Sie zu sagen haben, zunächst einmal ganz und gar als einem edelsten Berufe zu widmen. Dies ist mir versagt. Mir fuhr ein Gedanke durch den Sinn: ich komme wöchentlich einmal mit zwei Freunden zusammen, lese mit ihnen Artikel des Wagner-Lexikons und bespreche mich mit ihnen darüber. Diese Besprechungen nehmen eine immer höhere und freiere Bedeutung an. Kürzlich nannten wir das Künstlerische die Überleitung aus der Fülle der Persönlichkeit zum Unpersönlichen. Hierbei gedachte ich Ihrer und meinte, Sie würden an diesem Gespräch Freude gehabt haben. Und nun fiel mir ein: Wie, wenn du jetzt einen Brief Nietzsches hervorzuziehen hättest, der etwa ein paar Sätze zum Thema unserer Gedankenarbeit setzte? Wäre dies eine Form, in der Sie sich mitzuteilen geneigt wären?« usw.
Immer wieder Wagners alles an sich saugendes Genie! Nietzsche, der Dichter des Zarathustra, Mitarbeiter an einem Wagner-Lexikon! Steins Arglosigkeit ahnte gar nicht, wie hier Nietzsches empfindlichste Stelle getroffen wurde. Und die Schwester hat recht, wenn sie diesen Brief eine »Geduldsprobe«, einen »kalten Wasserstrahl« nennt. Nietzsche selber klagte seiner Schwester: »Was hat mir Stein für einen dunklen Brief geschrieben! Und das als Antwort auf ein solches Gedicht! Es weiß niemand mehr, wie er sich benehmen soll.« Und so geriet der Einsiedler in eine bitter-ironische Stimmung, schickte aber seinen Briefentwurf nicht ab. Wir wissen es der Herausgeberin der Briefe nicht zu Dank, daß sie uns nun selber ironisch kommt und von einem »guten Dr. Stein« und Wagners »braven Jüngern« Bemerkungen fallen läßt, wie überhaupt jene begleitenden Seiten des Briefwechsels (S. 248 – 55) sehr unglücklich sind. Denn jede Kritik des durch und durch vortrefflichen Stein ist ungerecht. Sätze wie diese: »Auch beschäftigte sich Stein damals viel mit Schillers Ästhetik« [gemeint ist das prächtige Werkchen: Die Ästhetik der Klassikers] – »von Schiller und Wagner zu Nietzsche bedarf es noch eines langen Weges, den mein Bruder aber selbst in seinen jungen Jahren gegangen war; so war auch noch für Heinrich von Stein in der Zukunft eine Weiterentwicklung zu erwarten« – bekunden bedenkliche Neigung zu einer vornehmen Herablassung, auch Schiller gegenüber. Und bekunden außerdem wenig Psychologie. Denn vom schöpferischen und echten Idealismus zum kritischen Skeptizismus gibt es keinen Weg. Beide haben ihre Verdienste, beide ihren Platz. Nietzsche neigte zum letzteren, Stein war strenger Idealist. Denselben Beigeschmack enthält die folgende Bemerkung: »Nietzsche schien es sich inzwischen zum Gesetz gemacht zu haben, Stein nicht eher wiederzusehen, als bis dieser sich nach der einen oder anderen Seite fest entschieden hätte« – also Ungnade, bis sich Stein entschieden hätte, Wagner zu verlassen und Nietzsche zu folgen!
Zu einer Erklärung sollte es nun leider nicht mehr kommen. Die in Einseitigkeiten befangene Zeit war augenscheinlich noch nicht gewillt zur Lösung einer Aufgabe, die auch dem gegenwärtigen Geschlechte noch bevorsteht: Romantik und Realismus zu vereinigen und einem neuen, beides umfassenden Klassizismus die Stimmung zu bereiten. Im Sommer 1887 starb der überarbeitete Berliner Privatdozent an einem Herzschlag, kaum 30 Jahre alt. Und ein Jahr danach brach bei Nietzsche die unheilbare Krankheit aus.
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Der hochgewachsene, blonde junge Mann, der am 20. Oktober 1879 über die Schwelle der Villa Wahnfried trat, glich eher einem Kavallerieoffizier als einem angehenden Privatgelehrten.
In Steins Gesicht drückte sich eine außerordentliche Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit aus. Es fehlte jede Spur von Verstellungskunst oder Leidenschaftlichkeit in diesen überaus ehrlichen Zügen. Weder dem Menschen noch dem Schriftsteller Heinrich von Stein ist jemals eine Verlogenheit oder Schelmerei entlaufen. Naturanlage trieb ihn zu einer selbstverständlichen Sachlichkeit, zu einem naiven, keuschen Ernst, der verwundert und wehrlos dem Spott gegenüberstand. Dies Metall war nicht biegsam, dieses Menschengeschöpf nicht anschmiegsam; in einer gewandteren und gar verschlagenen Umgebung mußte dieser reine Tor wie ein Fremdling erscheinen.
Solche Naturen, denen kein Teufelchen Humor im Blute sitzt, schlucken alles in sich hinein, verarbeiten mit gleicher Ernsthaftigkeit kleine Stiche und große Lebensprobleme und leiden unter alledem innerlich mehr, als oberflächliche Betrachtung ahnt. Ihr Leben ist, aus Naturanlage, Tragik. Sie versuchen sich zwar zu biegen und zu schmiegen, so gut ihr spröder Stoff es eben zuläßt. »Himmel, wie sind wir oft ungeduldig geworden,« erzählte mir eine seiner Verwandten, »wie ging er gar nicht aus sich heraus!« Wenn kein Lebenshumor durchdringt, so zerbrechen solche Naturen vorzeitig. Bei Stein brach kein Humor durch; er starb an buchstäblich gebrochenem Herzen. »Die Sektion ergab, daß alle Organe, mit Ausnahme des Herzens, vollkommen gesund waren, dieses aber zeigte eine Veränderung der Muskelfasern, welche die Ärzte sich nicht erklären konnten.«
Und noch etwas, was befreien kann, brach nicht durch: die freischöpferische Dichterkraft. Denn Steins Poesie ist durch das Medium des Gedankens hindurchgegangen und wirkt nur durch den Gedanken, nicht unmittelbar. Das Schwere, nur dem Denken Zugängliche, was über dem ganzen Menschen und Schriftsteller liegt, belastet auch seine Poesie. So blieb etwas Ringendes und Rätselhaftes, das sich nicht frischweg mitteilen konnte, über diesem tiefen Menschen und innerlichen Schriftsteller. Und wie viel Bedürfnis nach Verständnis, nach Liebe rang doch in diesem reinen Herzen!
