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Viertes Kapitel.

Es war das erste Mal gewesen, daß Erich sich in so bestimmter Weise gegen den Freund über seine Ansichten erklärt hatte. Mehrmals aber war es schon zu vorbereitenden Erörterungen zwischen ihnen gekommen, und der junge Baron war häufig genöthigt gewesen, den Freund gegen seinen Vater, wie gegen Sidonie und einige seiner Gutsnachbaren zu vertreten, die ihn einer strafbaren Freigeisterei bezüchtigten.

Friedrich, an theologische Studien gewöhnt, aus der Anregung des Lehrsaals plötzlich in die Stille des Landlebens versetzt, hatte sich mit Eifer den kritischen Untersuchungen der Tübinger theologischen Schule zugewendet, und die Ueberzeugung jener Männer in Kritik und Philosophie zu der Seinigen gemacht. Sein Glaube an die Autorität der Bibel, an ihre Dogmen, sein Glaube endlich an einen persönlichen Gott waren dadurch vernichtet worden. Seit Jahren durch den Spinozismus auf den Kultus der Natur, durch seine socialistischen Studien auf die Neugestaltung der Staatsgesellschaften vermöge materieller Mittel hingewiesen, fand er sich zu einem Standpunkte gedrängt, der ihn nicht nur von seinen Amtsbrüdern, sondern von seiner ganzen Umgebung absondern mußte.

Hatte er es Anfangs versucht, seine Ueberzeugungen mit denen seiner Gemeinde in so weit zu vereinen, daß er in seinen Predigten ihren Glauben zu schonen strebte, ohne dem seinigen zu nahe zu treten, so war ihm dies bald als eine Unredlichkeit erschienen. Mehr und mehr hatte er seine Vorträge in reine Untersuchungen über Moral und über die Pflichten des Menschen umgewandelt, die er den Zuhörern mit überzeugender Wärme und Klarheit auseinander zu setzen und an das Herz zu legen verstand. Damit hatten sich die Vorlesungen verbunden, welche der Schulmeister den Wirthen hielt, und schon nach kurzer Zeit hatte sich für Friedrich's Erfahrung bestätigt, was der Doctor stets behauptet hatte, daß das Volk begierig sei sich zu unterrichten, wenn ihm der Unterricht in angemessener Weise dargeboten werde. Männer und Frauen hatten schnell und eifrig die Gelegenheit ergriffen, sich Aufklärung zu erwerben, und die Schulstube faßte kaum die Zahl derjenigen, die sich zu der sogenannten Lesestunde drängten.

Mochten im Dorfe und unter den Eingepfarrten der Nachbarorte auch Einzelne sich darüber beschweren, daß der Pastor nicht, wie sein Vorgänger, Gotteswort die Hauptsache in der Predigt sein ließ, mochte es ihnen nicht in den Kopf wollen, daß man ihnen jetzt ihr eigenes Thun und Treiben zum Gegenstande der Betrachtung machte, die Mehrzahl war damit zufrieden. Die verständigsten unter den Wirthen und Tagelöhnern sprachen es ganz offen aus, daß es ihnen lieb, sich über das zu unterrichten, was sie zunächst betreffe, und das ist ein Zeichen der Reife. Der reife Mensch will das Zunächstliegende erfassen und ergründen, während die Jugend nach dem Fernen und die ungeregelte Phantasie des Kindes nach dem Fabelhaften, dem phantastisch Unerklärlichen verlangt.

Mit Freude konnte Friedrich es gewahr werden, wie die Einsicht seiner Pfarrkinder sich erweiterte, wie das Vertrauen zu ihm wuchs. Da man ihn, wie die Leute es nannten, bewandert fand in allen weltlichen Dingen und erbaulich im Geistigen, da er selbst ein Muster strengster Sittlichkeit und Gerechtigkeit darbot, und doch nachsichtig war mit aller menschlichen Schwachheit seiner Mitmenschen, so konnte es nicht fehlen, daß er einen wesentlichen Einfluß auf die Leute gewann. Man berieth ihn gern, und seine Wirksamkeit dehnte sich bald selbst auf die häuslichen Verhältnisse der Dorfbewohner aus. Nie war der Schulbesuch der Kinder geregelter, nie die Behandlung der Knechte und Mägde so gut gewesen, als seit Friedrich die Nothwendigkeit der Bildung und die Pflicht der Gerechtigkeit gegen den Arbeiter zu den Hauptmotiven seiner Predigten machte. Aber nie zuvor auch hatten die Bauern mehr auf ihre eigenen Rechte und auf ihre Ansprüche an die Gutsherrschaft und die Regierung gehalten, als seit sie selbst zur Pflichterfüllung gegen ihre Kinder und Untergebenen angewiesen wurden.

Solche Verhältnisse konnten natürlich von denen nicht lange unbeachtet bleiben, welchen mit der Aufklärung ihrer Insassen nicht gedient war. Und wie jedes Gelingen Neid, wie jede Neuerung Widersacher erregt, so sah auch Friedrich sich bald von Uebelwollenden angefochten, denen sein Verhalten vielfach Gelegenheit zu ihren Angriffen darbot. Die Einen, durchdrungen von strenger Gläubigkeit, konnten sich mit einem Geistlichen von Friedrich's Bekenntniß nicht einverstanden erklären. Sie machten es dem Baron und Erich bei jedem Anlaß als einen Vorwurf fühlbar, daß sie ihnen durch ihren Einfluß einen Pfarrer aufgedrungen hätten, der Nichts weniger predige, als das Christenthum im Sinne der Bibel. Andere sahen, wie Erich, mit Besorgniß auf die praktische Seite von Friedrich's Lehren, und als er vollends an der damals stattfindenden Versammlung der protestantischen Freunde Theil genommen und in derselben entschieden für Wislicenus aufgetreten, ja in seinen Behauptungen noch weiter gegangen war als dieser selbst, hatte er bei der Rückkehr seine heimlichen Gegner in offne Feinde verwandelt gefunden.

