Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.
Er findet Zutritt zur Gesellschaft

In England, mit all seinem Istratum, war Mr. Wrenn niemals in solche Begeisterung geraten, wie bei dem Anblick der weißen Eingangstür zu Mrs. Ferrards Pension in der Dreizehnten Straße, nahe der Lexington Avenue.

Das Haus liegt in einem Block, dessen Bewohner Bürgerstolz haben. Keine Zeitung dürfte hoffen, auf dem Asphalt herumliegen zu können – irgendein Hausherr mit gut gepflegtem Schnurrbart würde sich, noch bevor eine Stunde um ist, empört auf sie stürzen. Die Flure mit den schwarzweißen Marmorfußböden werden nicht von Zimmervermieterinnen, sondern von Dienstmädchen gescheuert. In den Parterrewohnungen sind an den Fenstern Spitzenvorhänge zu sehen. In einer Reihe von nicht ganz acht Häusern haben zwei Haustüren polierte Messingschilder. Ganz entschieden ist es nicht ein Viertel, in welchem Kinder schreiend und lärmend auf der Straße spielen.

Hin und wieder hält vor einem Haus eine Autodroschke, ohne daß kleine Jungen sich darum versammeln, und häufig sieht man junge Männer im Frack junge Damen abholen, die enganliegende schwarze Abendmäntel tragen und den Kopf in leichte Schals gehüllt haben. Die Bundesbruderschaft eines College im Mittelwesten hat hier ihr Klubhaus, und vier der Häuser sind Privatbesitz – eines darunter gehört dem Polizeiinspektor, und eines einem Schulleiter, der Gamaschen trägt.

Es ist ein Block, der mit sich sehr zufrieden ist; er unterscheidet sich vom Zapp-Viertel, wo die Wirtinnen in ihren Kattunkleidern auf die Straße laufen, um mit Krämern zu klatschen, nicht weniger als das Zapp-Viertel vom Ghetto.

Mrs. Arty Ferrards Haus ist ein armer Verwandter der anderen Gebäude dort. Das kleine Gitter des Vorgärtchens ist zerbrochen, die Eisenstäbe vor dem Fensterchen in der Haustür sind verrostet. Aber an den Fenstern hängen rotweiße Chintz-Vorhänge, und dazwischen steht die Porzellanfigur einer unbekleideten Dame zu $ 2,98; die Haustür ist makellos weiß, der Klingelzug aus poliertem Messing.

An diesem Klingelzug riß Mr. Wrenn mit großstädtischer Flottheit; er hoffte mit dieser energischen Geste cachieren zu können, daß er bloß deshalb, weil er einmal zum Essen eingeladen war, aus dem Häuschen geriet. Denn er gehörte zu den einsamen Männern New Yorks und hatte im Lauf der letzten acht Jahre ganze vier Einladungen zum Essen erhalten.

Die fünf- bis achtunddreißigjährige Frau, die ihm öffnete, war sehr dick, es fehlte ihr nicht viel zu Mrs. Zapps Umfang – aber sie hatte junge Augen. Ihr Mund war klein und lächelte freundlich.

»Sie sind Mr. Wrenn, nicht wahr?« begrüßte sie ihn, sich an den Türpfosten lehnend. »Ich bin Mrs. Ferrard. Mr. Poppins hat Sie schon angekündigt; er hat mir auch gesagt, Sie sind ein schrecklich netter Mensch, den ich recht gut aufnehmen soll. Kommen Sie nur herein.«

Sie ging rasch zu der großen Doppeltür rechts in der Diele voraus und riß sie auf; er erblickte ein Bild abendlicher Herrlichkeit und Schwelgerei.

Man sang (es ging so lustig zu, daß er den Eindruck hatte, Dutzende von Menschen zu sehen) laut und vergnügt zu den Klängen eines Klaviers, in einem Raum, der ganz in Rot erstrahlte – rote Tapeten, ein etwas abgetretener roter Teppich und eine hohe Decke mit rosa gefärbten Stuckverzierungen. Die Wände waren mit Originalgemälden geschmückt: alte Mühlen, Damen, die lachsfarbene Sonnenuntergänge bewunderten, und das Schönste von allem – eine Weihnachtslandschaft, deren Schnee aus echtem Perlmutter gemacht war. Auf dem großen Eichentisch in der Mitte des Zimmers stand eine schöne Lampe mit einem bunten Glasschirm, der das Licht des Glühstrumpfes in viele Farben brach.