Die schöpferische Unbegrenztheit und sprudelnde Genialität des beweglich-lebhaften Richard Wagner mußte auf eine so verschlossene und herbe Natur ungeheuer wirken. Stein hat ausführliche Tagebücher hinterlassen; aber mit dem bedeutendsten Tage seines Lebens, eben mit dem Abend und Morgen des 20. und 21. Oktober 1879, brechen sie ab. Die Fülle der Eindrücke war nun zu lebendig für das vordem in gleichmäßigeren Zeiten so genau vermerkende Wort.
Und doch blieb Stein auch in Wagners Bezirken unabhängig. Man darf diesen originellen Geist, der längst seine eigenen Wege ging und sich schon als Knabe denkend in die Dinge einfühlte, keinen Wagnerianer nennen. Wagner, statt zu verdecken, öffnete ihm erst recht die Fernsicht in andere große Zeiten und Menschen. Gewaltsame Katastrophen, wie Nietzsche von der »Geburt der Tragödie« bis zum »Fall Wagner«, hat der stete, strenge Heinrich von Stein auch nicht schattenhaft durchgemacht. »Mir ist nicht anders,« heißt es gleich in seinem Erstlingswerk (1878), »als habe der Schicksalsfrauen eine mich besucht und mich zur Eile gemahnt.« In stetiger Arbeit, an Schiller gemahnend, mit dem sein Charakter verwandt ist, opferte sich Stein seiner Lebensarbeit, bis ihn der plötzliche Tod abrief.
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Heinrich von Stein ist geboren am 12. Februar 1857 zu Koburg. Er ist nach Blut und Wesen Aristokrat, aus einem uralten fränkischen Geschlechte stammend (Familiengut Völkershausen). Etwas Soldatisches ist in diesem Enkel von Reichsrittern; sein Pflichtgefühl ist in höchstem Maße entwickelt. Ja, man darf sagen: Von früh an war es das Gewissen, das in diesem Geiste der bestimmende Faktor war. Etwas von Kant ist in diesem herben Sucher und Kämpfer, aber ohne die biegsame und geistvolle Eleganz, die den Menschen Kant ausgezeichnet hat; der unerbittliche Lebensernst eines Schiller ist in diesem Edelblut die treibende Kraft, aber ohne die heitere, befreiende, verschönernde Dichterkraft, die den Freund Goethes von bloßer Philosophie erlöst hat.
Stein besuchte die Gymnasien zu Merseburg und Halle und ging dann (1874) nach Heidelberg, später nach Halle, um Theologie und Philosophie zu studieren. Aber es war mit der Theologie bald zu Ende; dieser geborene Philosoph und Ästhetiker wandte sich, besonders unter dem Einfluß von Kuno Fischer, rasch der Philosophie und dann einer etwas unregelmäßig betriebenen Naturwissenschaft zu.
Frühe schon, bereits im Knabenalter, ist in Stein ein Drang mächtig, Gemütsbedürfnisse und Gedankengesetze zu vereinigen. Er konnte sein protestantisches Christentum nicht einfach so hinnehmen; er mußte auf den Grund tauchen, nicht aus Mangel an Glauben, sondern aus tiefer Ehrlichkeit. Ja, man kann sagen: aus tiefer Religiosität. Ihm sollte Religion nicht als bloße Anforderung des Gemüts neben den Erkenntnissen des Geistes stehen, sondern sie sollte sich damit zu einem innigen Ganzen verschmelzen. So erwuchs ihm in unseren Zeiten des zersplitternden Spezialismus ein umfassendes Bildungsideal. Geist, Gemüt, Charakter; Philosophie, Poesie, Religion; Wissenschaft, soziale Frage, Lebensbetätigung – das alles zu durchdringen mit persönlichem Gehalt und in ein Ganzes zu formen, das war das Ziel, dem er zunächst von der Gedankenseite her, auf dem Wege rastlosen Denkens und inneren Erlebens, zustrebte.
Auf die schöne Würdigung Steins von H. St. Chamberlain ( Revue des deux Mondes, deutsch bei Georg Müller, München) kommen wir noch zurück. Für jetzt sind uns besonders wertvoll die Denkwürdigkeiten von Adelheid von Schorn (Berlin, S. Fischer), die einen unmittelbaren Einblick in Steins Wesen gestatten, da die Verfasserin, eine Verwandte von Heinrich, aus dessen Tagebüchern und Briefen wichtige Auszüge mitteilt.
Wir lassen hier einiges folgen:
»Heinrich war von klein an ein ernster Knabe, der von seiner Mutter in großer Frömmigkeit erzogen wurde und schon in jungen Jahren den Vorsatz hatte, Geistlicher zu werden. In der Zeit seiner Konfirmation kamen dem forschend Denkenden Zweifel, und bald nachher wandte er sich von dem Gedanken, Theologe zu werden, ab und der Philosophie zu. Vor vollendetem 18. Jahre war er mit dem Gymnasium fertig und bezog die Universität. Er wurde von da an einer der Menschen, die mit dem heißesten Bemühen nach der Wahrheit suchen, weil ihnen diese Wahrheit in den Formeln und Dogmen der Kirche nicht rein genug enthalten ist. Er war in seinen glücklichsten Stunden ernsthaft – er konnte fröhlich sein mit Menschen, die ihn verstanden; aber eine Neckerei war ihm unangenehm, war sie etwas derb, so verstimmte sie ihn ganz. Er haßte jede Quälerei – jedes Wehetun – er wollte und konnte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten.
