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Neuntes Kapitel.

Die Schweizerreise war lange beendet, und Larssen und Regina waren in die gewohnten Verhältnisse nach Paris zurückgekehrt, ohne daß die Letztere den Frieden der Entsagung wieder finden konnte. Den Schmerz einer neuen Unterredung und die Schwäche ihres eigenen Herzens fürchtend, hatte sie den Geliebten nicht wieder gesehen, ehe sie England verlassen. Larssen's treue Bemühungen sie zu erheitern, waren eben so vergebens gewesen, als seine Erwartung, daß die Größe, Schönheit und Frische der Alpenwelt auf Regina wohlthuend und erhebend einwirken würden. Ihre Entmuthigung war so tief, daß sie Nichts zu empfinden vermochte, als ihre eigene Hoffnungslosigkeit, als den Schmerz über die unabweisliche Stimme in ihrem Innern, die sie von dem Geliebten trennte.

Weit entfernt, Trost zu finden in der Natur, in der sie die Allmacht und die Güte Gottes tief verehrte, tönte ihr aus den erhabensten Wundern der Alpenwelt immer nur die eine Frage entgegen: warum aus der Hand des Allgütigen, des Allweisen diese Qualen, diese Versuchung über ein armes Frauenherz? Warum für Margarethe die Hand sorglicher Elternliebe, der Schutz eines edlen Gatten, die Freude an einem schönen Kinde? warum ihr der schöne, friedensvolle Lebensweg und warum mir Verwaisung und frühe Noth, warum mir die Begegnung mit Erich, die Quelle aller meiner Leiden?

Sie mußte die Gedanken gewaltsam abwenden von diesen Fragen, sollte nicht der Zweifel an ihren Gott und seine weise Vorsehung in ihr die Herrschaft gewinnen, sollte ihr nicht der letzte Trost zerstört werden, die Zuversicht in ihren Glauben und in die, Alles zum Besten ordnende Vorsehung ihres Gottes.

Mit einer Hast, die Larssen auffallend war, trieb sie zur Rückkehr nach Paris, so daß sich die Vorstellung seiner bemächtigte, sie sei anderen Sinnes geworden, und sehne sich nach der Nähe des Geliebten. Als er ihr das eines Tages mit liebevoller Schonung aussprach, lächelte sie traurig.

»Ach nein!« sagte sie, »durch das Wiedersehen des geliebten Mannes ist mir nicht zu helfen. Wie sollte es mich beruhigen, ihn vor meinen Augen leiden zu sehen? Nicht den Geliebten suche ich, ich gehe, meine älteste und treueste Freundin aufzusuchen, die mir beigestanden von Kindheit an in aller Lebensnoth!«

Larssen sah sie befremdet an, als wisse er sich diese Worte nicht zu deuten. Sie bemerkte es. »Ich bin das Kind der arbeitenden Stände, ich muß arbeiten!« sagte sie. »Der hinträumende Müßiggang des Wohllebens ist nicht für mich. Gott hat mir bei meiner Geburt den Weg der Arbeit vorgezeichnet, ist Friede für mich vorhanden auf Erden, so wird er mir auf diesem Wege, so wird der Friede mir aus der Arbeit kommen.«

Dieser Ansicht folgend, versenkte sie sich bei ihrer Rückkehr nach Paris augenblicklich mit erneutem Eifer in das Studium ihrer Kunst, und als wolle sie sich keine Muße gönnen, dem Grame nachzuhängen, so begann sie ein junges Mädchen, bei der sie eine große musikalische Begabung wahrgenommen hatte, künstlerisch auszubilden. Aber auch die Arbeit versagte ihr den erwarteten Trost, und in der Erschöpfung nach derselben wuchtete der zurückgedrängte Schmerz sich um so schwerer über die Widerstandslose, so daß der Doctor sie endlich zu einer Aenderung ihres Entschlusses zu bewegen, und für eine Vereinigung mit Georg zu bestimmen versuchte.