Das übrige Mobiliar bestand aus einer Unzahl von Plüsch- und Kunstlederstühlen, kleinen Tischchen und Etagèrechen, einem Divan und einem Damenschreibtisch. Grüne, rote und gelbe, mit den Figuren junger Liebender verzierte Vasen drängten sich auf dem Klavier am anderen Ende des Zimmers und auf dem schimmernden schwarzen Marmorsims des Kamins.

Tom Poppins sprang von dem mit erschreckend neuem roten Leder bezogenen Divan auf, und Mr. Wrenn wurde in schauerlicher Geschwindigkeit den fünf unbekannten Menschen im Zimmer vorgestellt. Ihm schienen es fünfzig mal fünf unnahbare und großmächtige Fremde zu sein, vor denen er am liebsten davongelaufen wäre. Nur zwei davon nahm er mit einiger Klarheit aus – eine Miss Nelly Soundso und einen Mann, dessen Name ungefähr so klang wie Horatio Hood Tem (in Wirklichkeit war es Teddem).

Das süße Lächeln, mit dem Miss Nelly ihm ihre hübsche Hand entgegenstreckte und sagte: »Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Mr. Wrenn«, war so gewinnend, daß er es schon sehr bedauerte, ihren Zunamen (wie sich beim Essen herausstellte, Croubel) nicht verstanden zu haben.

Sie ging auf ihren Platz zurück und nahm das unterbrochene Gespräch über Strickarbeiten, das sie mit einer hageren alten Jungfer geführt hatte, wieder auf, aber Mr. Wrenn war es, als kennte er sie schon lange und so gut, wie man eine so gescheite junge Dame überhaupt kennen kann.

In Nelly Croubel glaubte er die zarte und vornehme Schönheit wieder zu erkennen, die er seinerzeit in Parthenon an der Tochter des Friedensrichters in dem Großen Weißen Haus auf der Anhöhe bewundert hatte; und dabei konnte Nelly nicht einmal besonders hübsch genannt werden. Ja, wenn man sie genau ansah, wirkte ihr Mund eigentlich zu groß und die braune Farbe ihres Haares einigermaßen gewöhnlich. Aber ihr Gesicht war stets der Spiegel ihrer munteren und freundlichen Seele. Sie hatte eine vollkommene Haut und regelmäßige, nahezu griechische Züge; ihr Lächeln schien aus einem zarten Gemüt zu kommen. Sie war etwas kleiner als Mr. Wrenn und bei aller Schlankheit rundlich. Ihre weiße Seidenbluse, in der Taille von einem feschen schwarzen Lackledergürtel umschlossen, schmiegte sich zärtlich an die jungen weichen Schultern. Die hübschen kleinen Füße mit den dünnen schwarzen Zwirnstrümpfen staken in schwarzen Pumps. Sie sah ganz so aus, als wäre sie für Arbeit und Beruf erzogen: wach, voll Sicherheit, Selbstachtung und Energie; und doch wirkte sie unerschütterlich freundlich, unerschütterlich gut und vertrauensselig, und ein ganz klein wenig schüchtern.

Nelly Croubel stand im fünf- oder sechsundzwanzigsten Jahr, aber im Beruf war sie älter, und in der Liebe viel jünger. In ihrem Heimatstädtchen, in Upton's Grove in Pennsylvanien, hatte sie achtzehn Jahre lang vergnügt und behaglich gelebt, die kleinen Briefe versteckt, mit denen junge Leute sie zu Picknicks einluden, und hin und wieder in der Sonntagsschule unterrichtet. Als sie ihr viertes Jahr an der Höheren Schule begann, starben ihre Eltern; sie ging nach New York und kam in der Weihnachtssaison in die Spielzeugabteilung bei Wanamacy, wo sie für ein Wochengehalt von sechs Dollar arbeitete. Ihre unermeßliche Geduld mit umständlichen und anspruchsvollen alten Kunden und der große Absatz, den sie erzielte, sicherten ihr eine dauernde Anstellung im Warenhaus.