»Mit achtzehn Jahren war er die Idealgestalt eines deutschen Jünglings aus edlem Geschlecht. Riesengroß und schlank gewachsen, trug er sich so aufrecht wie eine Tanne. Sein volles, frisches Gesicht mit blondem Haar, kleinem Schnurrbart und großen hellblauen Augen hätte eher den Soldaten als den Gelehrten in ihm vermuten lassen ...
»In Berlin hatte er einen kleinen Kreis von jungen Leuten um sich, die mit Liebe und Schwärmerei an ihm hingen. Er führte ein eingezogenes, arbeitsames Leben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß er sich je den Vergnügungen junger Leute hingegeben hätte. Er nahm alles ernsthaft und trug oft schwer daran, daß er mit seinen idealen Anschauungen bei wenig Menschen Verständnis fand« ...
»... Ich liebe das Christentum, vor allem Jesu selbst. Ich kann mich herzlich auf die Weihnacht freuen und weiß doch, daß es nur ein Bild, aber das reichste, schönste Bild des wahren Gottes ist, das Christentum. Ja, ich bin selbst Christ, als Untertan der christlichen Moral; aber ich bin nicht mehr gezwungen, Männer wie Sokrates oder Plato bedauernd anzusehen, wie – verzeih' es ihnen der Himmel! – tausend Theologen tun, die ihnen den Schuhriemen zu lösen nicht wert sind.«
... »Das Christentum ist die moralische Reformation der Menschheit, und darum ewig lebensfrisch. Das Ziel der Menschheit ein Durchdringen des Guten, eine Auflösung also in Gott. Ob das Ziel unendlich oder erreichbar, ist ganz gleichgültig, genug, daß es möglich ist. Ich wage nicht zu sagen: Nun hab' ich's. Hier möchte ich es sagen. Aber nein! Ich habe ein Leben, und ein kurzes Menschenleben ist nicht zu lang, um es ganz auf Erkenntnis und Durchdringen der wahren Religion zu verwenden. Geschichte, Philosophie, Theologie sollen meine Lehrerinnen sein.«
»Ich erhalte von Kuno Fischer einen höchst wichtigen Brief, über den es gut sein wird, sich schlüssig zu machen. Er rät mir, die Theologie abzuwerfen und Naturwissenschaft als Hauptsache der Philosophie. Wenn mir jemand, der mich einigermaßen kennt und mein Bestes will, überlegtermaßen zuruft: Fort mit der Theologie! – so ist wirklich mein erstes Gefühl das der Erleichterung von einer unheilvollen Tat ...
»Mein Herz sagt nach dringendem Befragen laut und vernehmlich: Die Theologie ist dir schon lange nicht mehr Herzensangelegenheit, also ist sie dir nichts. Wenn ich der Theologie somit entschieden den Rücken kehre, fühle ich mich keineswegs in der Weise ins Ratlose hinausgewiesen, als sonst wohl bei ähnlichen Überlegungen. Denn als herzinnig geliebte Lenkerin steht mir, entschieden mich haltend, die Philosophie zur Seite. So denn mutig fort!
» Religion und Wissen, diese Einheit bleibt immer mein Leitstern. Kopf und Herz müssen zusammenklingen, wenn es einen Akkord geben soll.«
»Höre denn vor allem, daß es sehr, sehr schön hier ist. Wagner ist viel großartiger und bedeutender, reicher in all seinen Gesprächen, als man vermutet und als man mir gesagt hatte« ...
»Ein wunderbarer Abend! Meistersinger und Kaisermarsch, Wagner so gut und froh« ...
»Mit meiner Tätigkeit bin ich sehr zufrieden. Siegfried lernt etwas bei mir, und ich lerne ebenfalls; besonders durch einige philosophische Vorträge, die ich in der letzten Zeit mit Frau Wagner und Fräulein von Bülow begann. Am meisten nun gar, wenn ich dies schon ›Lernen‹ nennen will, durch irgendeine Unterhaltung mit Wagner. Der Umgang mit ihm ist der wichtigste und schwierigste Teil meiner Stellung.« (Wagners Tod erschütterte Stein aufs tiefste:) »Ich wende mich von jenen ersten Tagen ab, an denen die ganze Unglaublichkeit dieses Verlustes mich betäubte; ich wende mich einem so verwandelten Leben wieder zu; und eben weil ich den Toten wirklich liebte, weiß ich, daß über jedem meiner Lebenstage geschrieben stehen soll: Die Liebe höret nimmer auf« ...
19. 3. 84. »Ich lebe hier sehr regelmäßig und zufrieden, dankbar für die Möglichkeit, ohne eigentliche Sorge meinem Berufe wissenschaftlicher Arbeit nachgehen zu dürfen, und wehre mich tapfer gegen manche nicht ausbleibende Anwandlung der Sorge und Verzagtheit« ...
11. 2. 85. »In letzter Zeit habe ich sehr viel zu tun; an innerer Mannigfaltigkeit ist kein Mangel; die Bücherhaufen kommen und gehen, und jede Minute ist ausgefüllt; ich empfinde dies als meine Art von Glück und wünsche mir nur noch tausendmal mehr Gleichmäßigkeit, Unzerstörbarkeit der Gesundheit und dergleichen. Dazu habe ich lieben Freundesverkehr, philosophisch hier, gemütlich da, und beides nicht etwa streng voneinander getrennt. Dagegen ist von akademischen Erfolgen noch nichts zu berichten, ein Anfang ist gemacht, nicht mehr ... wenigstens vergleiche ich gern meine jetzigen, besseren Tage mit der peinlichen Einförmigkeit des vorhergehenden drückenden Jahres« ...
