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Das Gebirge war schon von Fremden und von Künstlern verlassen. Die Gasthöfe standen unbewohnt, die prächtigen Laubgallerien, welche von Albano nach Arriccia führen, waren still und menschenleer. Dadurch genoß Friedrich zum ersten Male das Glück ruhiger Einsamkeit in der Natur des Südens.
Oftmals, wenn er als Knabe, die Schulbücher unter dem Arme, in der heißen Mittagsgluth, nach dem Gymnasium gegangen war, hatte er, auf einer Brücke stehend, mit neidischer Lust die Schwäne betrachtet, die sich langsam hingleiten ließen durch die Kühle der Fluth. So wie sie, sich der Luft, der Sonne, des Wassers, der Wärme und der Frische zu erfreuen, so wie sie frei zu sein, und stolz hinzusegeln in dem Gefühle dieser Lust und dieser Freiheit, das hatte der Knabe sich stets als den Zustand des höchsten Glückes gedacht. Oft war er im Traume dahingezogen mit den weißen Schwänen in der blauen Fluth, bis sie sich zusammen emporschwangen, um fliegend in dem noch tieferen Blau des Aethers zu baden.
An diese Tage, an diese Wünsche und Träume gedachte er jetzt, wenn er in der warmen Sonne des goldigen Herbstes einsam durch die Gegend strich, umfluthet von der frischen, klaren Bläue der italienischen Bergesluft. Mit jeder Stunde ward ihm die Schönheit dieser Natur vertrauter, mit jeder einsamen Stunde der Geist des Landes verständlicher. Hier in der Zurückgezogenheit, im Studium der alten Dichter, lebte ihm die Vergangenheit auf, lernte er in immer steigendem Maße das rein Menschliche, das Ewige von dem Wandelbaren, von dem Zufälligen unterscheiden. Selbst die Vergänglichkeit des Schönen, die ihm in Rom vor den verstümmelten Werken der Kunst, vor den versunkenen Tempeln, vor den zerfallenden Palästen, so niederschlagend gewesen war, erschien ihm hier in milderem Lichte, wenn er neue Vegetation und neues Leben aus den tausendjährigen Trümmern erwachsen sah, wenn das schöne Menschengeschlecht in seiner Göttlichkeit vor seinen Augen umherwandelte, die lebenden Künstler zu neuem Schaffen, zu neuer Kunstgestaltung herauszufordern.
Fortgezogen von dem verlockenden Zauber, den die Ferne und das Fremde auf den Menschen üben, dehnte er seine Streifereien immer weiter in das Gebirge aus. Je länger er in demselben weilte, je näher er die Bewohner desselben kennen lernte, um so weniger mochte er an Rückkehr denken. In jedem Hause gastlich empfangen, von Männern und Weibern zutraulich und liebevoll behandelt zu werden, das schien ihm bald so natürlich, daß er vergaß, wie wenig er dessen in der Heimath gewohnt gewesen war. Die großen, kahlen Zimmer, der schlichte Tisch, das räumige Bett, die kräftige und doch so einfache Ernährung, die allen seinen Bedürfnissen genügten, ließen ihn mit Beschämung zurückblicken auf jene Masse erkünstelter Genüsse und Gewohnheiten, die zu befriedigen er für nothwendig erachten lernen, die zu entbehren Auguste unmöglich geglaubt hatte.
Vergängliche Vorurtheile und solch leere Aeußerlichkeiten waren es einst gewesen, die ihn von der Liebe seiner Jugend trennten! Immer und immer wieder mußte er sich's wiederholen, was er schuldlos verschuldet, was er erlebt, was er verloren und unerwartet wieder gefunden hatte. Helenens Bild, wie er es bei dem Maler gesehen, kam ihm nicht mehr aus dem Sinne. Er lebte nur in ihrem Gedenken. Mittheilend von Natur, begann er ihr zu schreiben. Was er sah und dachte, was er empfand, das brachte er ihr dar, ihr, die Italien liebte, wie er selbst, ihr, zu der er jetzt wieder, wie in den Tagen seiner Jugend, seine ganze Seele wendete, und was er schrieb, ward unwillkürlich zum Gedicht.