Allmählich war sie zum Posten der zweiten Hilfseinkäuferin in der Wäscheabteilung emporgestiegen, der ihr vierzehn Dollar und achtzig Cent wöchentlich einbrachte. Sonst wäre von ihr wohl nur noch zu berichten, daß sie fast jeden Sonntag dem Gottesdienst in einer Presbyterianer-Kirche beiwohnte. Der einzige Mensch, den sie haßte, war Horatio Hood Teddem, der kleine Schauspieler, der, als Mr. Wrenn kam, gerade am Klavier saß.

Eben jetzt spielte Horatio, mit erstaunlicher Fixigkeit den Takt stampfend und sich immer wieder mit albernem Grinsen umdrehend, einen Ragtime.

Mrs. Arty führte ihre durcheinander schwatzende Herde in das Speisezimmer, das sich durch rosa Tapeten und ein gewaltiges Buffet auszeichnete. Mr. Wrenn wurde zwischen Mrs. Arty und Nelly Croubel gesetzt. Aus dem Nebel der Fremdheit tauchte bald Miss Mary Proudfoot auf, ein munteres, aber frommes älteres Mädchen von vierzig Jahren, das Dessert-Servietten für die Frauenarbeits-Vermittlungsstelle der Dorcas-Liga machte und ein Familieneinkommen von zweihundert Dollar im Jahr hatte. Rechts von der rotgläsernen Kompottschüssel saß das ältliche Ehepaar Ebbitt – Samuel Ebbitt, Esqu., und Mrs. Ebbitt. Mr. Ebbitt war vor fünf Jahren aus Hartford nach New York gezogen, sah aber immer noch so aus, als wäre er eben erst angekommen. Er arbeitete im Büro eines Grundstückmaklers; er war grauhaarig, übellaunig, unduldsam ehrlich und befaßte sich mit Rheumatismus und Zeitungen. Mrs. Ebbitt befaßte sich einzig und allein mit Mr. Ebbitt.

Auf der anderen Seite des Tisches saß der ehrfurchteinflößende James T. Duncan, der aussah wie ein würdiger Sonntagsschulleiter mit rotem Schnurrbart, aber für ein Konfektionshaus reiste, im Ruf eines gewaltigen Poker- und Whistspielers stand und für seine gerade Haltung und seine Fahrplankenntnisse berühmt war.

Und das waren alle.

Sobald Mrs. Arty Annie, das schüchterne Dienstmädchen, mit gutem Zureden dazu gebracht hatte, die Gemüsesuppe aufzutragen und Mr. Wrenn eine frische Serviette zu bringen, sorgte sie für die Unterhaltung. Mr. Poppins, sagte sie, hätte davon gesprochen, daß er einen Freund von Mr. Wrenn kennen gelernt habe; Mr. Morton, nicht wahr? Ein sehr netter Mann, so viel sie gehört habe. Ob es richtig sei, daß Mr. Wrenn und Mr. Morton tatsächlich den ganzen Atlantischen Ozean auf einem Viehdampfer überquert hätten? Ob das tatsächlich wahr sei?

»Ach, wie interessant!« rief die hübsche Nelly Croubel neben Mr. Wrenn; der bewundernde Blick aus ihren jungen Augen ließ sein Herz höher schlagen und machte es ihm schwer, seine Suppe zu essen. Dann geriet er in Verwirrung; der alte Samuel Ebbitt erklärte:

»Äh–h–h – achtzehn – äh – achtzehnhundertzweiundsiebzig ist die Prissie – nein, achtzehnhundertdreiundsiebzig war es, nein, es muß doch zweiundsiebzig gewesen sein –«

»Es war achtzehnhundertzweiundsiebzig, Vater«, sagte Mrs. Ebbitt.

»Achtzehnhundertdreiundsiebzig. Ich war auf einem Küstenfahrzeug, junger Mann. Aber Vieh haben wir nicht transportiert.«

Mr. Ebbitt warf Horatio Hood Teddem einen finsteren Blick zu, ließ sein Brillenfutteral mit einem scharfen Knall zuklappen und aß weiter, als hätte er den ganzen Unsinn erledigt.