24. 4. 85. »Hier ist es schön, aber innerlich fühle ich mich auch unsäglich bedrückt: es ist, als ob ich ein besonderes Organ für alles Traurige hätte. Die Arbeit hilft am weitesten, und mein Kolleg hat heute einen ganz leidlichen Anfang genommen« ...
15. 1. 87. »Als ich die Maske Schillers erhalten hatte und sie betrachtete, kam es mir in diesem Anblicke wie ein bestimmtes, offenbartes Wort entgegen. Es lautete etwa so: Es ist gut, wenn wir dennoch aushalten, es ist der Mühe wert, es durchzukämpfen. Die Wucht dieser leidenerstarkten Züge spricht ganz unwiderleglich aus: Durch ein solches Leben ist ein – uns anderswie gar nicht deutlich zu machender – absoluter Wert dargestellt, erworben und gewonnen worden. Stolz oder Glaube: so benennen wir die beiden führenden Mächte eines solchen Kampfes. Es ist das Peinliche des Ausharrens in unserer Welt, daß diese uns die Liebe erschwert, welche doch die Grundbedingung auch jener Kräfte ist. Stolz deute ich mir als Liebeskraft, die in sich selbst zurückverwiesen wird; Glaube als Liebeskraft, die in einem »Nicht von dieser Welt« ihren Gegenstand gefunden hat.
»Ich blicke auf die Züge Schillers abermals und fühle mir mahnender als je von ihm zugerufen: daß die bestimmte Art des Leidens, welche einer Seele wieder und wieder zugemutet wird, das Wesen dieser Seele ist, welches sich seinem innersten Gehalte nach nur eben durch jenes Leiden verwirklichen kann.«
Mai 1887: »Am Himmelfahrtstage war ich auf dem Friedhof ... Mir fiel wieder ein, wie mich als Kind eine fast beständige Todessehnsucht als deutliches Lebensgefühl begleitete ... Meine Vorlesungen gehen gut vonstatten und finden Beifall; sie strengen mich aber über alle Maßen an ... Es war mir noch vorhin bei der Rückkehr aus einem Kolleg, in dem ich von hohen Dingen zu reden hatte und nur harte Mienen sah, mir war zumute, wie es mir jetzt tausendmal zumute ist: als ginge es nun auch ganz gewiß nicht mehr. Es muß eine Krankheit sein, die mich verzehrt. Und es ist doch nur Nicht-Ich.«
*
Wir sind den äußeren Ereignissen vorausgeeilt. Stein war als Erzieher des zehnjährigen Siegfried ein Jahr lang tätig. Dann folgte er den Bitten seines Vaters, der in Halle wohnte, und habilitierte sich an der Universität Halle als Privatdozent. Ihn hatte Tätigkeitsdrang zur Übernahme der bedeutsamen Erzieherstelle getrieben: der Drang nach Menschenveredlung, den er ja an sich selber betätigte. Und so hatte er zugegriffen, als ihm Malvida von Meysenbug auf einer italienischen Reise erzählt hatte, Wagner suche einen Hauslehrer. Das Jahr war, neben dem anders gearteten Militärjahr, ein Ausruhen zwischen Jahren, die nur mit strenggeistiger und hochgeistiger Arbeit überfüllt waren.
Denn noch vor Wagner hatte Stein Eugen Dühring kennen gelernt. Es ist mir seelisch sehr begreiflich, daß sich sein durch und durch philosophisch gestimmtes Gemüt bei diesem unerbittlichen Mathematiker, bei dieser trockenen exakten Wissenschaft Gegengewichte versprach. Dühring, der blinde und verbitterte Philosoph, der Antisemit, der völlig unmethaphysische Charakterkopf, hat keine Ahnung von dem wirklichen und allseitigen Wesen der Poesie. Das weiß jeder, der sich Dührings Ausführungen über die »Größen der modernen Literatur« vergegenwärtigt, worin z. B. Bürger und Byron (letzterer als Charakterkopf, nicht rein dichterisch) gegen Goethes Kultur ausgespielt werden. Dieser heftige, scharfe, stilklare Mann mag erfrischend auf den völlig unpolemischen Stein gewirkt haben. Er gab ihm Energie; er stieß ihn auf die Wirklichkeit. Denn Stein hatte sich so verbohrt und vertieft in eigene Gedankengänge, daß selbst seine nächsten Freunde ihn oft nicht mehr verstanden. Insofern begreifen wir es, daß sich unser Methaphysiker bei Dühring mehr Nüchternheit zu erwerben suchte. Aber Dührings Bitterkeit kann kein Segen für diesen schwer am Leben leidenden Einsamen gewesen sein. Ihm hätte ein Dichter von Shakespeares oder Burns' Frische und Sieghaftigkeit wohlgetan; aber die Literatur – – grade damals drang der wuchtige, wüste, bedrückende Zolaismus in Berlin ein.
Und so war Wagners Genie die aufheiternde Oase in dieser Herzensöde. Keine Volkspoesie zwar, keine schlichte Herzlichkeit und ruhige Weltweite im Sinne Goethes, der das »Heideröslein« wie den »Faust« gleicherweise zu gestalten vermochte, sondern eine Kunstpoesie großen Stils. Ein Prunkbau, ein herrlicher, weihrauchdurchzogener und gedankendurchwehter Dom. Es ist etwas wie Hierarchie in Wagners Gesamtwert, das ohne Musik, Philosophie und Festspielhaus nicht denkbar ist. Es war die jedenfalls einzig mögliche Form, in der sich einer schwerfälligen Zeit gegenüber der Idealismus durchsetzen konnte. Eine Entlastung und Abrüstung bedeutete aber auch sie nicht für den Gelehrten, der zwar theoretisch wußte und gemüthaft fühlte, daß »Welträtsel erlebt, nicht gelehrt werden«, dem aber die Gedankenprobleme keine Ruhe ließen.
