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Eilftes Kapitel.

Das Fest war ohne Störung mit aller hergebrachten Feierlichkeit begangen worden. Es hatte Nichts gefehlt, weder die weißgekleideten Mädchen, noch die Rede des Pfarrverwesers und die Lieder der vom Schulmeister geführten Jugend. Die Illumination, der Tanz im Parke und das Abendbrod, die man für die Dorfbewohner veranstaltet, das Mittagmahl, an dem alle befreundeten Familien der Nachbarschaft Theil genommen, das Alles war gebührend bewundert und anerkannt worden, aber mitten durch diese Herrlichkeit blieb doch bei Jung und Alt die Freude über die Anwesenheit der Gräfin vorherrschend mächtig.

Es war, als sei ein neues Leben mit ihr in dem Schlosse aufgegangen, und fühlte Helene sich auch befremdet durch den Ton in ihrem Vaterhause, fand sie die Abgemessenheit desselben auffallend, den Bruder unverhältnißmäßig gealtert, und Sidonie kalt in ihrer äußeren Erscheinung wie in ihrer Ausdrucksweise, so waren die Ihrigen, jeder auf seine Weise, überrascht, daß die Zeit an der Gräfin fast spurlos vorübergegangen.

Der Baron war förmlich stolz auf die blühende Schönheit, auf den unverminderten Liebreiz seiner Tochter. Er forderte von der ganzen Umgebung Anerkennung für sie, und als genüge diese ihm nicht, hielt er darauf, beständig Gäste im Hause zu haben, um seine Freude über Helene auch von Anderen getheilt zu sehen. So strenge er sonst auf eine geregelte Hausordnung hielt, war er es, der den Vorschlag machte, die Mahlzeiten nach der Weise zu verlegen, an welche die Gräfin gewöhnt war, und wie er bisher Sidonie walten lassen, so begehrte er von dieser, daß sie seiner Tochter nicht nur als Gast die üblichen Vorrechte einräume, sondern daß sie sich ihr unterordne, eben weil es seine Tochter sei. Rückhaltlos, wie alle Egoisten, nur auf sich bedacht, wollte er jetzt weder die Tarokpartie, noch irgend eine der Unterhaltungen annehmen, mit denen Sidonie ihm sonst die Abende verkürzt. Der Gräfin Skizzenbücher, ihr Gesang, ihre Erlebnisse boten ihm unablässig neues Interesse dar. Mochte Helene mit dem Tacte des Herzens und der Erfahrung sich auch noch so sehr bemühen, Sidonie durch doppelte Rücksicht für den Vorzug zu entschädigen, den der Vater ihr gewährte, Sidonie war und blieb gekränkt, und Helene ihr ein Gegenstand wachsender Abneigung. Die Selbstvergessenheit, mit der die Gräfin stets bereit war, sich den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Umgebung zu fügen, ihre immer gleiche Ruhe, ihre Heiterkeit, erschienen der Baronin unerklärlich an einer Frau, deren Leben von heftigen Stürmen, von unerlaubten Leidenschaften zerrissen worden war. Und daß Erich, daß selbst ihr strenger Schwiegervater keine Erinnerung mehr für die Fehltritte Helenens zu haben schienen, seit sie wieder in ihrer Nähe lebte, das dünkte die Baronin unbegreiflich.

Ob Helenens Ruhe eine natürliche oder erkünstelte, ob sie endlich zu einem innern Abschlusse gelangt sei, wie sie mit sich und ihrem Gewissen fertig geworden, das waren die Fragen, mit denen Auguste und die Baronin sich vorzugsweise beschäftigten. Während die Erstere es höhnisch aussprach, daß die Männer nichts Besseres werth wären, als Frauen ohne Selbstachtung und Würde, bestärkte die Baronin sich darin, nur in dem eigenen Bewußtsein ihren Lohn zu suchen, nur dem eigenen Ermessen zu folgen, und dieses allein zum Maßstabe ihrer Handlungen zu machen, da des Barons und Erich's Urtheil ihr so bestechlich und unhaltbar erschienen. Beide Frauen aber kamen darin überein, Helenens Rücksicht für Andere mit dem Namen einer Koketterie zu bezeichnen, welche selbst dem Vater und dem Bruder gegenüber sich nicht zu verleugnen vermöge.