Die Geistlichen warfen ihm vor, die Gemeinde allmählich zum Atheismus zu verführen, durch seine Erklärung der socialen Mißverhältnisse jeder Art von Sünde und Verbrechen Thür und Thor zu öffnen. Die Gutsherren behaupteten, er verleite die Dorfbewohner zur Empörung gegen die bestehenden Gesetze, wenn er sie anwies, sich keine zur Gewohnheit gewordenen Mißbräuche gefallen zu lassen; und wenn er Streitigkeiten schlichtete, um unnütze Processe zu verhindern, erblickte man darin eine Beeinträchtigung der Patrimonialjustiz und ihrer Richter.

Friedrich trat diesen Angriffen gefaßt entgegen. Sie gaben ihm die Freudigkeit, welche jeder Kampf für eine Ueberzeugung schafft, nur den Schloßbewohnern gegenüber ward ihm seine Lage peinlich. Er fühlte das Mißtrauen des alten Barons; Sidonie belästigte ihn mit ihren Beschwerden über die Immoralität des Volkes. In jeder Nascherei der Knaben, die die Bäume plünderten, in jedem kleinen Feld- oder Waldfrevel sah sie ein schweres Verbrechen. Der ungeregelte Verkehr der beiden Geschlechter, der bei der Unmöglichkeit früher Ehen auf dem Lande fast noch verbreiteter ist, als in den Städten, flößte ihr die höchste Empörung ein. In Friedrich's Ermahnungen, Nachsicht zu haben mit den üblen Folgen unserer falschen Civilisation, mit der Noth, der Armuth, der Unwissenheit und Rohheit des Volkes, in seiner Warnung, keine überspannten Anforderungen an die Sittlichkeit unerzogner, armer Menschen zu machen, erblickte sie seinen eigenen Abfall von dem rechten Wege, den sie ihm um so mehr als strafbare Schwäche auslegte, je höher sie ihn um seiner strengen Sitten willen einst verehrt hatte.

Erich, in sich selbst beständig schwankend zwischen den Ueberzeugungen der alten und der neuen Zeit, war dennoch meist auf die Seite seines Freundes getreten. Er sah ihn gegenüber den zahlreichen Gegnern für den Schwächern an, und seine natürliche Großmuth wie seine Freundschaft zogen ihn zu dem alten Freunde hin. Indeß für diesen selbst war nicht viel damit gewonnen, daß Erich ihn in seinen bisherigen Verhältnissen fest zu halten, ihn vor Ungerechtigkeit und Uebelwollen zu bewahren, und die Mißhelligkeiten zwischen den Seinen und Friedrich auszugleichen strebte.

Je mehr der Widerspruch ihn reizte, je mehr er sich in seiner Amtsthätigkeit beachtet sah, um so mehr mußte der Pfarrer sich gedrängt fühlen, die inneren Beweggründe seines Handelns darzulegen, seine Ueberzeugung auszusprechen. Hier aber stieß er auf Schranken, die er zu durchbrechen vor seinem eigenen Gewissen nicht vertreten konnte. Wenn er auf der Kanzel stehend zur Gemeinde redete, wenn er hingerissen von der Freudigkeit der Mittheilung, begeistert von dem Gedanken an die Größe und Gesetzmäßigkeit des Alls, sich gedrungen fühlte, das letzte Wort seines Wissens und Glaubens auszusprechen, wenn er die Augen seiner Zuhörer auf sich gerichtet sah in angestrengter Achtsamkeit – so erstarb das Wort in seinem Munde.

Er empfand dann plötzlich die Kluft, welche ihn von der Gemeinde trennte. Er wußte, daß keiner seiner Zuhörer den Glauben an Gott und seine Offenbarung entbehren könne, und er hätte es für Frevel gegen sie gehalten, ihnen einen sittlichen Halt, eine Stütze zu nehmen, deren sie auf ihrem Standpunkte nicht entrathen konnten. Schwerer noch drückte ihn seine Ueberzeugung, wenn es sich um jene Uebertretungen der Gesetze handelte, die er zu rügen und als Verbrechen darzustellen hatte, wollte er sich und die Gemeinde mit den bestehenden Gesetzen in Einklang erhalten. Er vermochte das Naturrecht, die That der Leidenschaft oft nicht zu verdammen. Er durfte ihnen nicht gerecht sein, ohne gegen das Amt zu handeln, das er übernommen hatte.

Mit jedem Tage ward ihm seine Lage drückender, sein Verlangen, das Amt niederzulegen, lebhafter. Unfähig sich ferner mit theologischen oder philosophischen Untersuchungen zu beschäftigen, wenn seine ganze Richtung ihn auf die Wirklichkeit verwies, beschloß er, sich der Geschichte und Archäologie zuzuwenden, für welche seine bisherigen Bestrebungen ihm Anhaltepunkte boten. Um dies aber mit Erfolg zu thun, um auch die historischen Studien in sich zu etwas Lebendigem zu machen, wünschte er sehnlich nach Italien zu gehen. Dort wollte er sich für das erste Auftreten als Historiker, sei es als Lehrer oder Schriftsteller, vorbereiten. Ein solches Unternehmen forderte Zeit und Geld. Friedrich indeß war mittellos und hatte das Schicksal einer Frau an sich gekettet, die an Wohlstand gewöhnt, schon ihre jetzige Lage in Stunden des Unmuthes als eine Beschränkung empfand. Ob und wann er bei seinen Ueberzeugungen zu einer Universitätsanstellung gelangen werde, ließ sich nicht berechnen, und traute er es sich auch zu, im Laufe weniger Jahre, sei es durch literarische Thätigkeit oder als Lehrer, ein auskömmliches Dasein für sich und die Seinen begründen zu können, so mangelte ihm doch die Möglichkeit, Auguste während dieser Zwischenzeit die gewohnte Existenz zu bieten.

Entschlossen, sich gegen Niemand auszusprechen, ehe er in sich zu einem Abschlusse gelangt sein würde, hatte Friedrich viel gelitten, als sich ihm plötzlich die unerwartetste Hülfe darbot.

