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Helenens Rückkehr in ihr Vaterhaus war traurig. Da sie die Nächte gerastet, hatte man die Nachricht von ihrem Kommen früh genug erhalten, sie zu erwarten; aber wie anders ward sie jetzt empfangen, als bei ihrer letzten überraschenden Ankunft auf dem Schlosse ihrer Väter.
Der Baron lebte in der Stadt, einsam in dem großen Hause, in welchem seit dem Tode seiner Gattin nichts verändert worden war. Anfangs war es Pietät gewesen, die ihn gehindert, Neuerungen vorzunehmen. Seit Corneliens Entfernung hatte Niemand an deren Nothwendigkeit gedacht, und Auguste hatte während ihres letzten kurzen Aufenthaltes in dem Hause ihres Onkels nicht gewagt, dergleichen vorzuschlagen.
Die großen Empfangsräume, das Ankleidezimmer und Schlafgemach der Baronin waren seit Jahren nur noch geöffnet worden, sie zu lüften. Die Vorhänge und Möbel sahen trotz ihrer Schonung verblichen aus. Ihre altmodische, gradlinige Steifheit, ihre Unbequemlichkeit hatten etwas Augenfälliges, und jener Hauch des Verfalles, der in seiner melancholischen Wirkung eben so unverkennbar als unbeschreiblich ist, war über die ganze Wohnung ausgebreitet. Das helle Frühlingswetter, der Sonnenschein, der nur spärlich durch die geschlossenen Fenster einzudringen vermochte, erhöhten die Traurigkeit der Räume nur noch mehr.
Verändert in einer Weise, die sie erschreckte, trat der Baron der Tochter entgegen. Die französische Revolution, des Grafen Amtsentsetzung hatten ihn nicht schwer berührt. Er hatte den Sturz des illegitimen Bürgerkönigs mit Genugthuung, den Sturz des Grafen als verdiente Folge seines Handelns angesehen. Zu großmüthig, St. Brezan gegen Helene zu tadeln, die sein Loos zu theilen hatte, konnte er sich's dennoch nicht versagen, es gegen die Tochter auszusprechen, wie ernstlich er ihren Gatten einst gewarnt, die sichere Ruhe auf seinen Gütern dem Leben in Verhältnissen vorzuziehen, deren bedenkliche Seite ihm wohl bekannt gewesen war; wie dringend er ihm gerathen, sich nicht einer ungerechten Sache anzuschließen.
Tiefer, als diese Vorgänge, hatten ihn des Sohnes Reise nach Paris, seine Verwundung, sein Aufenthalt im Hause der Schwester, und seine warme Fürsprache für dieselbe in seinem Innern angegriffen. Er konnte es nicht ertragen, Erich von dem Eheglück Corneliens, von ihrem Kinde sprechen zu hören. Es erschien ihm wie ein absichtlicher Trotz, wie ein Hohn, mit dem man ihn und seine Ehre antaste, mit dem sein eigener Sohn ihn zu verletzen wagte. Aber selbst diesen Empfindungen nachzuhängen war ihm nicht vergönnt, denn täglich drängten neue, schmerzliche Ereignisse auf ihn ein.
Die Volksbewegungen in Deutschland, die Revolution in Wien, die vorbeugenden Schritte, zu welchen man sich in Preußen genöthigt sah, hatten ihn schnell nach einander erreicht und erschüttert, als die Botschaft von dem Tode seines Schwiegersohnes eintraf.
So behutsam der Arzt die Thatsache anzudeuten vermieden hatte, daß des Grafen Ende ein freiwilliges gewesen sei, so konnte den Seinigen doch bald kein Zweifel darüber bleiben, und jetzt ward Helenen plötzlich das Verhalten ihres Gatten in den letzten Tagen und Stunden ihres Beisammenseins verständlich. Ein dumpfer, betäubender Schmerz, wie solch jähes Ende ihn den Ueberlebenden erzeugt, bemächtigte sich ihrer Seele. Ihre unglückliche Ehe war in diesem Augenblicke wie ausgelöscht aus ihrem Bewußtsein, und an die Zukunft vermochte sie nicht zu denken unter der Last des gegenwärtigen Eindrucks. Ihre ganze geistige Kraft richtete sich auf die letzten Erlebnisse. Diese wollte sie sich zurückrufen, diese sich lebendig erhalten in der Erinnerung. Was sie und der Graf einander vorzuwerfen hatten war gebüßt, aber die Energie, mit welcher er sie zu entfernen gestrebt, die Güte, mit der er sie zuletzt entlassen, die Rührung, in welcher er ihr den Ring seiner Mutter als Talisman für ihre Zukunft mitgegeben, das Alles stand allein lebendig vor ihrem Geiste und machte sie traurig und versöhnlich.