Ab und zu von Witzen des Schauspielers unterbrochen, erzählte Mr. Wrenn von der Arbeit auf dem Schiff, von der Klugheit Mortons und der Bösartigkeit des Obermeisters Satan.

»Aber Sie erzählen uns ja gar nichts von den großartigen Sachen, die Sie gemacht haben«, gurrte Mrs. Arty. Sie wandte sich an Nelly Croubel: »Ich bin ganz sicher, daß er ein recht wilder Kerl war. Glauben Sie nicht auch, Nelly?«

»O ja, aber sicher.« Nellys Stimme klang wie eine Flöte.

Mr. Wrenn wußte, daß es jetzt nur eines auf der Welt gab, wonach es ihn verlangte: Miss Nelly Croubel davon zu überzeugen, daß er (obwohl er ein sehr solider, jawohl, und ein überaus ehrenhafter Geschäftsmann war) ein ganz wilder Bursche sei, der sich bei seinen Wanderungen über diese Welt mit Feuereifer in die größten Gefahren und schlimmsten Situationen gestürzt hätte. Er dachte darüber nach, was er für eine bescheidene, und doch imponierende Geschichte vorbringen könnte, während Tom mit Miss Mary Proudfoot, der gesetzten alten Jungfer, darüber debattierte, ob es sittlich zu billigen sei, wenn man Straßenbahnfahrkarten weitergebe.

Als sie den köstlichen Eierrahm gegessen hatten, wagte Mr. Wrenn zu fragen: »Sind Sie New Yorkerin, Miss Croubel?« und lauschte dann ihren Erzählungen von Schlittenpartien in Upton's Grove in Pennsylvanien. Er war restlos glücklich.

»Das heißt wirklich nach Hause kommen«, dachte er. »Und's sind auch wirklich feine Leute – jetzt wo ich sie auseinanderhalten kann. Herrjeh! Miss Croubel ist ne Schönheit. Und gescheit ist sie – Donnerwetter!«

Ganz schüchtern hoffte er, daß es ihm nach dem Essen gelingen könnte, sich mit Nelly in eine Ecke zu setzen und mit ihr zu plaudern, aber Tom Poppins konferierte mit Horatio Hood Teddem und rief dann Mr. Wrenn auf die Seite. Teddem hatte eine Woche lang für eine Filmgesellschaft gearbeitet und war jetzt glücklicher Besitzer dreier Freikarten für den berühmten Waldorf-Filmpalast.

Mr. Wrenn hatte voll Empörung Horatio Hoods weibische Äußerungen, wie »Hi hi« und »Ach, Sie Schlimmer«, mißbilligt, als er aber hörte, daß dieses Knäblein in einem Film mitspielte, ging er voll Stolz mit ihm und Tom fort. Mit Mrs. Arty über das freie Zimmer zu sprechen, hatte er keine Gelegenheit.

Er wünschte sich sehr, daß Charley Carpenter oder die Zapps ihn sehen könnten, wie er da unmittelbar neben einem Schauspieler saß, der höchst wunderbarerweise in dem Film auf der Leinwand zu sehen war, wie er ihn nach der Herstellung der Filme fragte, in einem so selbstverständlichen Ton, als kennten sie einander schon seit jeher.

Er wollte etwas mehr zur Unterhaltung seiner Freunde tun als sie bloß in ein Lokal führen. Er forderte sie auf, zu ihm zu kommen, und sie gingen mit.

Teddem war wunderbar in Form; er kopierte alle Menschen, die sie sahen, so ausgezeichnet, daß Tom Poppins genau wußte, der Schauspieler sei auf einen Pump aus. Alle drei sangen sie den Schlager der Saison – »Jedes kleine Mädel, das n nettes kleines Mädel ist, ist das richt'ge kleine Mädel für mich« – während sie die Treppe zur Eingangstür hinaufstiegen. Im Hause nahmen Poppins und Teddem komische Stellungen ein und sangen mit schallender Stimme.