Er stellte ihr vor, daß der Zwiespalt in ihrem Innern aus einer falschen Anschauung der Verhältnisse hervorgehe. Er fragte sie, ob sie Bedenken tragen würde, als Wittwe den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heirathen? Er sprach ihr von den Fällen, in denen geschiedene Frauen ein solches Bündniß eingegangen wären. Er gab ihr zu bedenken, daß sie Unrecht thue, neben ihrem eigenen Dasein auch das Dasein des Geliebten zu zerstören. Er bot Alles auf, was seine Einsicht ihm Ueberzeugendes einzugeben vermochte, indeß Regina blieb unüberwindlich. Die Empfindung, daß sie mit ihrer freien Hingabe an Erich ein Verbrechen gegen Gottes Gebote begangen habe, ein Verbrechen, das sie auf immer von Georg entfernte, blieb mächtig in ihr; denn diese Empfindung ging aus der religiösen Ueberzeugung hervor, die für Regina's Natur ein Bedürfniß war. Dennoch vermochte der Glaube sie nicht über ihre Entsagung zu trösten, dennoch vermochte Georg sich in den Gedanken dieser Entsagung nicht zu finden. Er hatte ihr fortdauernd geschrieben, und Regina selbst hatte nicht den Muth gehabt, auf diesen geistigen Zusammenhang Verzicht zu leisten, obschon sie fühlte, daß er es ihr unmöglich mache, zur Ruhe zu gelangen.

Schmerzzerrissen durch die Briefe des Geliebten, und von Angst gemartert, sobald sie auf sich warten ließen, voll Sehnsucht nach ihm und voll Furcht vor seiner Gegenwart, befand Regina sich in einer Aufregung, die ihr alles künstlerische Schaffen unmöglich zu machen begann, die ihr selbst den Trost entzog, den sie in der Ausübung ihrer Kunst zu finden erwartet hatte.

So kam der Tag heran, an dem sie nach ihrer Rückkehr zum ersten Male wieder auf der Bühne zu erscheinen hatte. Nach ihrer sechsmonatlichen Abwesenheit war dies ein Ereigniß für Paris, und Regina selbst hatte diesem Abende mit jener freudigen Erregung entgegengesehen, mit der man im Unglück jede bevorstehende Veränderung der Verhältnisse betrachtet.

Der Wagen, der sie nach der Oper bringen sollte, war bereits angelangt, Regine schien weniger traurig als seit langer Zeit, und im Begriffe aufzubrechen, sagte sie lächelnd: »Ich fühle mich heute freier, es ist mir wie dem wunden, müden Schlachtrosse, das aus der Ferne die Fanfaren seines Regimentes schmettern hört und sich noch einmal aufrafft, den sieggewohnten Herrn zu neuem Kampfe zu tragen. Das Gewühl der Schlacht wird mir gut thun, ich hoffe, es wird mir besser werden!«

»Amen!« rief Larssen, und Regina öffnete die Thüre, um sich zu entfernen, als Georg vor ihr stand.

Sie schlug die Hände vor das Gesicht, trat wie schwindelnd zurück, und rief mit vorwurfsvoller Klage: »Warum thaten Sie mir das?«

»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen,« sagte er einfach und ruhig, »fern von Ihnen zu sein, wenn Tausende von Menschen ihre Blicke auf Sie richten. Ich mußte kommen!«

»So kommen Sie!« rief Regina mit gewaltsamer Fassung, verließ die Ueberraschten und fuhr in das Theater.

Ihr Erfolg war der glänzendste, den sie noch je errungen. Sie hatte sich selber übertroffen. Das Publikum war fanatisirt. Der Enthusiasmus des Beifalls riß Regina selber fort. Sie vergaß Georg, sie vergaß den eigenen Schmerz, die Zweifel, die Angst und das Verzagen der letzten Monate. Ihre Augen strahlten wieder die alte, gewaltige Schöpferkraft, und tief aufathmend sagte sie, als Larssen nach beendigter Darstellung in ihre Garderobe trat, sie abzuholen: »Das ist meine Welt! ich habe mich wiedergefunden!«

Indeß nur kurze Zeit genoß der treue Freund die Genugthuung, Regina also neu belebt zu sehen. Denn kaum war sie heimgekehrt, kaum hatte sie den Geliebten wiedergesehen, als sie fühlte, daß der Kampf noch nicht beendet sei.

Tiefer, gewaltiger als seine Briefe, erschütterten sie die Worte des Geliebten. Sie sah die Thränen des sonst so männlichen, festen Mannes. Sie hörte ihn mit flehender Bitte von ihr sein Lebensglück begehren, sie hörte den Vorwurf, daß sie aus selbstsüchtiger Entsagungslust, daß sie aus der Eitelkeit der Künstlerin sein Dasein zum Schmerz, zur Einsamkeit verdamme – und überwältigt von der eigenen Liebe, wie von seinen Klagen, sprach sie es aus, was er so lange schon gefordert, die Zusage, sein Weib zu werden.