Sein Vater hatte ihm, als er noch ein Knabe gewesen war, häufig von einem Verwandten erzählt, der ein Waffenschmied gewesen und mit den Franzosen nach Rußland gegangen, von dort aber nicht wiedergekommen sei. Die Einen seiner Kameraden hatten ihn todt gesagt, Andere behaupteten, er sei nur leicht verwundet gewesen und zurückgeblieben, weil er die Tochter seines Wirthes liebgewonnen und Aussicht gehabt habe, das vermögende Mädchen zur Frau zu bekommen. Wie dem auch sein mochte, man hatte nichts weiter von ihm vernommen.

Jetzt erschien unerwartet eine Anzeige in den öffentlichen Blättern, welche die Verwandten jenes Mannes aufforderte, seinen beträchtlichen Nachlaß anzutreten. Von allen Enden drängten sich Erbberechtigte hinzu, indeß Friedrich hatte nahe Ansprüche, und da er das einzige Kind seines Vaters gewesen war, blieb sein Antheil ausreichend, ihn und die Seinen während einiger Jahre vor jeder Entbehrung zu schützen.

Mit der Erlangung dieses kleinen Besitzes stand sein Entschluß unwandelbar in ihm fest. Nur über den Augenblick der Ausführung war er noch nicht mit sich einig geworden, als er nach jener Unterredung mit Erich in das Wohnzimmer der Pfarre trat, dessen zierliche Einrichtung und leuchtende Sauberkeit wohlthuend auffallen mußten.

Auguste saß auf dem Sopha, eine homöopathische Apotheke stand vor ihr, deren Droguen sie ordnete.

»Bist Du schon lange zu Hause?« fragte er sie.

»Ich komme eben erst. Was sollte ich auch zu Hause? Wenn Du und Erich Eure romantischen Abendpromenaden anfangt, ist ja doch an Eure Wiederkehr so bald nicht zu, denken. – Es kamen noch Briefe als Ihr fort wart. Der Kutscher, der Landrichters hineingefahren hat, brachte sie mit.«

»Was für Briefe?«

»Ein Paar Geschäftsbriefe und dann noch Einer von Helene, voll Glückwünsche zum Hochzeitstage, voll Ergüssen über den Segen einer so glücklichen Ehe, und voll von Phrasen des Lebensüberdrusses, der bei solcher Existenz, wie die ihre, freilich nicht ausbleiben kann!«

Sie schien auf eine Antwort ihres Mannes gerechnet zu haben. Da er schwieg, sagte sie fortfahrend: »Ich sah es der armen Sidonie recht an, wie unlustig es sie machte, all die Tiraden dem Vater vorzulesen. Es ist auch so natürlich, wenn man, wie wir, gar keinen Zusammenhang mit solchem Leben hat. Der Onkel aber empfand große Freude über die Erzählungen vom Kaiser, die mit unterliefen. Ich glaube, er wollte wir wären alle russisch, so hoch hält er den Kaiser!«

Ohne auf ihre Mittheilung zu antworten, fragte Friedrich sie: »Was machst Du da? hast Du einen Kranken?«

»Ich muß dem Enkel vom Hofmann Akonit geben, das Kind kommt nie mit dem Magen zurecht. Sie verfüttern es immer aus einfältiger Liebe!«

»Schilt die Leute nicht, sie meinen es gut! und das Uebermaaß ihrer Liebe ist erklärlich genug!« bemerkte ihr Gatte ruhig.

Auguste aber fuhr heftig auf. »Laß das Thema endlich zu Ende sein!« rief sie. »Unser Gewissen spricht uns frei vor Gott und vor den Menschen, wie willst Du mich der Grausamkeit anklagen.«

»Wer klagt Dich an?«

»Du!« rief sie, »Du! Aber glaubst Du, es sei leicht hier durchzukommen? Sidonie und ich fühlen es an jedem Tage, auf welch unterwühltem Boden wir stehen, wie das Leben Erich's und feiner Schwestern hier alle Grundsätze gelockert hat, wie Deine sogenannte Milde und Menschlichkeit das Uebel nur noch ärger machen und jeden Rest von Moralität zerstören. Stemmten wir uns nicht mit unserer ganzen weiblichen Reinheit und Würde gegen diese Sittenlosigkeit, es würde hier bald wie – –«

Sie hielt inne. Ihr Mann war nahe an sie heran getreten. »Vollende!« sprach er bestimmt.

Sie schwieg.

»Vollende Auguste!« herrschte er.

»Nun denn!« sagte sie trotzig, »es würde hier bald wie in einem Findelhause aussehen.«

»Wollte der Himmel, man pflegte die Kinder, statt die Mütter aus Tugend in den Tod zu jagen!« antwortete Friedrich und verließ das Zimmer.

Auguste war bleich geworden, aber ihre Züge behielten den Ausdruck kalten Trotzes, der ihr bei solchen oft wiederkehrenden Streitigkeiten zur Gewohnheit geworden war. Ihr Aeußeres hatte sich sehr verändert. Sie hatte viel von der Fülle und Frische verloren, die in der Jugend ihr Reiz verliehen, ihre Formen erschienen dadurch eckig, ihre Züge scharf und die großen Augen sahen streng beobachtend in die Welt. Man konnte sie in keiner Weise unschön nennen, aber der Eindruck, den sie machte, war kein angenehmer, weil ihm die Milde der Weiblichkeit gebrach.

Im ersten Augenblicke erhob sie sich, dem Manne zu folgen, dann aber blieb sie sitzen, zählte die Akonitkörnchen in ein Papier, ordnete die kleinen Büchsen in dem Kasten, schloß ihn zu, rief dem Mädchen, und befahl die Arzenei zu dem kranken Kinde hinüber zu tragen, sorgfältigen Gebrauch einzuschärfen und zu bestellen, die Frau Pfarrerin werde morgen selbst kommen und nach dem Kinde sehen.

Während dessen ging Friedrich nachdenkend in seinem Zimmer auf und nieder. Es war unleugbar, daß eine Mißstimmung in dem Dorfe obwaltete, daß jene anhängliche Liebe der Landleute für die Gutsherrschaft, welche ihm bei seinem ersten Aufenthalte auf dem Schlosse so erfreulich gewesen, fast ganz entschwunden war, und er sah kein Mittel, das Uebel zu heben, so lange die junge Baronin und Auguste, welche zum größten Theile die Schuld seines Entstehens trugen, bei ihrer Weise beharrten. Er fühlte, daß seine Wirksamkeit unter diesen Verhältnissen eine Unmöglichkeit sei, und bangte doch davor, den Freund grade jetzt zu verlassen, dem er nöthig war, um ihm den Eifer der Frauen mäßigen zu helfen.