Mr. Wrenn schwante nichts Gutes von Mrs. Zapp. Während er sie hinaufführte und in seinem Zimmer die Gaslampe anzündete, lauschte er ununterbrochen. Aber Teddem lieferte mit zwei Wassergläsern als Brille und einer kleinen Hutbürste als Schnurrbart eine so köstliche Kopie Oberst Roosevelts, daß Mr. Wrenn begeistert ausrief: »Hört mal, ich geh Bier holen. Oder wollt ihr lieber was anderes? Käsebrötchen? Wie wär das?«

»Fein«, riefen Tom und Teddem gleichzeitig.

Mr. Wrenn kaufte nicht nur sehr viele Flaschen Bier und Brötchen mit Schweizer Käse, sondern auch noch ein kleines Büchschen Kaviar und Salzbretzel. Als er wieder in seinem Zimmer war, legte er ein sauberes, dann zwei saubere Handtücher auf die Kommode und breitete das Festmahl aus, bei dem zwei Wassergläser und ein Rasiernapf als Trinkgefäße dienten.

Horatio Hood Teddem strich Kaviar auf ein Brötchen, sang mit großem Stimmaufwand sein Lieblingslied, brach plötzlich ab und starrte verblüfft auf die Tür.

Mr. Wrenn drehte sich rasch um. Das Licht fiel – wie auf eine Klippe aus grauem Gestein – auf Mrs. Zapp, die mit gekreuzten Armen und sprachlos vor sich hinglotzend, in ihrem gürtellosen grauen Schlafrock eine ungeheure Gestalt, auf der Schwelle stand.

»Mr. Wrenn«, begann sie mit einer hohen Stimme, die eine Flut leidenschaftlicher Worte versprach.

Aber sie hatte den furchtbaren Abenteurer Bill Wrenn vor sich. Er mußte seine Freunde schützen. Er sprang auf und ging auf sie zu.

Ganz ruhig sagte er: »Ich habe Sie nicht klopfen gehört, Mrs. Zapp.«

»Ich hab auch nicht geklopft, und ich wollte, Sie – –«

»Dann klopfen Sie, bitte, wenn Sie nicht wollen, daß ich kündige.«

Er zitterte. Seine Stimme klang schrill.

Von unten rief Theresa herauf: »Ma, komm her. Ma!«

Aber Mrs. Zapp war gut in Fahrt. »Wenn Sie meinen, daß ich mir gefallen lassen werd, daß n fauler, ekelhafter, kleiner besoffener Kerl die ganze Straße aufweckt, und noch dazu, wos beinah schon Mitternacht ist – –«

In diesem Augenblick sah und hörte Mr. William Wrenn etwas geradezu Unglaubliches und wurde für ewige Zeiten zu Tom Poppins' Sklaven.

Toms breites Gesicht wurde hart, seine Stimme überaus sachlich. Er rief Mrs. Zapp zu:

»Sie schauen, daß Sie rauskommen, oder ich schlag Sie nieder. Ihr Pech, Sie alte Hexe, Ihr Pech ist, daß Sie nicht wissen, was für nen ruhigen Mieter Sie an Wrenn haben, und ihn kujonieren wollen – und dabei wohnt er schon jahrelang hier. Hauen Sie ab oder ich schmeiß Sie raus. Ich bin kein sanftes Schaf und werd mir keine Dummheiten von Ihnen anhören. Raus mit Ihnen. Das ist nicht Ihr Zimmer; er hat es gemietet – er hat die Miete bezahlt – es ist sein Zimmer. Raus!«

Tom Poppins arbeitete in einem Zigarrenladen und war es gewohnt, den kräftigsten Betrunkenen Bescheid zu sagen. Seine Stimme klang furchtbar, er stand unerschütterlich da; er machte sich nicht das geringste daraus, daß Mrs. Zapp noch immer »sprachlos glotzte«.