Daß er ein Amt verwaltet und aufgegeben hatte, daß er an Auguste gefesselt, daß seine Zukunft nicht gesichert sei, das Alles verschwand vor seinen Blicken. Alle Verhältnisse, die ihn beengt, die socialen Probleme, die ihn beschäftigt hatten, waren wie vergessen. Er fragte sich nicht, was er empfinde; er fragte sich nicht, ob Helene in gleicher Weise an ihn denke. Er war frei, er war in Italien, er hatte die Jugend der Seele wiedergefunden, und er genoß derselben mit dem vollen Bewußtsein des reifen Mannes, der ihren Werth zu schätzen weiß, weil er sie für immer verloren zu haben geglaubt hatte.
Mit dieser Freude im Herzen war er an einem Mittage aufgebrochen, eine neue Seite der Gegend zu durchstreifen. Sein Hauswirth hatte ihm Weg und Steg bezeichnet, aber von dem blauen Spiegel des Sees angelockt, hatte Friedrich bald die breite Straße verlassen, um auf Nebenpfaden das Wasser zu erreichen, das er von der halben Höhe des Berges in der Tiefe glänzen sehen. Indeß schon nach einer Stunde mußte er von der rechten Straße abgekommen sein. Die gebahnten Pfade hörten auf, und von der Lust verleitet, welche uns nach den Höhen zieht, versuchte er nun wieder, sich durch das Dickicht zurecht zu finden, bis zur Bergesspitze, von der aus er leichter in die rechte Straße zurückzukommen hoffen durfte.
Nicht ein Laut war zu hören in der waldigen Einsamkeit. Die mächtigen immergrünen Eichen wölbten ein Dach über seinen Weg, durch welches goldigbraun die Sonnenstrahlen ihre Lichtfunken herniederfallen ließen. Große Farrenkräuter umgaben die Wurzeln und bedeckten den Boden, während der Epheu und die noch kräftigeren Ranken des wilden Weines sich von Stamm zu Stamm zogen, und in flatternden Gewinden von den Aesten niederhingen. Hie und da erhob es sich wie ein grüner Altar. Es waren Ueberreste alter Bauwerke, welche die Natur mit üppiger Vegetation bekleidet hatte, den fehlenden Marmorschmuck zu ersetzen. An einem solchen grünen, moosbewachsenen Altare machte er Rast, und schnell hatte ihn die Stille in ein träumendes Brüten versenkt, in dem Bilder aus Vergangenheit und Zukunft, bald klar, bald wieder verlockend nebelhaft, vor seinem Auge sich entfalteten.
Wie lange er so geruht, er hätte es kaum zu sagen gewußt, als plötzlich aus der Höhe leiser Glockenton zu ihm hinunterschallte. Er stand auf und blickte um sich. Die Sonne neigte sich schon dem Westen zu, die Hitze des Tages war vorüber, und rüstig schritt er, dem Glockentone folgend, den Berggipfel empor, nicht ohne oftmals das Auge zurückzukehren in die eben verlassene Einsamkeit. Er hatte sich noch mitten in dem Walde geglaubt, jetzt bemerkte er, daß er sich hart am Ausgange desselben und auf der Höhe des Berges befand, dessen andere Seite vielfach bebaut, sich in lang abfallender Linie zum Thale senkte. Hoch oben auf dem Gipfel des Berges, mit dem Rücken gegen den Wald gelehnt, breiteten sich die Mauern eines Klosters aus.
Durstig und einer Labung bedürftig, zog er die Glocke an der engen, kleinen Pforte. Ein Mönch öffnete das Schiebefenster, Friedrich sprach sein Begehren aus. Die Pforte wurde aufgethan, der Mönch winkte ihm einzutreten und entfernte sich dann, indem er Jenem ein Zeichen gab, ihn zu erwarten.