Als Sidonie sich mit Erich verlobt hatte und dem alten Baron zum ersten Male als Braut seines Sohnes begegnet war, hatte seine Erschütterung ihn fortgerissen, und sie segnend hatte er die Worte ausgesprochen: »Möchtest Du berufen sein, der Mutter Deines Erich's ähnlicher zu werden, als ihre Töchter, und Zucht und Sitte wiederzubringen in unser Haus, das sie zum ersten Male entbehrt!« – Dabei hatte er sie zärtlich umarmt, und Sidonie, welche ihren Vater kaum gekannt, hatte sich mit aufwallender Liebe dem Greise zur Tochter und zur festen Stütze gelobt, der ihr von Erich und von ihrer Mutter stets als der Inbegriff höchster Würdigkeit dargestellt worden war.

Ihre Erziehung hatte ihr die strengsten Begriffe von Sittlichkeit und Pflichterfüllung eingeimpft, und nie war eine junge Frau mit besseren Vorsätzen in das Haus ihres Gatten eingetreten als Sidonie. Aber von ihrer Mutter grundsätzlich in vollkommener Abhängigkeit erhalten, mußte die Selbständigkeit ihr gefährlich werden, in die sie sich durch ihre Heirath wie mit einem Zauberschlage versetzt gesehen hatte.

In der wohlmeinenden Absicht, das Glück der jungen Gatten durch ihr Dazwischentreten nicht zu hindern, hatte Frau von Verdeck nach Sidoniens Vermählung eine Reise nach Italien angetreten. Die junge Frau sah sich also plötzlich aus einem Zustande, in dem Alles für sie vorbereitet und jede praktische, mit der Außenwelt zusammenhängende Frage von der Mutter entschieden worden war, in einen Wirkungskreis versetzt, der Anforderungen an ihre Einsicht machte; und gleichzeitig ward sie aus dem geselligen Leben der Residenz in ländliche Einsamkeit verpflanzt.

Sie hatte Erich bisher nur in den Stunden seiner Muße gekannt, in denen er, der angenehmste Gesellschafter ihres Kreises, für sie allein gelebt. Jetzt, da er am Tage viel beschäftigt und Abends dann bisweilen müde, oder mehr zur ruhigen Lectüre, als zur Unterhaltung geneigt war, erschien er ihr verändert. Sie fand ihn kalt geworden. Der Gedanke, daß seine frühere Verbindung mit Regine ihn gleichgültig gegen sie mache, ließ ihr keine Ruhe. Sie hätte wissen mögen, worin der Reiz jenes Verhältnisses bestanden habe? Sie hatte so oft in verhüllter Rede davon sprechen hören, daß die Ehe die Männer abstumpfe gegen die Liebe ihrer Frauen, daß nur das Verbotene, das Unerlaubte sie fessele. Ohne sich zu fragen, worin der Grund dieser sich oft wiederholenden Erfahrung liege, hatte sie Erich der Wandelbarkeit und Oberflächigkeit angeklagt, und einen noch tiefem Abscheu vor jenen Frauen und Verbindungen gefaßt, welche die Männer unempfindlich machen sollten gegen die heilige dauernde Ruhe des ehelichen Beisammenseins.

Das Bild einer nie endenden, gleichmäßigen und ausfüllenden Befriedigung hatte ihr vorgeschwebt, so oft sie als Mädchen der Ehe gedachte. Dies Glück hatte sie in ihrem Hause nicht gefunden, und zu stolz und auch zu scheu, sich über dasjenige zu beklagen, was sie in traurigem Irrthum für eine Vernachlässigung, für eine Schuld ihres Mannes hielt, hatte sie beschlossen, wenigstens von ihrer Seite niemals einen Anlaß zur Unzufriedenheit zu geben. Sie wollte Erich und dem Baron in jeder Weise genügen, um der Erziehung ihrer Mutter Ehre zu machen, um dem Baron und ihrem Manne zu halten, was sie ihnen zu sein gelobt hatte.

Bald hatte sie von Augusten die Art der häuslichen Verwaltung erlernt, die auf dem Schlosse üblich war, und mit einer nie wankenden Pünktlichkeit lag sie ihrem Amte als Hausfrau ob. Aber grade diese starre, unwandelbare Regelmäßigkeit, so hoch er sie anschlug und so sehr er Sidonie dafür rühmte, mußte etwas Beängstigendes und Unerfrischendes haben für Erich's bewegliche Natur. Wird der Mensch doch selbst des blauen Aethers und der strahlenden Sonne überdrüssig, wenn sie in immer unveränderter Klarheit auf ihn hernieder scheinen.

Hätte Sidonie Schwächen, kleine Launen, üble Angewohnheit besessen, hätte Erich ihr Etwas nachzusehen, ihr Etwas zu verzeihen, vorkommende Streitigkeiten durch freundliche Versöhnungen auszugleichen gehabt, er würde glücklicher gewesen sein. Männer wie Erich hängen sich am festesten an solche Wesen, welche ihre Nachsicht und ihre Hülfe am meisten nöthig haben. Er würde ihr dadurch wieder in der liebenswürdigen Seite seines Wesens, in seiner Güte erschienen und ihr Verhältniß ein innigeres geworden sein. Ihre Tadellosigkeit ward ihr Unglück. Erich wußte seine Frau zu schätzen, er achtete, er ehrte sie, aber was haben solche, der tarnenden Gerechtigkeit entsprossenen Empfindungen mit der Liebe gemein? Er sah den Werth seiner Gattin von allen Leuten gepriesen, er war stolz auf sie, glücklich war er nicht mit ihr. Unfähig jedoch, sie deshalb anzuklagen, kam er dahin, wie Sidonie es gethan, die Schuld in seinem früheren Verhältnisse zu Regine zu suchen und sich allein die Unbefriedigung zuzuschreiben, die er innerlich empfand.