Erst nachdem der Nachfolger des Grafen, der neue Gesandte, der Gräfin das Testament ihres Gemahls übersendet, fing sie an, ihrer veränderten Lebenslage zu gedenken.
St. Brezan's finanzielle Verhältnisse waren schon lange zerstört gewesen. Prachtliebend hatte er, als der Letzte seines Stammes, eine glänzende Erinnerung zurückzulassen gewünscht. Jedes Jahr hatte mehr als die Einnahme des Jahres verzehrt und, Zins auf Zins erheischend, ihn in tiefere Verlegenheit hinabgezogen, bis die Verschwendung für die Tänzerin und ihre immer wachsenden Ansprüche ihn vollends ruinirten. So lange er in seinem Amte blieb, war die üble Lage, in welcher er sich befand, zu verbergen gewesen. Seine Entlassung aber machte dies fortan unmöglich, und noch in derselben Nacht, in welcher er den Sturz der Dynastie und seinen eigenen erfahren hatte, mußte der Entschluß des Selbstmordes ihm gekommen sein.
Mit der umsichtigsten Klarheit hatte er von der Stunde ab alle Maßregeln getroffen, so weit als thunlich durch eine Versteigerung seiner schwer verschuldeten Güter seinen Gläubigern gerecht zu werden. Unter dem Vorwande seiner Abreise hatte er selbst den Verkauf seiner Equipagen, seiner Pferde und seines ganzen Privateigenthumes eingeleitet, und einem Geschäftsmanne, dessen er sich oft bedient, die letzte Ordnung dieser Verhältnisse übertragen. Helenens Ausstattung ward ihr übermacht. Eine mäßige Summe, die er beim Beginne ihrer Ehe für sie in Fonds in der englischen Bank niedergelegt, bildete ihr ganzes Erbe. Es war neben dem kleinen Vermögen, das sie von ihrer Mutter erhalten, ihr einziger Besitz.
Niemand außer der Gräfin und ihrem Vater hatte den Brief des Arztes gelesen, und der Baron erwähnte selbst gegen Helene den Selbstmord des Grafen nicht. Die Zeitungen berichteten seinen plötzlichen Tod nach mehrjährigen asthmatischen Leiden, die conservativen Blätter setzten ihn auf die Rechnung des Schmerzes über die hereinbrechenden anarchischen Zustände. Nur in den engeren Kreisen seiner Bekanntschaft sprach man von den derangirten Verhältnissen, in denen er sich befunden haben sollte. Aber die allgemeine Teilnahme war durch die europäischen Zustände in Anspruch genommen. Niemand hatte Zeit, sich um die Angelegenheiten eines Hingegangenen wesentlich zu kümmern, und der Graf bewahrte über das Grab hinaus den Namen eines vollständigen Cavaliers, der seinen Stolz im Leben gemacht hatte.
Der Gräfin aber genügte diese äußere Ehre nicht. Auferzogen in der strengen Rechtlichkeit ihres Vaterhauses, konnte sie den Gedanken nicht ertragen, Menschen in der Welt zu wissen, die ihrem Gatten Verschwendung und Unredlichkeit zum Vorwurf machen konnten. Ohne zu zögern, überwies sie den Gläubigern St. Brezan's das in England befindliche Capital. Sie verkaufte ihren Schmuck, und mit dem Gefühle einer Pflichterfüllung wendete sie sich an Feldheim, um durch ihn den Verkauf aller von ihr gemalten Bilder zu bewirken. Wie sie einst mit Schamgefühl den Ertrag ihrer liebevollen Arbeit den Launen eines unwürdigen Geliebten geopfert, so gab sie jetzt mit freudiger Erhebung den Preis ihrer Werke hin, dem Andenken ihres Gatten gerecht zu werden.
Der Baron leistete ihr bei allen diesen Unternehmungen seinen Rath und seinen Beistand. Helene schien nicht Ruhe finden zu können, ehe diese Angelegenheit geordnet war. Erst als sie ihren Schmuck dem Curator ihres Mannes übersandt, die Vollmacht zum Verkaufe ihrer Bilder ausgefertigt hatte, erst dann schien sie an sich selbst zu denken. Und nicht Helene war es, sondern Auguste, welche die erste Frage nach der Gräfin eigener Zukunft auswarf.
Das Wiedersehen der beiden Frauen war ein ruhiges gewesen; die Erfahrung, daß das Leben in seinen Combinationen alle Voraussicht, alle Wahrscheinlichkeit zu nichte macht, hatte sich auch hier bestätigt. Oft genug hatten Beide sich es ausgemalt, wie peinlich eine erste Begegnung ihnen nach Augustens Scheidung sein müsse. Beide hatten dabei den Maßstab ihres früheren Empfindens angelegt, ohne zu bedenken, daß unsere Gefühle mit den äußeren Bedingungen unseres Lebens wechseln.