Aber siehe, es erschien ein Verteidiger für die schutzlose Dame. Als Theresa unten Tom hörte, wußte sie, daß Mr. Wrenn nicht mehr bleiben würde. Sie galoppierte herauf und kreischte über die Schulter ihrer Mutter hinweg:

»Sie wollen ne Dame angreifen, was, Sie betrunkener Lümmel – Sie – Ihr Flegel – – ich werd euch alle einstecken lassen – –«

»Passen Sie mal auf, meine Dame«, sagte Tom ganz freundlich. »Ich bin Kriminaler, Detektiv.« Seine Stimme hörte sich an wie das Schnurren eines Tigers. »Ich will Sie nicht unglücklich machen, aber wenn Sie nicht augenblicklich rausgehen und die Tür von draußen zumachen, verhaft ich Sie. Sie können aber auch hinuntergehen und den Polizisten an der Ecke rufen. Dann wird der Sie verhaften – wegen Vergehen gegen § 2762 des Strafgesetzbuchs! Hausfriedensbruch und gewaltsamer Eingriff – so heißt das nämlich!«

Verlegen, eingeschüchtert, schließlich entsetzt, drehte Mrs. Zapp sich schwerfällig um und schlug die Tür zu.

So elend es Mr. Wrenn auch zumute war, er sagte voll Würde mit zitternder Stimme:

»Es tut mir schrecklich leid, daß sie so unverschämt war, während ihr hier seid. Ich weiß gar nicht, wie ich mich dafür entschuldigen – –«

»Lassen Sie doch, alter Junge«, erklärte Tom in brüllendem Baß. »Kommen Sie, gehen wir zu Mrs. Arty.«

»Aber, es ist doch beinah viertelzwölf.«

»Das macht nichts. Wir könnten noch später hinkommen. Mrs. Arty bleibt sowieso bis nach zwölf auf und spielt Karten.«

 

»Herr Gott!« flüsterte Mr. Wrenn aufgeregt, als sie lärmend – allerdings beteiligte er sich nicht an dem Lärm – bei Mrs. Arty eintraten.

Die Wohnzimmertür stand offen. Sie sahen den breiten Rücken Mrs. Artys, die eben James T. Duncan und Miss Proudfoot, mit denen sie Fünfhundert spielte, erklärte: »Also, wenn ihr euch so aufregt, sag ich grade sieben Herzen.« Sie sah sich um, nickte, rief: »Kommt rein, Kinder«, nahm den Talon und spielte aus. Der eingeschüchterte Mr. Wrenn, der sich vorkam wie eine schiffbrüchige Landratte, verglich diese kartenspielende, rauchende Frau mit der unerträglichen Wohlanständigkeit seiner lieben verlorenen Wirtin Mrs. Zapp. Verlegen, mit dem Gefühl, nur geduldet zu sein, saß er da, bis die Partie beendet war. Nelly Croubel sah er nirgends.

Plötzlich sagte Mrs. Arty: »Und jetzt möchten Sie sich gern das Zimmer ansehen, Mr. Wrenn, wenn ich mich nicht irre.«

»Ja – äh – ja, das möcht ich ganz gern.«

»Kommen Sie, Kind«, sagte sie in gemachter Ernsthaftigkeit. »Tom, Sie spielen für mich, und daß ich nicht hören muß, daß Sie ohne Joker Zehn ohne Farbenzwang angesagt haben.« Sie führte Mr. Wrenn zu der Sitzbank in der Diele. »Das Zimmer im dritten Stock wird in zwei Wochen frei. Wenns Ihnen recht ist, können wir gleich hinaufgehen und es ansehen. Der Mann, der es jetzt hat, arbeitet in der Nacht – er ist Kellner bei Rector oder so was ähnliches und kommt nicht vor drei oder vier nach Haus. Gehen wir.«

Als er das Zimmer im dritten Stock sah, das Zimmer, das man ihm bei Mrs. Arty tatsächlich überlassen wollte, kam er sich vor wie jemand, der eben eine neue Stellung bekommen hat. Es war ganz in zartem Grün gehalten – grasgrüne Matte, hellgrüne Wände, weiße Korbstühle mit grünen Kissen; das Bett, ein Divan mit einer schönen Decke und vier Sofakissen. Er hatte fast den Eindruck, in einem Haus in der Fünften Avenue zu Gast zu sein.