Er bedauerte Sidonie, daß alle ihre Vorzüge, alle ihre Tugenden ihn nicht zufrieden stellten. Er fühlte sich im Unrecht gegen sie, er glaubte sich ihrer Verzeihung bedürftig, und Sidonie bestärkte sich sehr bald durch diese seine Ansicht in ihrer Auffassung der Verhältnisse, denn wir impfen unserer Umgebung nur zu leicht die Meinung über uns ein, welche wir selbst von uns hegen. Es war kein Jahr seit ihrer Hochzeit vergangen, als die Baronin schon eine unumschränkte Herrschaft über ihren Mann gewonnen hatte, weil er die Schwäche besessen hatte sie über sich zu stellen.

In einer Stunde zärtlicher Hingebung hatte sie Erich alle näheren Umstände seines Verhältnisses zu Regine abzulocken gewußt. Es war dies von ihrer Seite nicht leere Neugier gewesen. Der Wunsch, das Uebel zu kennen, dem zu begegnen ihre Pflicht war, hatte sie dazu vermocht, aber die unwillkürliche Wärme, mit welcher Erich von der Verlassenen gesprochen, war ein Gift gewesen für sein Weib, und bald mußte Erich das Vertrauen bereuen, zu dem sich seine Hingebung verleiten lassen.

Sidonie, auferzogen in dem Gedanken an die Ausschließlichkeit der Liebe, hatte, als sie Erich heirathete, sich mit der Ueberzeugung getröstet, jenes Verhältnis ihres Verlobten habe in einer Aufwallung der Sinnlichkeit seine Quelle gehabt, und Liebe habe er nie gefühlt, als nur für sie allein. Jetzt hatte sie in Regina eine Nebenbuhlerin entdeckt, deren Erinnerung auszulöschen sie mit dem Instincte weiblichen Scharfgefühls als eine Unmöglichkeit erkannte. Sie vermochte es sich nicht wegzuleugnen, daß die Verhaßte in gewissem Sinne noch in Erich's Herzen lebe. Das aber war, nach ihrer Ansicht, ein Treubruch von Seiten ihres Mannes, ein Verkennen seiner Pflichten, ein Verkennen der Heiligkeit der Ehe und dessen, was sie selber werth war. Sie durfte, sie wollte das nicht dulden.

All ihr Sinnen und Streben war darauf gerichtet, Erich zu überzeugen, auf welch gefährlichem Wege er wandle. Sie verdammte ihn nicht, aber sie beklagte ihn und seine Schwäche, sie bedauerte die irreligiöse Richtung seines Vaterhauses, der sie auch Helenens und Corneliens Verirrungen zur Last legte. Sie wollte durch ihre makellose Reinheit, durch unerbittliche Strenge gegen sich und gegen jede Uebertretung der Sitten, die in ihrer Nähe sich bemerklich machte, Erich auf indirectem Wege der gleichen Anschauung zurückgewinnen.

Solche innere Vorgänge und Erlebnisse konnten dem Auge ihres Schwiegervaters nicht wohl verborgen bleiben. Je mehr Sidonie ihm sympathisch war, je mehr er in ihr die würdige Vertreterin seines Hauses anerkannte, um so geneigter hatte er sich finden lassen, ihren Einwendungen gegen seine Freisinnigkeit, gegen seinen Voltaire'schen Atheismus Gehör zu schenken, als nach der Geburt ihres Sohnes die Unterredung sich häufig auf die Grundsätze der Erziehung richtete. Mit jener Dialektik, welche den Frauen niemals fehlt, wenn sie für ihre eigne Sache kämpfen, hatte sie dem Baron zu beweisen gewußt, daß die ihm schmerzliche Lebensrichtung seiner Töchter und seines jüngern Sohnes nur darum möglich geworden sei, weil die Ehr- und Sittenbegriffe, welche er ihnen eingeflößt, nur in weltlichen Rücksichten, nicht in der Religion ihre Wurzel gehabt hätten, weil er sie nur im Hinblick auf ihren leiblichen Vater, nicht im Hinblick auf Gott erzogen habe.

Während sie ihn beschwor, ihr bei der Leitung ihres Sohnes freie Hand zu lassen, wagte sie es, den Baron anzuklagen, daß er einst einen Mann, wie Larssen, zum Hauslehrer seiner Kinder, einen Atheisten, wie den Doctor, zu seinem Umgange gemacht, und Helene mit einem Franzosen verheirathet habe, dessen Charakter ihm doch durch seinen Abfall von dem angestammten Herrscherhause selbst verdächtig gewesen sei.

Niemals gewohnt sich im Unrecht zu glauben, hatten die Vorwürfe seiner Schwiegertochter den Baron sehr tief getroffen. Wie ein Kämpfer, der sich überlistet und auf dem eigenen Felde mit seinen eignen Waffen angegriffen sieht, hatte er vor dem schwächern aber dreisten Gegner, der sich in seinem vollen Rechte fühlte, die langbewahrte Überlegenheit nicht festzuhalten gewußt, bis unter dem Bestreben, ihren Sohn zu erziehen, Sidonie zur Herrschaft über seinen Vater und seinen Großvater gelangt war. Und wie Erich und der Baron sich den kirchlichen Formen des Christenthumes fügten, weil Sidonie dies als ein nothwendiges Beispiel für den Knaben ansah, so wurden Beide mehr und mehr in Sidoniens ganze Anschauungsweise hineingezogen, während der Adelstolz und die Starrheit des Barons die junge Frau nachtheilig beeinflußten.

Bald geschah auf dem Gute nicht die geringste Veränderung, ohne daß man Sidoniens Meinung dabei zu Rathe zog. Sie gewann die Thätigkeit lieb. Sie wußte zuweilen mit schnellem Blicke eine glückliche Entscheidung zu treffen, einen Ausweg zu finden, wo irgend ein Streit zwischen dem Baron und Erich sich aufgethan hatte. Dadurch ermuthigt, hatte sie angefangen, sich auch in die Angelegenheiten der Landleute und Gutsangehörigen nicht nur in berathender, sondern auch in erziehender Weise einzumischen.