Glücklich an der Seite ihres zweiten Gatten, wohlhabend geworden durch den Tod seines Onkels, in den geachteten Verhältnissen, geehrt in der Gesellschaft als die Frau des ausgezeichnetesten Kanzelredners der Stadt, fühlte Auguste sich schon lange so befriedigt durch ihr gegenwärtiges Loos, daß sie an die Zerwürfnisse ihres früheren Lebens nur noch wie an bange Träume zurück zu denken vermochte. Je aufrichtiger ihre Neigung für ihren Gatten war, um so unbegreiflicher dünkte es ihr, daß sie einst Georg geliebt, daß sie einst Friedrich's Weib gewesen. In der Ausschließlichkeit, mit der die Liebe den Augenblick für sich verlangt, mit der sie zum Vergessen drängt, liegt ihre regenerirende Kraft, denn jede rechte Liebe tilgt die Vergangenheit im Herzen aus.
Daß Friedrich und Helene sich geliebt, daß diese Liebe störend in Augustens Dasein eingegriffen hatte, war von ihr verschmerzt, seit sie gelernt, ihre Scheidung von Friedrich für ihr größtes Glück zu achten. Die Eifersucht, welche sie sonst gegen die Vorzüge ihrer Cousine gehegt, verstummte jetzt, da sie keine Nahrung fand. Was hatte das geliebte Weib eines allgemein verehrten Mannes der gräflichen Wittwe zu beneiden, die sich ihres Besitzes entäußerte, um die Schulden ihres Gatten zu tilgen? Die so lebensmüde war, daß sie der eigenen Bedeutung, der eigenen Schönheit nicht mehr dachte, so herzgewinnend sie auch in der Bescheidenheit der tiefen Trauertracht erschien?
Helene war der Cousine mit jener Demuth entgegengetreten, die man empfindet, wo man Schmerz bereitet hat. Augustens Empfang, die Theilnahme, welche sie ihr bewies, gewannen die Gräfin schnell, und ohne sich zu sagen, welchen Antheil die veränderten Verhältnisse Augustens an ihrem veränderten Betragen hätten, fühlte Helene sich zu einer Dankbarkeit, zu einer Anerkennung geneigt, die bei der Wärme ihres ganzen Wesens auf Auguste und auf deren Gatten die wohlthuendste Rückwirkung erzeugten.
Auguste konnte nicht müde werden, es auszusprechen, wie sehr Helene sich gebessert habe, nicht müde werden, zu versichern, daß sie ihr Unrecht gethan in ihrem Innern. Hülfreich von Natur, fand sie eine Befriedigung darin, der gebeugten Frau thätig und tröstend zur Seite zu stehen, ohne daß sie sich es zu bekennen wagte, wie wohl ihr selber der Beistand that, den sie der Gräfin leistete, wie wohl es ihr that, aus einer Empfangenden der Cousine gegenüber eine Gewährende zu werden.
Sie half Helenen sich häuslich bei dem Vater einzurichten, bei dem zu bleiben die Tochter jetzt als ihre Pflicht ansah. Sie sprach davon, daß Helene neue Arbeit, neue Zwecke für sich finden müsse, nur von Friedrich sprachen Beide nicht, und das Herz der Gräfin war zu schwer bedrückt, war zu lange an die Last der lähmenden Entsagung gewöhnt gewesen, um sich in diesen Augenblicken irgend einer Lebenshoffnung zu erschließen. Hoffnung ist eine Kraft, die dem Müden fehlt. Sie versagt sich dem Menschen, wenn er ihrer am Nöthigsten bedarf.
Die einzige freudige Erwartung, der sie Raum gab, galt der Rückkehr Erich's, den Georg begleiten wollte. Jeder neue Tag schien diese Rückkehr dringender zu fordern, denn auch über Preußen zog sich das Ungewitter der Revolution immer unverkennbarer zusammen. Eine dumpfe Schwüle lag über Allen. Der Leichtsinnigste mußte sie empfinden. Einzelne Zeichen waren vorausgegangen wie die Wirbelwinde, die den Ausbruch des Orkans verkünden.