Kaum aber war das Wort ihren Lippen entflohen, kaum hatte Georg sie aufjauchzend an sein Herz geschlossen, als sie sich mit einem Schrei der Angst aus seinen Armen losriß und von ihm floh.

Vernichtet in seinen Hoffnungen, blieb Georg zurück. Cornelie, der Doctor und Larssen versuchten ihn zu beruhigen, Alle aber forderten seine Entfernung, Alle verlangten, daß er Regina weiter nicht bestürme. Er hatte keine Klage mehr, keine Antwort auf die Fragen seiner Freunde. In stummem Schmerze saß er regungslos da. Man konnte an dem Schwellen seiner Adern, an den zusammengepreßten Lippen sehen, in welchem Todeskampfe sein Herz befangen war. Endlich, es war tief in der Nacht, erhob er sich.

»Das ist vorüber!« sprach er fest. »Ich kehre morgen früh nach London zurück. Lebt wohl!«

Cornelien zerriß der Anblick seines Schmerzes die Seele. Sie wollte ihn zu verweilen bitten, sie wollte trösten, Hoffnungen erregen – denn sie war ein Weib und liebte den Bruder. Aber Georg wehrte ihr.

»Laß es gut sein!« rief er. »Hier hilft kein Handauflegen. Der Stoß sitzt tief. Laßt die Wunde bluten. Möge Regina Ersatz finden in der Kunst, mir wird sie – – mir wird Regina unersetzlich bleiben. Sagt ihr das!«

Damit umarmte er die Schwester, die Männer begleiteten ihn zu seinem Gasthofe. Er wollte zu ruhen versuchen, ehe er wieder aufbrach, aber ihn floh der Schlaf. So oft ein verspäteter Gast die Glocke ziehend in seine Wohnung zurückkehrte, glaubte er, Regina sende zu ihm. Er lauschte, ob die Schritte des Kommenden sich nicht nach seinem Zimmer hin bewegten. Er mußte sich überwinden, die Schelle nicht zu ziehen, den Kellner nicht zu fragen, ob keine Botschaft für ihn angekommen sei, denn Liebe ist mit einem Schlage nicht zu tödten, und jede Anstrengung, sie gewaltsam in uns zu zerstören, steigert ihre Herrschaft über uns.

Das empfand auch Regina. Von den widerstreitendsten Empfindungen gemartert, von Schreckbildern aufgescheucht, von glückversprechenden Vorstellungen bis zu Thränen gerührt, stieg ihre Qual, als Cornelie ihr den letzten Gruß des Bruders überbrachte. In fiebernder Angst ging sie im Zimmer auf und nieder. Sie sah Georg auf dem Meere. Das Schiff versank. Sie sah ihn auf's Neue von seiner Reiselust ergriffen, in fremden Zonen umherschweifend, in wilden Abenteuern untergehen. Und sie, sie war es, die ihn hinausgetrieben aus dem Hafen, nach dem er sich gesehnt, in Graus und Tod. Es kam wie Wahnsinn über sie. Dann wieder hoffte sie, er werde Frieden finden, er werde sie vergessen, und doch krampfte sich ihr Herz zusammen bei solcher Hoffnung. Sie stellte sich vor, wie Richard und Margarethe ihn trösten, wie sie bemüht sein würden, Ersatz für ihn zu suchen. Sie sah ihn verheirathet, sie sah ein schönes Weib, blühende Kinder an seiner Seite, und laut ausbrechend in Verzweiflung, rief sie: »Fluch! Fluch über ihn, der dies Schicksal über uns verhängte!« und zusammenbrechend unter der Gewalt der eigenen Worte jammerte sie: »Gott im Himmel, ich fluche – meinem Gatten!«

Ihre Gedanken fanden keinen Halt mehr. Es kam ihr vor, als böten ihr Cornelie, Larssen, der Doctor keine Stütze. Der große Schmerz macht immer ungerecht. Sie sehnte sich nach einem andern Menschen, sie verlangte nach neuer Hülfe für ihr neues unerhörtes Leid, und plötzlich tauchte Friedrich's Bild, wie ein Stern aus tiefer Nacht in ihrer verdüsterten Seele empor.

Mit der Hast der Angst eilte sie zum Schreibtisch, als könne der erste Federstrich ihn in ihre Nähe zaubern.