Allein gelassen, blickte Friedrich um sich her. Der Hof war von drei Seiten durch die Mauern des Klosters eingeschlossen. Eine Säulenhalle trug das erste Stockwerk und setzte sich als offene Gallerie an der vierten Seite fort. Sie ließ den Blick in den Klostergarten frei, der sich am Bergesabhange hernieder senkte. Mitten im Hofe erhob sich das steinerne Bild des Gekreuzigten, während zu beiden Seiten plätschernde Fontainen ihren sonnendurchleuchteten Strahl in die Luft emporschickten. Die Becken des Springbrunnens waren antik, auch die Quadern, mit denen der Hof gepflastert war, und die Mehrzahl der Säulen zeigten den heidnischen Ursprung in ihren verstümmelten Emblemen.
Kein Mensch war zu sehen. Gedankenvoll betrachtete Friedrich die Thyrsusstäbe, welche auf der einen Fontaine über die entblößte Schulter einer taumelnden Bacchantin geworfen waren, von deren Kopf und Körper weiter keine Spur geblieben. Da hieß eine Stimme ganz in seiner Nähe ihn willkommen. Friedrich fuhr empor, der Ton klang ihm wundersam bekannt. Er wendete den Kopf um, ein Mönch, der unhörbar herangetreten war, stand neben ihm.
Es war eine kleine, schmächtige Gestalt. Die weiße Kutte, mit schwarzem Riemen um den Leib befestigt, floß in schweren Falten an dem magern Körper nieder. Die trotz des warmen Abends heraufgezogene Capuze verschattete ein bleiches Gesicht, das ein langer Bart nur noch blässer erscheinen machte. Dennoch hatte Friedrich den Mönch kaum angeblickt, als er mit Erstaunen einen Schritt zurück trat, um sich zurechtzufinden in den Zügen dieses Mannes, der ihm offenbar mit gleicher Ueberraschung gegenüberstand, bis er mit feierlichem Augenaufschlage die Hände gefaltet zum Gebet erhob. Diesen Blick, diese Bewegung kannte Friedrich.
»Sie hier! – und in diesem Gewande?« rief er in deutscher Sprache, und wagte doch kaum den eigenen Sinnen zu trauen.
»Der Herr hat es wohlgemacht mit mir!« entgegnete der Mönch, dem deutschen Ausrufe in gleicher Sprache begegnend. »Seine Wege sind wunderbar, seine Gnade ist unermeßlich!« Aber trotz der feierlichen Ruhe dieser Worte, hörte Friedrich an dem vibrirenden Klange der ihm so wohl bekannten Stimme, die Rührung des alten Lebensgenossen, dessen hohle Wangen, dessen offenbar dem Tode verfallene Gestalt ihn tief bewegten.
Der Mönch verstand den Ausdruck von Trauer, mit dem der Blick des Freundes auf ihm verweilte. »Mir ist wohl und meine Seele hat Frieden gefunden!« sagte er. Dann fügte er hinzu: »Sie müssen müde sein, unser Berg ist steil. Ruhen Sie hier bei uns aus!«
Er schritt ihm bei den Worten voran, nach der Säulenhalle am Garten, und nöthigte ihn, sich auf der Steinbank niederzulassen. Ein anderer Mönch brachte Wasser, Brod und reife Trauben herbei, setzte die Erfrischungen vor dem Gaste nieder und entfernte sich schweigend.
»Wir gehören zur strengen Observanz!« sagte Friedrich's Führer, als wolle er den andern Mönch entschuldigen, den Fremden nicht begrüßt zu haben. »Es ist auch eine Gnade Gottes, daß es heute an mir ist, im Namen unsers Klosters zu verkehren mit der Welt!«
»Sie haben sich zum Schweigen verdammt?« rief Friedrich erschrocken aus.