Trotz jener Höflichkeit, welche Sidonie nie verließ, empfand Erich die Kälte schmerzlich, mit der sie seiner Schwester überall entgegentrat. Das verstimmte ihn gegen seine Frau, und machte ihn nur liebevoller und hingebender für die Gräfin.

So hatte man bereits mehrere Wochen zugebracht, und die länger werdenden Abende mahnten an den Winter, als die Familie des Onkels aus Steinfelde für einige Tage um der Gräfin willen zum Besuche kam, die denn auch natürlich den Mittelpunkt der Geselligkeit bildete. Mit unermüdlicher Geduld legte sie auf des Vaters Verlangen wieder und wieder ihre Skizzenbücher vor, und in dem Bestreben, den Schloßbewohnern nicht durch die immer gleiche Unterhaltung lästig zu fallen, erbot sie sich, nach einer ihrer Zeichnungen ein Tableaux aufzustellen, das einst bei einem Hoffeste eine günstige Wirkung gemacht hatte.

Man ergriff die Idee mit Beifall, denn es waren junge Mädchen zugegen, welche sich der Aussicht auf eine phantastische Kleidung erfreuten, und Alles hatte den besten Fortgang, bis Helene ihre Schwägerin bat, in dem Bilde eine Rolle zu übernehmen.

»Ich?« rief Sidonie mit so scharfer Betonung, als würde ihr ein Ungeheures zugemuthet, »das ist nicht Ihr Ernst, Helene!«

»Weshalb denn nicht?« fragte die Gräfin arglos.

»O! dazu sind wir doch zu alt! Lassen Sie mich nur überhaupt ein für allemal bei solchen Dingen aus dem Spiele. Man muß gewohnt sein, zu scheinen, was man nicht ist, um daran Freude zu finden, ich kann das nicht!«

Sie mochte nicht die Absicht gehabt haben, der Gräfin wehe zu thun, aber ihr Unmuth drängte sich überall wie eine scharfe Winterkälte durch, und erbleichend vor dem Worte, sagte Helene leise: »Wohl Ihnen, daß Ihr Loos so leicht ist, und daß Sie diesem Grundsatze stets nachleben dürfen!«

»Oder daß ich mich mit meinem Frauenloose zu bescheiden wußte!« entgegnete die Baronin mit harter Selbstvergessenheit.

Die Gräfin antwortete nicht, so tief es sie getroffen hatte. Sie blieb freundlich mit den Anordnungen für das Tableaux beschäftigt, und der Abend entschwand für die Gesellschaft ruhig und ungetrübt, ohne daß Jemand ahnte, was in der Brust der Gräfin vorging.

Jenes wohlthuende Gefühl der Sicherheit im Vaterhause war wie mit einem Schlage in ihr vernichtet. Die gehässige Gesinnung ihrer Schwägerin hatte sich in den Worten verrathen. Helene kannte Sidoniens Einfluß auf Erich und auf den Baron.

»Wie konnte, wie durfte ich auch auf Liebe hoffen?« sagte sie sich. »Wie konnte ich von meinem Vater mehr als Nachsicht, von meinem Bruder mehr als Mitleid erwarten? Ist es vielleicht doch nur des Vaters Achtung vor dem Gastrecht, die ihn abhält, mir seine Mißbilligung auszusprechen, die ihn bestimmt, mich rücksichtsvoll zu schonen!«

Der Gedanke, daß ihre Anwesenheit den Ihren nicht erwünscht sei, daß man sie nur dulde, weil sie unerwartet gekommen, daß man vielleicht ihre Entfernung ersehne, ließ ihr keine Ruhe. Das Gefühl, im Vaterhause nur ertragen zu werden, drückte sie nieder, und es war ihr eine Erlösung, als die Gesellschaft sich endlich trennte, als sie mit dem Vater die Uebrigen verlassen und sich zurückziehen konnte.