»Das Zimmer ist ein bißchen einfach«, sagte Mrs. Arty unsicher. »Die Möbel sind vielleicht einfach, aber mein Kellner – es ist für einen Freund von ihm eingerichtet worden – sagt, ihm gefällts am besten von allen Zimmern im Haus. Es ist wirklich gemütlich, und Sie haben hier sehr viel Sonne und – –«

»Ich möcht es nehmen – – Bitte, was kostet es, mit Verpflegung?«

Sie sprach in einem entschlossenen Ton, der ihm bloß die Wahl ließ, darauf einzugehen oder nicht. »Elf fünfzig in der Woche.«

Das war ein schrecklicher Luxus; fast so, wie wenn man mit einem Wochengehalt von zehn Dollar eine kranke Frau heiratet, mußte er denken; neunzehn weniger elf fünfzig, da blieben ihm sieben fünfzig für Kleider und Wäsche, für Ersparnisse und alles andere – und – aber – – »Ich nehm es«, sagte er hastig. Er erschrak über sich selbst, war aber froh, sehr froh. Er sollte in diesem Himmel leben; er sollte dieser Person, der Zapp entrinnen; und Nelly Croubel – – Ob sie verlobt war?

Mrs. Arty sprach: »Vorher muß ich Sie aber noch einiges fragen. Bitte, setzen Sie sich.« Als sie sich in einem der Korbstühle niedergelassen hatte, war aus der zigarettenrauchenden, gemütlichen Kartenspielerin mit einem Mal eine würdevolle, reservierte, befehlsgewohnte Frau geworden. »Mr. Wrenn, sehen Sie, Miss Proudfoot und Miss Croubel wohnen in diesem Stockwerk. Miss Proudfoot kann selbst auf sich achtgeben, das ist keine Angelegenheit, aber Nelly ist so ein vertrauensseliges, kleines Geschöpf – – Sie ist wie meine Tochter. Sie ist die einzige, der ich in meinem ganzen Leben die Miete billiger rechne – und ich habe mir geschworen, das nie zu tun! … Sagen Sie – äh? trinken Sie – ich meine, trinken Sie viel?«

Nelly in diesem Stockwerk! In seiner Nähe! Jetzt! Er mußte das Zimmer haben. Er zwang sich dazu, ganz aufrichtig und ohne jede Verlegenheit zu sprechen.

»Ich weiß, wie Sies meinen, Mrs. Ferrard. Nein, ich trink wirklich nicht viel – ich trink überhaupt kaum; nur ab und zu n Glas Bier; und manchmal vergeht mehr als eine Woche, ohne daß ich einen Tropfen trink. Und ich spiel auch nicht, und – und ich geb mir Mühe, ja – äh – ein anständiges Leben zu führen – und so weiter.«

»Das ist schön.«

»Ich arbeit für die Kunstartikel- und Nouveautés-Gesellschaft in der Achtundzwanzigsten Straße. Wenn Sie wollen, können Sie ja dort anrufen; ich glaub, der Direktor wird mir ein gutes Zeugnis ausstellen.«

»Das wird gar nicht nötig sein, glaub ich, Mr. Wrenn. Es ist ja mein Geschäft, rauszufinden, was für Tierchen die Männer sind, wenn ich bloß mit ihnen rede.«

Sie stand auf, lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. »Sie werden wirklich nett zu Nelly sein, nicht wahr! Den Teddem werd ich rausschmeißen – sagen Sie ihm nichts davon, aber ich werd es tun – er wird mir nämlich zu frech mit ihr.«

»Ja!«

Plötzlich fing sie zu lachen an und rief: »Hören Sie, das war aber schwer! Ist es Ihnen nicht auch gräßlich, wenn Sie ernst sein müssen? Gehen wir runter, und ich werd sehen, daß Tom oder Duncan eine Runde Bier spendieren, damit wir Sie bei uns begrüßen können … Ich geh jede Wette ein, daß Ihre Socken nicht ordentlich gestopft sind. Wenn ich Sie erst hier im Käfig hab, werd ich mal in Ihr Zimmer gehen und mir die Bescherung ansehen … Aber Ihre Liebesbriefe werd ich nicht lesen! Und jetzt gehen wir runter an den Kamin, dort ist es gemütlich.«


 << zurück weiter >>