»Ich lebe noch, Friedrich!« schrieb sie mit fliegender Eile. »Regina lebt noch. Ich bin die Tosta, der Europa huldigt, ich bin die Gefeierte, die Beneidete, und ich bin elend, schmerzverdammt für immerdar.

Als ich einst weinend von dem stillen Vaterhause schied, ein armes, mutterloses Kind, da hast Du mir gesagt: ich will vergelten, was Deine Mutter mir gethan hat, und wenn Du Dir einmal im Leben nicht zu helfen weißt, so sag' es mir und ich werde kommen!

Die Stunde ist da! Komm und hilf mir, Friedrich! denn ich weiß mir nicht zu helfen.

Regina.«

Als sie das Blatt gefaltet und gesiegelt hatte, stürzten ihr die Thränen aus den Augen. Sie fing an von ihrem gegenwärtigen Leiden in die Vergangenheit zurückzublicken, und wie ihre Künstlerphantasie sich erschöpft hatte in Vorstellungen des Unheils, das ihre Weigerung auf den Geliebten herabbeschwören könne, so hatte ihre tragische Kraft sich in die Zeilen geworfen, die sie für Friedrich geschrieben. Ihr Schmerz hatte seinen höchsten Grad erreicht, nun ward sie ruhiger.

Schon nach ihrem ersten Auftreten auf der Bühne hatte sie ein lebhaftes Verlangen gefühlt, dem Jugendfreunde Nachricht von sich und von ihren Erfolgen zu geben. Damals aber hatte Friedrich in Erich's unmittelbarer Nähe gelebt, und Cornelie ihr widerrathen, eine Anknüpfung zu wagen, welche für Erich's Ruhe bei der Art seiner Ehe gefährlich, für Regina selbst in keinem Falle heilsam sein konnte. Und als dann Georg ihr begegnet, als sie sich der Liebe für ihn bewußt geworden war, da hatte eine tiefe Scheu vor den Erinnerungen an ihre Vergangenheit sich ihrer bemächtigt. Sie hatte sie nicht freiwillig erwecken, sie hatte selbst Friedrich nicht wieder sehen mögen, sondern in festem Glauben an die Vorsehung es dieser überlassen, sie früher oder später mit dem unvergessenen Freunde ihrer Kindheit wieder zusammenzuführen.

Jetzt aber in der bittern Noth ihres Herzens, jetzt da sie ihre Zukunft verloren geben mußte, da ihre Gegenwart von Gram umnachtet war, da streckte sie dem Entfernten hülferufend die Arme entgegen, jetzt warf sie sich an seine Brust, wie an dem Tage, an welchem sie die Vaterstadt nicht zu verlassen und bei den alten Freunden zu bleiben gefordert hatte.

Friedrich war tief erschüttert, als er ihren Brief erhielt. Das Aphoristische, das Geheimnißvolle desselben mußten nur dazu beitragen, seine Ueberraschung, seine Besorgniß um Regina noch zu steigern. Seit Jahren hatte er gewußt, daß die allgefeierte Sängerin Regina Tosta Corneliens Freundin sei, daß sie in ihrem Hause lebe; aber wie aus dem von ihm halbvergessenen Kinde seiner Freundin, wie aus Regina, aus Erich's verlassener Geliebten, Corneliens Freundin und die erste Sängerin ihrer Zeit geworden war, welches Schicksal sie jetzt so sehr nach ihm verlangen machte, daß die Verborgene sich ihm entdeckte, das vermochte er nicht zu enträthseln. Seine ganze Theilnahme war aufgeregt. Noch in derselben Stunde schrieb er ihr, er werde kommen, und schon am nächstfolgenden Tage hatte er, von Sorge und Spannung angetrieben, sich auf den Weg zu ihr gemacht. Erst während der Reise kam er zur Ueberlegung.

Die Eile, mit der er aufgebrochen war, die Sorge, in welcher er sich um Regina's willen befunden, die Aussicht, den Doctor, Cornelie und Larssen wieder zu sehen, Frankreich und vornämlich Paris kennen zu lernen, hatten ihn des Scheidens von Italien kaum gewahr werden lassen, vor dem er stets so sehr gebangt. Ein plötzlich nothwendiger Entschluß, ein scharfer, schneller Riß – und er hatte das Land verlassen, an das er sich mit seinen tiefsten Empfindungen gekettet fühlte. Fast ohne zu wissen, wie es geschah, fand er sich in einer Art von zauberhafter Ueberraschung in Paris.