Eine Weile war das ohne Anstoß fortgegangen. Man hatte sich ihrem Urtheile gefügt, man hatte es gern gesehen, wenn die stattliche Herrin bald in diesem, bald in jenem Hause vorgesprochen, wenn die Bauerfrauen in das Schloß gerufen und mit guten Lehren oder noch besseren Geschenken entlassen worden waren. Was ihm bequem ist, das nimmt Jeder an. Indeß Niemand hält eifersüchtiger auf sein gutes Recht und seine Willkür als der Bauer, und schon nach kurzer Zeit war es den Alten im Dorfe zu viel geworden, wenn die Frau Baronin ihnen mit Vorschlägen und mit Ermahnungen zu strengerer Zucht der Kinder und des Gesindes in den Weg gekommen war. Dennoch hatten sie geschwiegen, bis nach Friedrich's Verheirathung auch Auguste, von der Baronin angeregt, ihren Einfluß als Frau des Seelsorgers geltend zu machen und in gleicher Weise wie Sidonie zu verfahren begonnen hatte.

Vor Allem war es die Nachsichtslosigkeit der beiden Frauen, welche Anstoß und Widerwillen gegen sie erregte, und trotz Friedrich's und Erich's Vorstellungen war es grade in dieser Zeit zu einem beklagenswerthen Vorfalle gekommen, der eine gerechte Erbitterung im Dorfe hervorgerufen hatte.

Erich's Inspector, ein noch junger unverheiratheter Mann, hatte durch lange Zeit einen Liebeshandel mit der einzigen, ebenfalls unverheiratheten Tochter des Hofmanns unterhalten. Niemand hatte sonderlich Arg daran gehabt, bis das Mädchen Mutter geworden war. Das hatte Anfangs harte Vorwürfe, böse Stunden und Thränen gegeben, denn das Mädchen war der Liebling der alten Eltern. Da der Inspector sich aber erboten, für sein Kind zu sorgen, so hatten die Eltern, eben weil sie die Tochter liebten, sich beruhigt, und als er vollends zugesagt, ihr, wenn sich ein Mann für sie fände, etwas zur Einrichtung zu geben, waren Eltern und Tochter beruhigt gewesen. Die schöne Katharine hatte nach wie vor unter den Mädchen des Dorfes gearbeitet, die Burschen hatten sich nicht von ihr abgewendet. Es hatte vielmehr zu erwarten gestanden, daß sich ein Ehemann für sie finden und Alles in's Gleiche kommen werde, sobald sie ihres Kindes genesen war; denn die Landleute betrachten im Grunde diese sich immer wiederholenden Vorfälle meist ohne jene tiefe Entrüstung, mit denen die größere Civilisation und die höhere Bildung sie in ihrem Kreisen aufzunehmen gewohnt sind.

Kaum aber hatten Sidonie und Auguste von dem Ereignisse gehört, als sie die junge Person zu sich kommen ließen, die im Schlosse und in der Pfarre wohl gelitten, und zu manchen Hülfsleistungen benutzt worden war, und sie so lange mit Vorstellungen ihrer Schande, mit Hinweisung auf ihre zeitliche und himmlische Verlorenheit bestürmten, bis sie in eine Art von Tiefsinn versunken, den Versuch des Selbstmordes gemacht hatte. Entsetzt über die Verblendung der Armen, war Friedrich zu ihr geeilt, ihr klar zu machen, wie es grade in dem Zustande, in dem sie sich befinde, ihre Pflicht sei, ihr Leben und damit das Leben ihres Kindes zu erhalten, indeß seine Ermahnungen hatten Nichts bewirkt, als einen Aufschub ihrer That. Von Jugend auf an das Schloß gewöhnt, konnte sie es nicht ertragen, von Sidonie und Auguste verstoßen, und nach dem Beispiel der Herrinnen von der weiblichen Dienerschaft des Schlosses und der Pfarre mit abweisender Geringschätzung behandelt zu werden. Die Schwermuth hatte tiefe Wurzel in ihr geschlagen, und kaum war die junge Mutter so weit genesen, daß sie das Haus verlassen konnte, als sie ihrem Leben im Mühlenteich ein Ende gemacht hatte.

Je seltener und unerwarteter ein solcher Vorfall auf dem Lande war, um so heftiger zeigte sich der Schmerz der Eltern, um so größer die Entrüstung und das Mitleid im Dorfe, um so lauter war die Empörung gegen die Baronin und die Pfarrerin gewesen. Wohin man kam, konnte man es hören, daß es den Reichen und Vornehmen schlecht anstände, an dem Armen zu verdammen, was sie selbst noch schlimmer machten. Der junge Herr Baron, das wisse man von Alters her durch den Unteroffizier, den Sohn der alten Anna, der junge Herr Baron sei seiner Zeit in der Residenz auch kein Tugendspiegel gewesen. Er habe es mit allerlei Frauenzimmern gehalten, und die Fräuleins wären erst recht ihre absonderlichen Wege gegangen. Es hätte ja Niemand daraus klug werden können, warum das jüngste Fräulein mit einem Male ganz allein vom Schlosse fortgefahren, und nie mehr wiedergekommen sei, und was dergleichen üble Bemerkungen mehr waren.

Nichts aber wächst dem Menschen schneller über den Kopf, als ein Uebelwollen gegen seine Nebenmenschen, in dem er sich gehen läßt. Und da die Abneigung einen bestimmten Gegenstand haben will, gegen den sie sich wendet, vor Allem aber einen Gegenstand, den sie mit ihren Waffen treffen kann, so richtete der Haß der Leute sich plötzlich gegen den Inspector, den man als die Quelle alles Uebels auch für dasselbe entgelten lassen wollte.