»Verdammt?« wiederholte tadelnd der Mönch. »Hätten die Menschen es vernommen, wie Gott spricht, wenn sie selber schweigen, es würden Viele in die Stille flüchten!«
»Und weiß Cornelie – –«hob Friedrich an.
»Mag Gott ihr gnädig sein!« entgegnete der Mönch mit einer abwehrenden Handbewegung.
Seine Ruhe that dem Freunde weh. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, ihn so abgestorben zu sehen, und mit tiefer Rührung sagte er: »Gab es keine andere Hülfe für Sie, Plessen?«
»Lassen Sie den Namen!« bat der Mönch. »Er ist zurückgeblieben in der Welt – und was ist ein Name hier?«
Friedrich verstummte. Es schnürte ihm das Herz zusammen. Er hätte fragen, hören mögen, auf welchem Wege Plessen hierher gelangt sei, aber er fühlte, daß dieser jetzt nicht zurückzublicken geneigt war. So saßen sie schweigend beisammen, schweigend wie am Sterbebette, und doch umgeben von der Herrlichkeit der südlichen Natur, umleuchtet von dem goldigen, warmen Strahl der untergehenden Sonne. Wie von lichten, blauen Schleiern verhüllt, breitete sich das Thal zu ihren Füßen in dämmernder Ruhe aus, während die Höhen noch glühten im Sonnenschein. Unten jenseits der Gartenmauer trugen breiträderige Wagen mit weißen Stieren bespannt die Ernte vom Felde. Männer, Weiber und Kinder kamen vom Tagewerk. Die Bursche hatten das Ackergeräth mit den Blättern der Canna beladen, die Weiber trugen des Weinlaubs Fülle über der Conca gethürmt, auf ihren Häuptern heim, während die langgezogenen Cadenzen eines Ritornells sich aus ihrer Mitte hören ließen. Es war ein Bild voll frischen, schönen Lebens. – Und neben Friedrich saß ein Mann, sein Freund, nur wenig älter als er selbst, der sich gedrungen fühlte, auf Alles, sogar auf den Gebrauch der eigenen Sprache zu verzichten.
Plötzlich aber war es, als ob eine innere Flamme das Antlitz des Mönches erhellte. Ein leichtes Roth flog über seine Wangen. Er richtete sich aus seiner gebückten Stellung empor und sagte tief aufathmend: »Sie werden fortgehen und wir werden uns nicht wieder sehen, so will ich die Gnade benutzen, die mir Gott durch Ihr Kommen heute gewährt hat, und noch einmal zu den Menschen sprechen, die mit mir strebten, die mit mir irrten!«
Er hielt nachdenkend inne, dann legte er mit einer sanften, fast zärtlichen Bewegung, die weiße, magere Hand auf Friedrich's Arm und bat: »Sagen Sie Allen, die mein denken, daß es mir wohl ist, wie dem müden, schiffbrüchigen Sohne in des Vaters schützendem Hause! Wohl, sehr wohl und frei! Es wird sich friedlich in demselben schlafen lassen.«
»Glauben Sie sich Ihrem Ziele so nahe?« fragte Friedrich.