Aber wir wollen diese Einschränkungen nicht stark hervorheben; sie sind nur ein Wink für die Gegenwart und deren nächste Entwicklung. Jedermann kennt ja den eigentümlichen und fast dämonischen Drang, in süßlich verlogener Gesellschaft plötzlich mit den härtesten Donnerwettern und mit den bedeutendsten Shakespeareschen Flüchen befreiend dreinzufahren. Umgekehrt lockt eine unreinlich derbe Umgebung wiederum das Zarteste in uns empor, gleichsam als ob die Natur Schwärme von guten Geistern aussende, uns in unsrer Selbstbehauptung zu helfen und das Gleichgewicht herzustellen. So reizt Sinn den Gegensinn, Wort das Gegenwort, Stimmung die Gegenstimmung, sobald ein gewisses Matz überschritten wird. So hat die niedere Stimmung der materialistischen Zeit in dem Kreise Wagner-Nietzsche-Gobineau-Stein eine hohe Gegenstimmung erzeugt. Und es wird nun unsre Aufgabe sein, beides zu umfassen und den Ausgleich zu finden, also – wie ich schon sagte – Realismus und Romantik in ein hohes und gesundes Verhältnis zu bringen.
Die Dozentenlaufbahn in Halle und Berlin brachte Widerstände von seiten der Professoren. Viermal mußte Stein seine Abhandlung, die ihm das Habilitationsrecht eintragen sollte, umarbeiten (»die Bedeutung des dichterischen Elementes in der Philosophie Giordano Brunos«). Was uns vielleicht nicht wundert: Steins schwere Stilistik und seine Art, Fragen der Religion, Kunst und Kultur in den Kreis seines Denkens zu ziehen, da ja sein Bildungsideal ein Ganzes erstrebte, behagt und entspricht nicht fachwissenschaftlicher Kleinarbeit.
Er las dann über Rousseau, über die Beziehungen zwischen Kunst und Philosophie, und – über Richard Wagner (Winter 1881/82). Das war etwas Neues und für die Kollegen höchst unwillkommen; die Gelehrten in Halle waren von dem Anhänger Dührings und Wagners wenig entzückt. Stein erzählte einmal von der »Wut« eines der Professoren, als dieser den Namen Wagner in der Habilitationsschrift entdeckte. Kurz, er siedelte bald nach Berlin über und wurde dort, wieder nach einer ersten Zurückweisung, nach einem Jahre als Dozent zugelassen.
Ehe Stein als Student die Universität bezogen, mit siebzehn Jahren (1874), hatte er bereits einige Wochen in Berlin verbracht, in Theatern und Museen, geblendet von all dem Neuen und Bunten. Dort hörte er auch zum erstenmal die »Meistersinger« in glänzender Besetzung. Er war von der Großstadt entzückt und beschloß schon damals, »einen guten Teil seines Lebens in Berlin zu verbringen, komme, was mag«. Jetzt, ein Jahrzehnt später, war er an der ersehnten Stätte. Aber in wie andrer Stimmung! Man kann wohl sagen, daß die drei Jahre, die er jetzt noch zu leben hatte, seine schwersten geworden sind. Gewiß war seine Vorlesung über die Ästhetik der deutschen Klassiker überfüllt; aber seine andren Vorlesungen waren wenig besucht. Und trotz eines kleinen treuen Freundeskreises lag ein dumpfer Widerstand der Zeit erbarmungslos über diesem festen Idealisten.
Auch seine äußere akademische Tätigkeit kam nicht voran, trotz seines bewundernswert gelehrten und sorgfältigen Werkes »Die Entstehung der neueren Ästhetik«. Das Buch ist ein mühsames Zitatenwerk, dessen innere Linie vor lauter Sachlichkeit kaum sichtbar wird. Stein erhielt dafür die erhoffte Professur nicht.
Ein solcher Spannungszustand war bei solcher Wesensanlage unmöglich durchzuführen; dieser Geistesarbeiter stieg nie in die Sphäre des Gewöhnlichen herunter; er gönnte sich in seinen rein geistigen Regionen kein Ausruhen. Doch dem feineren Gehör kann es nicht entgehen, daß eine tiefe Sehnsucht nach verstehender Liebe diesen Suchenden durchglühte. Wie begreifend spricht er von Winckelmann!
Und so überkam ihn im Sommer 1887 einige Wochen hindurch ein unerklärliches Unwohlsein, das im Juni eine ernste Wendung nahm. Man brachte ihn ins Augusta-Hospital. Dort erlag die Riesengestalt nach nur achttägiger Krankheit. »Die Diakonissin, die ihn gepflegt,« so erzählt uns Fräulein von Schorn, »hat mir erzählt, daß er sich morgens, als sie ihm den Kaffee brachte, ganz wohl gefühlt. Sie habe ihm einen Rosenstrauß ans Bett gestellt, er habe sich darüber gefreut und ihr gedankt. Sie sei hinausgegangen und nach zehn Minuten wieder gekommen: in dieser Zeit habe ihn ein Herzkrampf befallen« – und die Pflegerin fand ihn tot.
Stein ist so einsam gestorben wie Gobineau in Turin; und fast könnte man hinzufügen: so einsam, wie er gelebt.
Er ist begraben auf dem Militärfriedhof der Invalidenstraße. Sein Denkstein trägt die Worte: »Selig sind, die reines Herzens sind.«
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Den dramatischen Skizzen »Helden und Welt« sind zwei ästhetisch wichtige Briefe vorgedruckt. Sie vergeistigen den neuerdings vielgenannten Begriff »Schauen«. Der erste Brief ist von Stein an Wagner gerichtet: der zweite und längere Brief ist Richard Wagners Antwort.