Wohin er sich wendete, überall stieß er mit seinen Anordnungen und Befehlen auf Hindernisse und auf Ungehorsam. Die Arbeit litt darunter. Er mußte Erich's Beistand fordern, und die Frauen nahmen daraus Veranlassung, über die Widerspenstigkeit und Sittenlosigkeit der Dorfbewohner zu klagen, welche so weit gingen, daß sie eine Ermahnung zur Zucht als einen Eingriff in ihre Rechte betrachteten. Auf solche Weise ermuthigt, wagte der Inspector gegen Auguste die Bemerkung, daß die Frechheit der Bauern sich selbst unsaubern Tadel gegen die Herrschaft zu Schulden kommen lasse, und durch Auguste schnell davon benachrichtigt, hatte Sidoniens sittliche Empörung keine Grenzen mehr gekannt. Sie hatte von Erich gefordert, daß er selbst mit Friedrich sprechen, daß er ihn zur Strenge in seinem Amte, zu einer Strenge anhalten solle, welche allein auf einem so demoralisirten Boden Rettung bringen könne. Vor Allem jedoch hatte sie die Entfernung des Hofmanns sowohl als des Inspectors begehrt.

Auf Erich's Vorstellungen, daß solche plötzliche Dienstentlassungen etwas Gehässiges hätten, und daß sie das Uebel ärger machen könnten, daß sie beim Beginn der Sommerarbeit seinem Interesse nachtheilig, und daß es unbarmherzig sein würde, dem Hofmanne, der eben erst sein Kind verloren, nun auch den Dienst zu nehmen, den er seit zwanzig Jahren treu versehen habe, auf diese Vorstellungen hatte Sidonie zwar von ihrem Verlangen abgestanden, aber der Friede war dadurch nicht wieder hergestellt geworden.

Da die beiden Frauen es von Friedrich nicht erreichen konnten, daß er, wie sie es nannten, die Sitten überwachte, hatten sie selbst diese Mühe über sich genommen. Ein System des Auskundschaftens und des Drohens, das Lüge und Heuchelei, Angebungen und Verläumdungen mit sich brachte, griff dadurch im Dorfe um sich, während die Frauen, welche es veranlaßt hatten, in dem Glauben lebten, die Moralität zu fördern, ächte deutsche Sittlichkeit herzustellen, und die Wirksamkeit zu üben, die der weiblichen Würde einer christlichen Edeldame und einer Pfarrersfrau gebührten. Der Baron aber und der Pfarrer hatten den Folgen dieser Irrthümer auf jedem Schritte zu begegnen. Und grade an dem Morgen nach dem letzten bösen Auftritte mit seiner Frau fand der Pastor Veranlassung, den übel verstandenen Eifer der Frauen zu beklagen.

Es war ein Sonntag. Friedrich kam von der Kirche heim, und hatte sich eben in sein Studirzimmer begeben, um den Talar abzulegen, als das Hausmädchen ihm meldete, es wären ein Paar Wirthe da, die ihn zu sprechen verlangten. Er befahl sie einzulassen. Gleich darauf traten der alte Bauer Schöne, der Hofmann und ein dritter jüngerer Mann in das Zimmer, der sich vor dem Jahre verheirathet hatte und für einen der besten Wirthe des ganzes Dorfes galt.

Sie waren in ihrem Sonntagsanzuge. Friedrich konnte an ihrer ganzen Haltung merken, daß es nichts Gewöhnliches sei, was sie zu ihm führe. Er nöthigte sie zum Sitzen, und der alte Schöne, mit dem Friedrich, seit er als Candidat auf dem Schlosse gelebt hatte, immer in gutem Vernehmen geblieben war, ließ auch nicht lange auf sein Anliegen warten. »Herr Pfarrer!« sagte er, »diesmal kommen wir Alle drei nicht für uns selber, uns geht es diesmal gar Nichts an, darum kommen wir aber grade!«

»Was ist denn vorgefallen?« fragte Friedrich.

»Vorgefallen ist Nichts, Herr Pfarrer! aber es könnte doch wieder einmal was passiren, und dann möchten wir es doch nicht wieder so erleben!« entgegnete der Alte, »und daß ich's denn nur sage, wir kommen wegen der Kirchenbuße!«

»Wegen der Kirchenbuße?« wiederholte der Pfarrer, »was soll es mit der Kirchenbuße? was wollen Sie damit?«

»Wir?« rief der junge Wirth dazwischen, »wir wollen gar Nichts mit der Kirchenbuße, aber wir wollen auch nicht leiden, daß sie wieder eingeführt wird. Denn es steht Nichts davon im Amtsblatt, Herr Pfarrer! Und mit allem Respect, Herr Pfarrer, den wir vor dem Herrn Pfarrer haben, ehe wir uns das gefallen lassen, da wollen wir bis an das Consistorium, da wollen wir bis nach Berlin gehen, wenn's denn sein muß; denn das wollen wir nicht!«

Er war dabei aufgestanden, und da er lange Jahre bei einem Regimente in der Residenz gedient, und halb städtische, halb militairische Manieren angenommen hatte, war er mit einem gewissen herausfordernden Pathos vor den Pfarrer hingetreten.

»Und,« sagte der alte Schöne, »mit Verlaub, Herr Pastor! das wissen Sie ja selber, Herr Pastor, die Kirche ist kein Pranger!«

»Es hat auch,« meinte der Hofmann und schüttelte langsam seinen grauen Kopf, »es hat auch schon so Mancher oben hinter dem Glasfenster gegenüber von der Kanzel gesessen, der vor Gott nicht hätte bestehen können, nicht besser wie solch armer Sünder an der Thür!«

Friedrich sah an der Schnelligkeit, mit welcher die Männer auf das Ziel ihres Kommens losgingen, daß die Sache eine lang verabredete und viel besprochene unter ihnen sein mußte, denn der Landmann denkt nicht rasch, und spricht mit der ihm eigenen Vorsicht immer noch langsamer als er denkt. Er begriff nicht, was sie zu einem Proteste gegen die Kirchenbuße bewegen konnte, da von der Einführung einer solchen nicht die Rede war, und sagte ihnen das mit ruhiger Entschiedenheit.