Es war spät am Abend, als er die Barrieren der Stadt passirte, und durch die in Gaslicht schimmernden Straßen fuhr. Es war fast Nacht geworden, ehe er von seinem Gasthofe Regina's Wohnung erreichte.

So oft er in den langen Jahren, die seit ihrer Trennung verflossen waren, sich Regina's erinnert, so häufig ihm ein Wiedersehen mit ihr in den verschiedensten Gestalten vorgeschwebt, immer hatte sie ihm vor Augen gestanden, wie er sie zuletzt gesehen. Auch ihr Brief hatte ihn an jene Zeit gemahnt. Die leeren Wände, der halbdunkle Raum, in dem das Kind nähend dagesessen, waren in ihm unzertrennlich von dem Bilde des Mädchens, an dem er mit treuer Liebe festgehalten hatte, und als jetzt ein galonirter Diener ihm den Empfangsaal der Sängerin öffnete, als er sich von einem fürstlichen Luxus umgeben sah, als eine der schönsten Frauen sich erhob, dem Erwarteten entgegen zu eilen, trat er scheu und fremd zurück. Er schalt sich einen Thoren, aber sein Herz erlitt eine Enttäuschung. Trotz Regina's Schönheit, trotz des Adels ihrer Erscheinung, vermißte er in ihr das Kind, das er geliebt. Regina bemerkte, was in ihm vorging. Es that ihr wehe. Ihre Arme, die bereit gewesen waren, sich dem brüderlichen Freunde zu öffnen, sanken traurig herab.

»Ich bin Dir fremd geworden!« sagte sie klagend. »Mein Anspruch an Dich, mein Vertrauen zu Dir werden Dir unberechtigt scheinen! Vergieb, daß ich Dich rief!«

»O Regine, strafe mich nicht so hart für ein so natürliches Empfinden!« rief Friedrich, indem er ihre Hände ergriff und ihr mit immer steigender Freude in das Antlitz sah. »Der Wechsel ist so wunderbar, so mährchenhaft! Gönne mir nur kurze Zeit, mich zu besinnen, daß Du Regine, daß Du's wirklich bist!«

»So ist denn Nichts, gar Nichts an mir geblieben, wie es war?« fragte sie mit Wehmuth, indem sie nun auch ihrer Seits ihre Blicke betrachtend auf dem Freunde ruhen ließ.

Aber grade dieser ruhige Blick ergriff ihn mit der Allgewalt der Erinnerung. »Das sind die Augen Deiner Mutter!« rief er, plötzlich tief bewegt, während Thränen seine Wimpern netzten, »die treuen, liebevollen, unvergessenen Augen! Wenn sie Dich sähe, wenn sie uns so beisammen sähe in Paris, dem Ziele ihrer Sehnsucht!«

Regina antwortete nicht. Beide schwiegen in feiernden Gedanken, aber das Gefühl der Fremdheit war mit dieser Erinnerung von ihnen genommen, und Fragen und Gegenfragen tauchten zwischen ihnen auf. Regina war dabei im Vortheil, denn sie kannte Friedrich's Schicksale, indeß auch dieser vermochte bald den Lebensweg der Freundin bis zu dem Wendepunkte, auf dem sie sich befand, zu übersehen. Sie hatte zu ihm mit Wärme, mit offener Hingebung gesprochen, plötzlich stockte sie. Ihre Farbe wechselte schnell von dunkler Röthe zu tiefer Blässe, ihr Busen hob sich in stürmischer Bewegung. Sie wollte sprechen, die Worte fehlten ihr. Friedrich wußte nicht, was er davon denken sollte, dennoch empfand er, daß er ihr zu Hülfe kommen müsse. Aber er selber fühlte jene heilige Scheu, welche die Achtung vor dem Schmerze, vor dem Unglück einflößt.