Im ersten heißt es:
... »So deute ich mir denn Goethes von diesem als noch unerfüllt bezeichnete Anforderung an das Publikum, dem Künstler gegenüber sich produktiv zu verhalten, etwa dahin: Der durch die Kunst zum Schauen befähigte Blick sei der Wirklichkeit zu weiser Lebensführung zuzuwenden. Die Weltanschauung, welche ein solcher Blick sich gewinnt, ersieht sich kenntliche Gestalten aus dem Wirrsal der Geschichte. Die Worte, welche dem also sich Besinnenden aus diesem Wirrsal heraus vernehmbar werden, befähigen dann ferner zu Begriff und Urteil über die historische Gegenwart: unbeirrt durch das Trugbild der Zivilisation vermag er die menschlichen Züge in dieser Gegenwart von den ebenfalls noch vorhandenen bestialischen zu unterscheiden und wirklich zu sehen. Er erblickt das ›andere Ufer‹, das Land der Zukunft, und gehört demselben an, daher er zur Ausfahrt mahnt, indessen der lebenskluge Herr des Augenblicks am Horizont nur Wasser und Himmel sieht und davor warnt, sich den Elementen anzuvertrauen.«
Damit ist deutlich ausgedrückt, daß in diesem kühnen Fernblick eines Kolumbus gegenüber dem nüchternen, sachlichen Schauen des »lebensklugen Herrn des Augenblicks« ein Element philosophischen Denkens unausschaltbar vorhanden ist. Und ein Element sittlichen Willens. Das unterscheidet das »Schauen« des Heroikers vom beschaulichen Idylliker.
Richard Wagner verschärft in seiner Antwort diese übertragene Auffassung. Er preist Steins »Vorschritt vom philosophierenden Nachdenker zum dramatisierenden Klarseher« und fährt fort:
»Sehen, sehen, wirklich sehen – das ist es, woran allen es gebricht. ›Habt ihr Augen? Habt ihr Augen?‹ – möchte man immer wieder dieser ewig nur schwatzenden und horchenden Welt zurufen, in welcher das Gaffen das Sehen vertritt. Wer je wirtlich sah, weiß, woran er mit ihr ist.«
Wagner erzählt ein Beispiel aus seiner Pariser Zeit, wie er eine geistliche Lehrschwester mitten zwischen einer aufgeregt lärmenden Weltstadtjugend beobachtet habe. »Ohne Seele alles – außer jener armen Schwester« ... Er hatte ihren seelischen Zustand erfühlt und ertastet; nicht nur der Blick, auch das Gehör, der ganze Organismus tastet sich in Wesen und Zustand eines Nebenmenschen hinein. Das will Wagner sagen. Und er spitzt seine esoterische Ästhetik, wie ich diese Verinnerlichung fast nennen möchte, zu dem Satze zu:
»Zu der Welt reden kann man nur, wenn man sie gar nicht sieht. Wer vermöchte z. B. zu einer Reichstagsversammlung zu reden, sobald er sie genau sähe?«
Dies wichtige Wort schrieb Richard Wagner zu Venedig, am 31. Januar 1883, keine zwei Wochen vor seinem Tode. Es ist eine knappe und scharfe Formel gegen den anschauungslüsternen Materialismus.
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In seiner gehaltvollen »Entstehung der neueren Ästhetik« (von Boileau bis Winckelmann) und in skizzierten »Vorlesungen über Ästhetik« sucht Stein in streng gelehrter Gedankenarbeit seine Weltanschauung anzugliedern an das Denken bedeutender Vorgänger. In der hübschen kleinen Schrift über »Giordano Bruno« fesselt ihn der einsame und einheitliche Denker. In seiner »Ästhetik der deutschen Klassiker« gibt er gewissermaßen die Fortsetzung und Vollendung der »Entstehung der neueren Ästhetik«: denn letztere führt bis unmittelbar vor Goethe und Schiller. Vorlesungen über Wagner wurden verhindert; sie hätten sicher an Weimar angeknüpft. Hätte Stein die letzten Jahrzehnte mit uns gelebt, er hätte uns vermutlich in immer klarerer Stilistik zu Kant geführt; hätte über Nietzsche Klärendes zu sagen gehabt; hätte vielleicht Erscheinungen wie Plato modernisiert und wäre schließlich von neuen Gesichtspunkten zu Christus gekommen; ja, er hätte vielleicht sogar indoarisches Denken in diesen europäischen Gedankenbau mit einbezogen. Wir wissen es nicht. Wir glauben nur zu spüren, daß diesem unbefangenen und reinherzigen Sucher alles Große des Denkens und alles Hohe des Empfindens instinktiv über die ganze Welt hin zugänglich war. Das »innerlich unbegrenzt« Goethes, die charaktervolle Weitherzigkeit, mit der Goethe die Weltliteratur in Persönlichkeit umdeutschte: hier waren, in Wagners befruchtendem Kreise, abermals Keime zu solchem Bildungsideal vorhanden. »Weltanschauung als Gesinnung, als Tat, als Lebensgestaltung, dies war das unablässig festgehaltene Ziel seines Denkens und Dichtens«, sagt Poske. Allen Erscheinungen »einen ewigen Sinn geben«; durch »innere Tätigkeit den Sinn der Welt schaffen« – das war sein schöpferisch Programm.
Steins Dialoge sind eine solche fühlende, schauende, denkende Weltwanderung. Sie liegen uns in zwei nicht allzu umfangreichen Bändchen vor, nachdem sie meist in den »Bayreuther Blättern« erschienen waren. »Helden und Welt« heißt das erste Bändchen; das zweite, etwas größere, ist einfach »Aus dem Nachlaß« betitelt und enthält neben den dramatischen Skizzen noch einige Erzählungen. Die Welt der Hellenen wird uns dort in den Zwiegesprächen Solon und Krösus – Timoleon – Alexander vorgeführt; der Abschnitt Rom bringt: Der Fluch des Hannibal (der beim schwächlichen Prusias den rachsüchtig verfolgenden Römern erliegt) – Cornelia (Mutter der Gracchen) – Der junge Imperator (Pompejus); es folgt »Das Christentum«: Die heilige Katharina in Rom – Luther 1645 – Aus dem großen Kriege (Bach); das Buch schließt mit der Neuzeit: Denker und Dichter (Shakespeare und Giordano Bruno) – Die Tochter Cromwells – Heimatlos (soziale Frage). – Nicht wahr: ein Weitblick, wie wir ihn nur von Gobineau her kennen. Die Gespräche, die aus dem Nachlaß gesammelt sind, bekunden noch feinere Reife. »Der große König« ist eines der schönsten; »Die heilige Elisabeth« ist fast schon Drama; »Tauler und der Waldenser« ist wohl das Tiefste, was Stein geschrieben hat. Überall bemerken wir ein sicheres historisches Gefühl, eine bewundernswerte Sachlichkeit, einen tiefen Ernst. Doch über allem lastet der zaudernde Gedanke, nicht genügend vergoldet von poetischer Unmittelbarkeit und sinnlicher Frische, so daß sich fast alles, was Stein geschrieben hat, recht schwer liest.