»Es kann mir nicht mehr fern sein!« entgegnete der Mönch, »und ich sehne mich danach. Ich habe das Gute geliebt, das Rechte gewollt, all mein Streben war darauf gerichtet. Aber meine Seele verzehrte sich in vergebener Mühe, denn ich suchte das Himmlische in der Welt, ich wollte die Wahrheit finden auf dem Felde der Lüge, ich wollte Labung schöpfen aus dem Feuer. Sagen Sie es Allen, Allen, die es hören können, was ich Ihnen hier als das Vermächtniß meiner Liebe offenbare. Es ist kein Heil zu finden, denn in der heiligen Kirche Roms. Alles, was wir zu säen, zu wirken hofften außerhalb derselben, war eitler Trug. Der Glaube kann nicht wachsen auf dem Boden des Zweifels, die Seligkeit nicht reifen auf dem Boden des Abfalls, und was ist der Protestantismus, als ein schnöder Abfall, als ein blöder und doch frecher Zweifel an der Unfehlbarkeit der heiligen Mutterkirche?«
Er war immer lebhafter geworden, seine Sprache tönte hell, seine Auge glänzte. »Ich war in Gnadenfrei,« fuhr er fort, »ich lebte unter denen, welche die erste christliche Gemeinde herstellen zu können wähnen, aber ich fand dort nichts als bange Sorge um irdischen Erwerb, und bangere Sorge noch um der Seele Heil. Sündig von seinem Urbeginne an, muß der Mensch sündigen, so lange er zu kämpfen hat mit den Versuchungen des Lebens, muß er verzweifeln an der Gnade, die ihm nicht zugesichert werden kann, so lange er sie durch sich selbst erringen will. Beirrt durch Leidenschaften aller Art, durch Eigennutz, durch Herrschsucht und durch Liebe, beirrt durch seine Priester, die wie der Laie im Banne dieser Leidenschaften kämpfen, verwirrt vor dem Auge des Menschen sich Alles. Wie ein Taumelnder in immer weiterem Kreise nach einem Anhalt sich zu stützen sucht, so greifen sie umher nach immer neuen Mitteln. Was sie aber auch ergreifen, es stützt, es hält sie nicht. Es bricht in ihrer Hand, und von des Atheismus kalter Höhe, von des eigenen, ohnmächtigen Glaubens schwacher Barke sinken sie hinab in die Tiefe einer abgrundtiefen Verzweiflung!«
Er hielt inne wie erschöpft von seinen Vorstellungen. Friedrich war keines Wortes mächtig. Auch er hatte sie einst empfunden diese Verzweiflung dessen, der nicht zu glauben, nicht ohne Glauben zu leben vermag. Auch er hatte umhergegriffen nach einer Stütze, und jede war in seiner Hand zerbrochen, bis er die einzig haltbare gefunden in der eigenen Kraft und in dem eigenen Willen; aber er vermochte denjenigen nicht zu tadeln, dem diese Kraft gebrach.
Der Mönch hatte ihn nicht beachtet, er war ganz mit sich selbst beschäftigt. »Ich konnte den rechten Weg nicht finden,« sagte er, »Angst und Verzweiflung lagen über mir, ich war krank. Man rieth mir, nach Italien zu gehen. Es war Winter, todter, eisiger Winter, und ich hatte mich ergeben, unter seiner kalten Hand in dem Gefühle ewiger Verdammniß zu sterben. Plötzlich ergriff mich eine Sehnsucht nach Licht und Wärme! Eine tiefe, gewaltige, gottgegebene Sehnsucht! Ich brach auf, ohne zu wissen, wohin. Aber der Herr führte mich. Müde und erschöpft langte ich an vor den Thoren der ewigen Stadt. Als ich sie erblickte, als die Kuppel von St. Peter in der Glorie des Sonnenlichtes vor mir emporstieg, fuhr es mir wie ein Blitz durch alle Glieder, ein Blutstrom entquoll meinem Munde, die Sinne schwanden mir!« –
Er faltete die Hände und blickte weit hinaus in die Ferne, als suche er die Stelle, an der ihm so geschehen war. Erst nach längerer Pause hob er wieder an: »Als ich erwachte, befand ich mich in einem Kloster. Ein Mönch saß an meinem Lager. Es war ein Deutscher, wie ich. Er fragte, ob ich beichten wolle; meine Seele lechzte danach. Sein Ohr vernahm das vergebene Wollen meines ganzen Lebens. Er weinte um mich, er tröstete mich, er segnete meinen Schmerz und mein Verzagen, er verhieß mir Vergebung und erlösende Gnade, er, selbst ein Wiedergeborner, ward mein Führer zu der Gnadenquelle – zu dem Born des Friedens.«