Zögernd und mit mildem Tone sagte er endlich: »Deine Künstlerlaufbahn ist voll Schönheit, ist eine Lebensvollendung, wie sie nur wenig Auserwählten zu Theil wird, und doch nanntest Du Dich elend, schmerzverdammt für immerdar; doch fordertest Du Trost von mir. Was bedrückt Dich, Regina? Was kann ich für Dich thun?«

Sie blickte ihn eine Weile unruhig an, der Ausdruck seiner Liebe rührte sie, aber es währte lange, ehe sie zu antworten vermochte. Plötzlich aber ließ ihre Erregung nach, ihre natürliche Farbe kehrte zurück, sie ergriff seine Hände wieder, und mit der Schüchternheit eines bangen Kindes bat sie: »Bleibe bei mir, Friedrich!«

Er sah sie betroffen an. Der Kenner des Menschenherzens, der Dichter, wußte sich diesen Uebergang in ihrer Seele, wußte sich diesen Ausruf nicht zu erklären. »Und nur um dies zu fordern, verlangtest Du nach mir?« fragte er mit einem Tone, der sein Erstaunen kundgab.

»Hast Du nie als Knabe Nächte verlebt, in denen selbstgeschaffenes Entsetzen Deinen Sinn umstrickte, bis der Gedanke an Rettung Dir entschwand?« antwortete sie ausweichend. »Hast Du nicht aufgeschrien in der Todesangst des Unterliegens und, von dem eigenen Schrei erwacht, das Tageslicht, und mit ihm Trost und Klarheit Dir entgegenleuchten sehen?«

»Gewiß, das habe ich! aber –«

»Nun so denke,« unterbrach sie ihn, »daß wir ja alle Kinder bleiben, und daß es Nacht, recht tiefe Nacht in unserem Innern sein kann. Mein Angstschrei, der Dich rief, erweckte mich. Du bist das Tageslicht, bei dem ich selbst mich wieder finden werde.«

Sie hatte das Alles mit dem Ausdruck einer sanften Traurigkeit gesprochen. Friedrich war tief bewegt. »Sprich nicht in Räthseln!« bat er sie. »Laß mich nicht fremd vor Deinem Schmerze stehen, nun ich bei Dir bin, Regina!«

»Dich! Dich sollte ich fremd stehen lassen vor meinem Schmerze?« rief Regina aus. »Dich, dem die Mutter mich in ihrer Sterbestunde an das Bruderherz gelegt hat? Dich, den einzigen Genossen meiner Kindheit? meinen Bruder? Aber frage mich nichts weiter, heute nicht! Nur bleibe bei mir, daß Dein Anblick mich erinnere an die Demuth und Entbehrung meiner Kindheit, daß ich nicht volles, höchstes Glück begehre! daß des Bruders Liebe mich tröste – da ich der tiefsten Liebe – –« sie hielt inne und sagte in Thränen ausbrechend und plötzlich von dem Strome ihrer Empfindung hingerissen, »da ich der Liebe entsagen muß, die das treuste Herz, die Erich's Bruder, die Georg mir bietet!«

Friedrich schrak zusammen. »Das also ist's!« sprach er erschüttert.

Regina war jeder seiner Bewegung gefolgt. »Dein Erschrecken spricht mein Urtheil!« sagte sie fast tonlos, »aber fürchte Nichts. Ich hatte so wie Du entschieden!«

»Arme Regina! das ist ein schwerer Kampf!« bedauerte er mild. »Wohl Dir, daß er bestanden ist! Ruhe aus, ich bleibe bei Dir!«

Er nahm sie in seine Arme und lehnte ihren Kopf sanft gegen seine Brust. Sie weinte nicht, sie klagte nicht, sie schloß im tiefsten Innern mit sich selber ab. Als sie sich von seinem Herzen dann erhob, war sie still und gesammelt. Er hielt ihre Hände mit brüderlicher Zärtlichkeit gefaßt. Er fragte, er forschte, er erläuterte Nichts. Er nahm es als ein Unbedingtes an, daß der Mensch der Entscheidung seines Innern zu folgen habe, daß Sünde und Verbrechen für ihn ist, was er als solche empfindet. Und weit entfernt, Regina zur Ueberwindung dieses Empfindens anzutreiben, wie die anderen Freunde gethan, ehrte er es in ihr als die folgerechte Frucht ihres Wesens, ihrer Weltanschauung, ihres Gottesbegriffes und ihrer nach reiner Schönheit verlangenden Künstlerseele. Seine Bestätigung, seine Billigung gossen milden Balsam in ihr Herz. Sie nahmen den Stachel des Zweifels von ihr, sie nahmen ihr das Gefühl, schuldig zu sein gegen Georg, und gaben ihr mit dieser Zuversicht zum ersten Male die Ruhe, in der allein die Wunde ihres Herzens heilen konnte.


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