Diese Dialoge stellen etwas wie eine besondere Gattung dar, die wohl des Ausbaues wert sein dürfte, zumal bei dem Tiefstand unseres lebendigen Theaters. Die behandelten Menschen sind in eine für sie entscheidende Situation gestellt; nun wird diese Situation gedanklich und gefühlsmäßig durch Rede und Gegenrede ausgeschöpft. »Dramatische Situationen« – so könnte man demnach diese Unterredungen nennen. Der behandelte Held zeigt sich so am deutlichsten in seiner Eigenart und in seinem Höhepunkt. Das Milieu und die Naturstimmung treten zurück; das Innere der Menschen, Seele zu Seele, tauscht sich aus.
Steins Gesprächsführung ist von Grund aus anderer Natur als etwa Wildenbruchs Schwung oder unsres größten Dramatikers energischer Bühnenschritt. In der Art der Dialog-Führung bedeuten Stein und Gobineau eine Neuerung. Neu ist die tiefernste, von jeder Theatralik freie Sachlichkeit, mit der sich ihre Menschen seelisch offenbaren. Das ist keine Epigonen-Rhethorik, keine Theaterluft, kein täuschender, über Untiefen hinwegschwingender Redeschall. Es sind reife Menschen, die sich sehr ernst unterhalten; innerliche Menschen, die es mit Leben und Tod unheimlich aufrichtig meinen; Menschen, denen es unter allen Umständen um schlichte Wahrhaftigkeit zu tun ist. Aussprache ist ihnen ein Mittel, über sich selbst zur Klarheit zu kommen.
Demnach sind diese Skizzen gewissermaßen fünfte Akte (ähnlich hierin Ibsens Technik). Diese Gestalten stehen bereits nahezu über der Situation, hart vor dem Tor der Erkenntnis, wo alles Dramatische im Sinne leidenschaftlichen irdischen Handelns – aufhört. Hannibal bei Prusias: ein Leben voll Verwicklungen liegt hinter ihm; Friedrich bei Bunzelwitz, zur reifen Ruhe des kühlen Philosophen nahezu durchgedrungen; Cromwell mit seiner Tochter letzte Dinge bedenkend; Tauler und der Waldenser in einer Verinnerlichung, für die fast keine Worte mehr ausreichen; Alexander während und nach Klitus' Ermordung, unmittelbar vor dem Zuge nach Indien; K. L. Sand, der Mörder Kotzebues, vor der Hinrichtung – – es ist in all diesem der Philosoph Heinrich von Stein, der hier von hoher Warte aus in seine Menschen hinein und auf deren Verwicklungen wie auf etwas nahezu überwundenes hinabschaut. Er wählte die Form des Gespräches, weil Gespräch seelische und sprachliche Unmittelbarkeit gestattet.
Damit hängt die Stoffwahl zusammen. Stein wählte Helden und Heilige. »Es sind wirklich innere Erfahrungen gewesen, die mich mit wahrer Sehnsucht fragen lassen, wer den erhabenen Gedanken der Heiligkeit auf Erden verwirklicht habe« ... Menschen also, die sich vermöge eines in uns wirksamen »klaren inneren Lichtes« über die Stoffschwere der Welt erheben. Die gebrochen in ihrer geraden Richtung, durch ein neues Vermögen, das eben durch den Schmerz erwachsen ist, den Dingen überlegen werden und über sie hinüberfliegen. Menschen des sittlichen Willens und der geistigen Kraft; umgestaltende und erneuernde Menschen, die mit den Widerständen rangen und eben durch diesen verfeinernden Kampf in eine höhere Daseinsform empordrangen. Menschen, die zwar »die Welt zu fliehen scheinen, sie aber in der Tat beherrschen«.
Dieser tragische Gehalt ist es, der Steins Gespräche über bloße Geschichtsbilder erhebt. Es ist ringendes Menschentum darin verbildlicht.
Sehr schmucklos, wie absichtlich schmucklos, nach Wagners malerisch-musikalischer Pracht, muten diese Seelengespräche an. Stein ahnte vielleicht das Problem, daß nun, nach Wagner, das gesprochene Wort eine neue und feinere Aufgabe zu erledigen habe: nämlich wieder seinen schlichten Klangwert und melodischen Reiz in der Dichtung zurückzuerobern. Der Naturalismus hatte sich derweil, in merkwürdigem Gegensatz zu Wagners Orchestersprache, an das derbe Gassenwort gehalten. Aber wo blieb die vornehme Rede? Die Rede, in der sich erhöhte Seelenzustände zusammenfassen?
Zu diesem Problem, das noch der Lösung harrt, sind Steins Dialoge ein edler Beitrag.
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Wir haben alle in unsren Ahnen, deren organische Fortsetzung wir sind, den Zustand durchgemacht, daß wir mit gewaltigen Naturbeseelungen, Wodan oder Donar oder Baldr benannt, wie mit Meistern und Führern gesprochen haben und in unsrem Empfinden und Handeln ihrem Einfluß ehrfürchtig zugänglich gewesen sind. Die wahre Psychologie jener Art von gigantischer Religiosität ist ungeschrieben; es sind vielleicht auch dort, wie Carlyle ahnt, lebendige Heroen Ausgangspunkt der Götterverehrung gewesen. Wer weiß, welche inneren Vorgänge da mitgewirkt haben mögen!