In dem Augenblicke berührte der sinkende Sonnenball die Grenze des Horizontes. Der Mönch sah es. »Ave Maria ist nahe!« sagte er, »der Tag ist bald vorüber. Nur wenige Minuten sind mir noch gegönnt. – Der Glaube meines neuen Lehrers ward für mich die Brücke zu einer neuen Welt. Er vermittelte mir das Verständniß der Autorität, die Macht hat zu binden und zu lösen, zu vergeben und zu verdammen, in der das Wissen und der Wille der gesammten Menschheit verkörpert, allmächtig und unfehlbar sind. Aus dieser höchsten Machtvollkommenheit ward mir Erleuchtung gewährt, Vergebung ertheilt. Ich suche jetzt nicht mehr, ich forsche nicht mehr. Mein Glaube ist fest, mein Gebet mächtig, weil ich für Alle und Alle mit mir beten. Meine Seele ist voll froher Zuversicht, mein Herz hat Frieden, süßen, beseligenden Frieden! Und wie der Herr mich führte aus des Lebens Wüste in dies Friedenshaus, so mild, ich hoffe es, wird er mich hinüberleiten in sein Himmelreich!«
Der Mönch sprach das mit einer tiefen, innigen Zuversicht, mit einer Glaubensfreudigkeit, die Friedrich rührte. Da erklang die Klosterglocke das Ave Maria einzuläuten.
»Wir müssen scheiden!« sagte der Mönch. »Mich ruft die Kirche! Auch für Sie ist's Zeit zum Aufbruch. Einer der Brüder wird Sie geleiten bis zur großen Straße. Gehen Sie mit Gott!«
Er reichte dabei dem Freunde die Hand, der sie ergriff und fest hielt. »Und Sie haben mir Nichts zu sagen, Sie haben keinen Auftrag, den ich für Sie übernehmen könnte?« fragte Friedrich.
»Keinen!« antwortete der Mönch.
»So will ich Ihren Freunden, die sich um Ihr Verschwinden sorgten, schreiben –«
»Sagen Sie ihnen, wie Gott mir gnädig war, weit über mein Verdienst, und sagen Sie ihnen, daß ich gleiches Heil für sie erflehe. Denn nur da, wo des Menschen Wille ihm genommen ist, findet er den Frieden Gottes; nur wenn er verzichtet auf das Leben, gewinnt er das Leben und besiegt er den Tod!«
Während er so sprach, tönte noch immer die Glocke in sanften, melancholischen Schwingungen durch die Dämmerung. »Wie mild sie locken!« sprach der Mönch. »Ihr letzter Klang giebt mich dem Schweigen, dem Hören Gottes wieder! Wie sanft sie es verkünden!«
Er schien ganz an die Töne hingegeben zu sein, und die Anwesenheit des Freundes kaum noch zu beachten. Plötzlich verstummten die Klänge. Der Mönch athmete tief auf, drückte Friedrich schweigend die Hand, blickte ihm noch einmal fest in's Auge, wendete sich dann von ihm ab und schritt der Kirche zu, durch deren Fenster die Lichter des Altares glänzten.
Friedrich sah ihm lange nach. Die Töne der Orgel erhoben sich klagend und doch so mächtig in der Dämmerung, sonst war Alles still. Eine überwältigende Wehmuth kam über ihn. Es war ihm, als tönten sie über einem Grabe, und doch hatten diese Ruhe, diese Einsamkeit einen befangenden Zauber. Sein gesundes Herz wehrte sich dagegen, er raffte sich auf und eilte dem Thore zu. Erst als sich die Pforte geöffnet hatte, als er jenseits der Mauer stand, den Blick gen Osten gewendet, wo der aufsteigende Mond das Thal erhellte, erst da fühlte er den Druck von sich genommen, der sich auf ihn gelastet hatte. Unwillkürlich entblößte er das Haupt. Er sehnte sich, die frische Abendluft zu fühlen, und tief aufathmend eilte er mit schnellem Schritte von der einsamen Höhe, hinab zu den gesellig geschaarten Wohnungen der Menschen.