»Mit Verlaub, Herr Pfarrer!« antwortete Schöne, »es kommt vom Schlosse herunter. Die Frau Pfarrerin selber hat's dem Cantor gesagt, daß es nicht länger gelitten werden sollte, und kein Mädchen sollte mehr mit dem Kranz zum Altar gehen, mit der's nicht ganz und gar im Klaren wäre, und wo's bekannt würde, da sollten sie an der Kirchthür erst Buße thun, ehe sie zur rechtschaffenen Trauung zugelassen würden!«

Der Pfarrer erschrak. Er sah, bis zu welchen Uebergriffen und Unvorsichtigkeiten die Frauen sich gegenseitig steigerten, und sie nicht bloß zu geben, sprach er: »Es ist allerdings wahr, daß es hier zu Lande arg hergeht zwischen den Mädchen und Männern, und daß es besser werden muß. Der Mensch ist kein Thier, daß er seiner Begierde blindlings folgen dürfte und unverantwortlich wäre für sein Thun. Das Mädchen, das zu Falle kommt, der Mann, der es verführt, die sind und bleiben strafbar, denn sie wissen, was sie begehen und wissen, daß es gegen Gesetz und Tugend ist. Auch die Eltern haben darauf zu sehen und haben es mit zu vertreten, wenn die Kinder vom rechten Pfade abkommen unter ihren Augen, denn es ist ein schweres Unrecht und bringt das Unglück mit sich für des Menschen ganze Zukunft. Die verletzte Tugend rächt sich bitter und ohne Tugend keine rechte Ehe. Es steht geschrieben, daß die Ehe heilig sein soll. Wie kann sie das sein, wenn Mann und Weib nicht heilig in die Ehe treten?«

Die Männer hatten ihm aufmerksam zugehört, plötzlich aber bemerkte der alte Schöne: »Es kann wohl sein, Herr Pfarrer, daß Sie Nichts mehr davon wissen, denn es sind Zeiten und Zeiten darüber vergangen, aber vor Jahren da habe ich's Ihnen schon gesagt, zur Tugend muß der Mensch es haben, und dazu grade am Meisten. Du lieber Gott! es gingen ja so Manche gern zum Pfarrer, wenn sie's dazu hätten. Aber so ein Knecht und so' ne Magd, das hat nicht Haus nicht Hof, ist immerweg zusammen, und Menschen sind sie doch auch! Da gleich den Stein aufheben wider sie und zur Schande ausstellen, das will Gott nicht, und das ist auch nicht mehr der Brauch, Herr Pfarrer!«

»Gott weiß es!« sagte der Hofmann, »ob es der Mutter und mir das Herz abgedrückt hat, ob's uns nicht bitter angekommen ist, als wir merkten, wie es mit der Katharine stand! Es ist jetzt auch kläglich genug anzuhören, wenn der arme kleine Wurm die Nächte schreit und keine Mutter dazu da ist – aber ehe ich sie sollte Buße stehen sehen, da mag sie in Gottes Namen ruhig liegen, wo das Wasser am tiefsten ist. Das ist nicht Gottes Wille, das steht nicht in der Bibel!«

»Und es ist auch blos uns auf dem Lande, denen sie wieder die Kirchenbuße aufpacken wollen. In der Stadt, da sollen sie's wohl bleiben lassen!« meinte der junge Wirth. »Ich kann's mir auch nicht denken, daß der Herr Pfarrer das vertreten können vor sich selber. Ich bin acht Jahr Soldat gewesen und hab' Mancherlei erlebt, aber eh' ich mir's hätt' gefallen lassen, daß sie mir mein Mädel an die Kirchthür stellten, vor aller Leute Augen, da wär' was passirt! – Und, Herr Pfarrer, es ist keine Ehr' und keine Menschlichkeit darin, das werden Sie auch selber wissen! Leben und leben lassen, Herr Pfarrer! Da denkt ein Wirth drüber grade wie der andre!«

»Ich habe Sie alle ruhig angehört,« sagte Friedrich, »und bin selbst kein Freund davon, die Menschen, die man erziehen will, in solcher Weise zu bestrafen. Ein Mädchen, das sich vergangen hat, wird nicht besser, wenn man seine Schamhaftigkeit vor aller Welt so brandmarkt. Sollte also das Consistorium daran denken, die alte Kirchenzucht wieder bei uns einzuführen, so werde ich dagegen thun, was in meiner Macht steht. So lange ich es hindern kann, soll sie hier nicht aufkommen. Für jetzt aber ist noch Nichts davon zu fürchten, man hat Sie falsch berichtet, Niemand denkt daran.«

Die Männer schwiegen. Sie wagten nicht dem Pfarrer zu widersprechen, sie glaubten seinen Worten auch. Es waren jedoch weniger die Eingriffe des Consistoriums gewesen, welche sie gescheut hatten, als die Gewaltthätigkeit der beiden Frauen, und doch hatte Keiner von ihnen das Herz, sich offen über dieselben zu beklagen. Alle drei standen eine Weile, sahen einander, sahen den Pfarrer an, endlich brach der alte Schöne zuerst auf.

»Na! so soll's ein Wort sein, Herr Pfarrer!« sagte er, »und geben Sie's nicht zu, daß sie Gottes Wort verkehren in pure Unbarmherzigkeit. Es ist genug gewesen an der Katharine!«

Der Hofmann fuhr sich mit der umgekehrten Hand über die Augen, da er glaubte, man sähe es nicht, und warf mit hastiger Bewegung die Tropfen herab von seinen Fingern. Der junge Wirth aber blieb zögernd zurück, und als die Anderen zur Thüre hinaus gingen, trat er näher an den Pfarrer heran und sagte: »Sie meinen's gut mit den Leuten und mit Allen, Herr Pfarrer! und ich mein's auch gut mit dem gnäd'gen Herren, denn wir sind Kinder gewesen zusammen und er hat immer ein gutes Herz gehabt. Aber, passen Sie auf, das nimmt kein gutes Ende! Es ist Alles aufsässig gegen die gnädige Frau, und da helfen alle Geschenke und alles Wohlthun Nichts, zuletzt will doch ein Jeder Herr in seinem Hause bleiben!«

Damit nahm auch er seinen Hut, den er hatte auf dem Stuhle an der Thüre liegen lassen, und entfernte sich. Friedrich aber sah sich zu einer Erörterung gedrängt, die er länger nicht aufzuschieben vermochte, denn der Augenblick der Entscheidung war für ihn gekommen.


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