Der Baron, der sein Haus fast gar nicht mehr verließ, als um Mittags im Wagen eine Spazierfahrt um die Stadt zu machen, sprach seine Befürchtungen nicht aus, vermied es, mit Anderen zusammenzukommen, und äußerte nur gegen Augustens Gatten, daß es an der Zeit sei, zusammenzuhalten im starken Glauben an das gute, alte Recht. Der Superintendent aber, der einen lebhaften Briefwechsel mit seinen Freunden in der Residenz unterhielt, und auch mit seiner Fürstin in unausgesetztem Zusammenhange stand, empfing täglich Berichte aus der Hauptstadt. Sie wurden dem Barone mitgetheilt, Sidonien und ihrem Umgangskreise zugesendet, und Helene sah es mit Schrecken voraus, wie fremd sich ihre Brüder in dem Kreise fühlen mußten, in den sie wiederkehren wollten, wie schroff ihre und des Vaters Auffassung der Dinge sich entgegenstehen würden.
Erich und Georg hatten ihre Abreise von Paris gemeldet und hinzugefügt, daß auch Friedrich an die Rückkehr denke, daß selbst der Doctor sich rüste, nach Deutschland aufzubrechen, als plötzlich die Nachricht ausblieb, die Erich von Berlin über den Tag seiner Ankunft zu geben versprochen hatte. Der Gedanke, daß die Reise ihm nachtheilig geworden, daß ein Rückfall ihm zugestoßen sei, fing an, sich Helenen Besorgniß erregend aufzudrängen, als ein unbestimmtes Gerücht von einer Revolution in Berlin sich in der Stadt zu verbreiten begann.
Die Posten, die am Nachmittag kommen sollten, waren nicht eingetroffen. Die Unruhe wuchs, die Gerüchte steigerten sich maßlos. Der Baron hatte mehrmals zu dem Superintendenten geschickt, um zu erfahren, ob er keine Nachrichten erhalten habe, aber der alte Diener war immer ohne Auskunft heimgekehrt.
Mit einer Rastlosigkeit, die Niemand je an dem Greise gesehen hatte, trieb ihn die Sorge im Hause umher. Bald ging er durch die lange Zimmerreihe, bald stieg er in den Garten hinab, um eben so schnell in die Gemächer des Hauses zurückzukommen und, das Fenster öffnend, die Straße hinunter zu schauen, als erwarte er irgend eine Botschaft. Sein Antlitz war von der Aufregung geröthet, seine Hände starr und kalt. Helene, welche den quälenden Zustand ihres Vaters den ganzen Tag beobachtet hatte, ohne ihn im Geringsten von den Gedanken abziehen zu können, die ihn ausschließlich beschäftigten, war froh, als gegen Abend Auguste eintrat, den Rest des Tages mit ihnen zuzubringen.
Kaum aber hatte der alte Baron sie erblickt, als er ihr entgegenrief: »Hat Dein Mann Nachrichten erhalten?«
»Nein! lieber Onkel! es verlautet jedoch, es sei ein Courier nach Petersburg hier durchgegangen, den habe man aufgehalten, ihm seine Depeschen abgenommen, und mein Mann ist selbst nach der Post geeilt, zu hören, was geschehen, was man wisse, und ob für ihn Nichts angekommen sei?«
In dem Augenblick öffnete der Superintendent die Thüre. Seine Blässe, die ungewohnte Hast seiner Bewegungen ließen ein unheilvolles Ereigniß errathen. Er war athemlos vom raschen Gehen.
»Ein Aufstand in Berlin!« sagte er mit der Schnelligkeit des Entsetzens, »ein furchtbarer Kampf in der Stadt, eine Revolution, die – –«
»Nein!« rief der Baron, während seine Augen weit aus ihren Höhlen hervorstarrten, als sähe er ein Ungeheuer sich ihm nahen. »Nein! Nein!« wiederholte er mit einer Macht der Stimme, vor der die Seinigen erschraken, weil sie weit über die Kraft des Greises hinauszugehen schien.
»Der Prinz,« fuhr der Superintendent fort, »und die Truppen haben die Stadt verlassen, der König hat Frieden gemacht mit der Revolution. Lesen Sie! – den Brief erhalte ich aus des Monarchen nächster Nähe!«
Der Baron nahm das Blatt, aber er mußte sich niedersetzen. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Mit lauter deutlicher Stimme wiederholte er das schon Gelesene.
»Der Prinz und die Truppen haben die Stadt verlassen, der König hat Frieden gemacht mit der Revolution,« sprach er gemessen und tonlos, als könne er's nicht fassen. Das Blatt entfiel seiner Hand. Er versank in Schweigen. Niemand wagte zu sprechen, Alle sahen, wie der Schmerz in ihm kämpfte. Plötzlich erhob er sich, fuhr mit den Händen gegen seine Stirne und brach lautlos zusammen.
Die Anwesenden sprangen herzu, der Baron hatte seinen letzten Athem ausgehaucht. Mit der alten Zeit hatte er geendet.