Im Hellenentum, in Ägypten, im arischen Indien, in Peru usw. bildeten sich Kulturzentren und besondere Formen von Gottesverehrung, die dem Denken eine entsprechende Form gaben und die Lebensführung bestimmten. Das Christentum drang aus dem kleinen Galiläa empor und unterwarf sich Europa. In der Renaissance und in der Reformation zweigte sich wiederum Neues ab; deutsche Philosophie und deutscher Klassizismus griff über das Christentum hinüber nach Griechenland zurück. Und in neuester Zeit wird das älteste geistige Indien herangeholt.
Wir stehen in einer wichtigen geistigen Bewegung; alles trachtet nach großer Zusammenfassung. Sollen wir über einen statistischen Eklektizismus oder kritischen Spezialismus nicht hinaus- und emporgelangen zu neuer Einheit? Sollen wir fortfahren, das angeblich asketische Nazarenertum mit dem angeblich heitren Hellenentum totzuschlagen? Dürfen Nordland und Wodankultus aus nationalen Gründen gegen das Griechenland der Klassiker zum Kampf ausgesandt werden? Und sollen Wittenberg und Rom andauernd in Kampfstellung bleiben?
In diesen theoretischen Erregungen sein Menschentum heil zu erhalten und nicht von einem der umfliegenden Schlagworte zu Tode getroffen zu werden – das ist die schwere Aufgabe der Zeit. Die meisten, von einer Zeitung oder Gruppe suggestiv bestimmt, schließen beizeiten ab und gehen unter das Dach einer bestimmten Richtung; sie fallen aus in Kriegszeit und feiern mit den Ihrigen Feste, wenn ein Sieg errungen ist. Aber das gibt dem Gottsucher, dessen Gottesbegriff gewaltiger ist als die bestgeformte Theorie, keinen Frieden. Er kann sich nicht auf Kosten anderer seines Heiles freuen. Er verzichtet auf den Parteihimmel.
Und so sehe ich in Richard Wagners Weltanschauung einen Versuch, von der Kunst aus den Parteien Frieden zu bringen und eine neue Synthese zu errichten. Und Heinrich von Stein, der den Spruch fand: »Sehne dich und wandere!«, ausgehend von tiefer christlicher Gebets-Frömmigkeit, bedeutet mir einen weiteren Ansatz der schaffenden Natur, zwischen Kultur der Außenwelt und Kultur der Seele eine Vereinigung zu finden. Kurz gesagt: Kunst und Religion zu verschmelzen.
Wir werden in diesem Lichte seine Vorliebe für Helden und Heilige ganz neu verstehen lernen. Der Protestant Stein versenkte sich in die religiöse Art der heiligen Katharina, in die Sprechweise Taulers, in die Ideale der heiligen Elisabeth; derselbe Stein schrieb über Luther, Bach, Cromwell, Bruno, Friedrich den Großen. Wie er persönlich ein Bildungsganzes anstrebte, worin Wissen und Gemüt, Phantasie und Charakter, Poesie und Religion harmonisch zusammenklangen, so schwebte ihm in unbestimmter Vorstellung eine europäische Kultur vor: ein europäisches Bildungsganzes. Das Ferment, das die widerstreitenden Vielheiten zur Einheit zusammenschmilzt, wenn erst der Knabe Mensch zum Mann erwachsen, sollte die verstehende Liebe sein: ein wohlwollendes Zusammenarbeiten.
Stein hat diesen großen Gedanken – unser aller Lebensaufgabe! – der im Kreise des Bayreuther Genius in der Luft lag, nicht mehr zu gestalten vermocht. Aber ich glaube nicht, daß ich zu viel in ihn hineinlese (vgl. Poskes Schlußkapitel in Chamberlains Schrift!). Es blieb aber auch dies nur eine Andeutung, dem genaueren Betrachter freilich bemerkbar.
Alles in allem gilt von Steins Gedankenbau dasselbe, was von seinen Dialogen gilt: im Hinblick auf den zu findenden geistigen und seelischen Baustil sind auch sie ein edler Beitrag. Eine Harmonie zwischen Griechentum und Christentum hat dieser Gralsucher angestrebt. Ob jedoch überhaupt auf gedanklichem Wege diese Harmonie gefunden werden kann? Ob hier nicht die Friedensaufgabe des Dichters einsetzt?
Wohl wäre diese positive, nicht zu Dissonanzen oder Polemik neigende Natur zu Großem berufen gewesen. Nun aber ist er uns, auch als Unvollendeter, wenigstens ein ermunternd Beispiel.
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Noch einige Worte über Steins Schriften. Wer sich mit diesem nicht leicht zu erringenden Denker genauer beschäftigen will, dem wäre folgender Gang anzuraten: er lese zunächst des geistvollen H. St. Chamberlains angenehme, einheitliche Schrift »Heinrich von Stein und seine Weltanschauung« (durch eine philosophische Einführung ergänzt von F. Poske; München, Georg Müller; geh. M 1.50, geb. M 2.50). Dann greife man zu dem Heftchen »Die Ästhetik der deutschen Klassiker« (Reclam, Leipzig; 20 ?). Eine gleichfalls noch leidlich einfache Lektüre bildet Steins »Giordano Bruno« (München, Georg Müller, geh. M 1.–, geb. M 2.–). Die Gespräche »Helden und Welt« (Leipzig, Otto Weber, M 5.–) sind leider recht teuer; die Skizzen »Aus dem Nachlaß« (Leipzig, Breitkopf & Härtel) kosten M 3.–, geb. M 4.–. Die beiden fachmännischen Werke »Vorlesungen über Ästhetik« (von Steins Schülern nach Kollegienheften zusammengestellt) und die gründliche »Entstehung der neueren Ästhetik« sind bei Cotta, Stuttgart, erschienen. Inzwischen hat man sich nun auch entschlossen, Steins Aufsätze zu sammeln und herauszugeben (Stuttgart, Cotta).
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