Der Baron, den die Schlaflosigkeit des Alters ergriffen hatte, pflegte sich wenn die Anderen zur Ruhe gegangen waren, oft noch stundenlang in dem kleinen Salon aufzuhalten, der an seine Zimmer stieß, um dort seine Abendcigarre zu rauchen. Helene, an spätes Wachen gewöhnt, leistete ihm dann plaudernd Gesellschaft. Auch heute folgte sie ihm dorthin. Kaum aber waren sie eine Weile beisammen gewesen, als ihm die Niedergeschlagenheit der Gräfin auffiel, so daß er sie freundlich fragte, was ihr fehle?

Und als hätte es nur des lösenden Wortes bedurft, so plötzlich brachen die Thränen aus den Augen der Gräfin hervor.

»Was ist geschehen?« rief der Baron befremdet.

»Nichts! Nichts!« beruhigte die Tochter.

»Nichts? und Du weinst? – das wäre unverzeihlich selbst an einem Kinde. – Was ist Dir geschehen, was hast Du? Rede!« sagte er und legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Sei nicht so gut zu mir! Sprich es aus, was Du ja denken mußt, mein Vater!« flehte die Gräfin. »Ich weiß es, ich fühle es tief, daß ich diese Liebe nicht verdiene!«

Sie weinte bitterlich. Dem greisen Vater schnitt es durch das Herz. »Weine nicht, Helene! Geschehenes ist nicht ungeschehen zumachen!« sagte er und bot ihr die Hand. Aber die Gräfin nahm sie nicht an und schüttelte das Haupt.

»Nein! nein! mein Vater! laß mich sprechen! Es zieht mich dazu, wie es den Menschen zieht, seine Seele zu entlasten vor Demjenigen, dem er die Kraft der Vergebung zutraut. Seit ich dies Haus betreten habe, ist mir der Tag gegenwärtig gewesen, da Du mich und Erich weihtest zum Eintritt in das Leben. Ich habe nicht gehalten, was ich Dir versprach. Mit dem Tage meiner Hochzeit begann mein Unglück, begann meine Schuld!«

Der Baron hatte ihr gegenüber Platz genommen und sie mit düsterem Blick betrachtet. »Deine Worte klagen mich an, Helene!« sagte er tonlos.

»Anklagen?« rief sie. »Ich habe Niemand anzuklagen, Niemand, als mich selbst; und das Leben hat meine Schuld sehr hart an mir gerächt!«

Sie hielt inne, dann sprach sie mit leidenschaftlicher Bewegung: »Mitten in dem Glanze um mich her hat der Wurm nicht geschlafen in meiner Brust. Ich weiß, was er von mir denkt der Graf. Ich kenne die Welt, die mir huldigt und über mich ihr Urtheil spricht. Ich fühle das Alles, es schmerzt mich Alles! – Hundertmal habe ich auf dem Punkte gestanden,« fuhr sie fort, »mich an Deine Brust zu werfen und Dir zu sagen: nimm mich zu Dir! Meine Ehe ist mein Fluch! Mein Lieben war ein Verbrechen, meine Kunst habe ich mißbraucht, den Zwecken eines Mannes zu dienen, der mich, der meine Liebe mit Füßen getreten hat«

»Halte ein, Helene! Halte ein!« rief der Baron und verbarg mit heftiger Bewegung seine Augen mit den Händen. Die Gräfin verstummte. Er konnte die Selbstanklage seines Kindes nicht ertragen. Beide schwiegen.

Der Pendel der großen Bronzeuhr auf dem Kamine tickte in ruhigem Gleichmaß fort. Der Baron ging mit schwerem Schritte auf und nieder, den Blick zur Erde gesenkt. Nur wenn er in Helenens Nähe kam, hob er das Haupt und sah sie an. Endlich blieb er vor ihr stehen, und sagte in Gedanken versunken: »Und ich wollte ihr Bestes!«

Die Gräfin schreckte empor. Das Gesicht des Barons trug die Spuren tiefen Schmerzes, auch Helene war erschöpft. Mit matter Bewegung faßte sie des Vaters Hand. »Ich hätte schweigen sollen,« sprach sie, »aber dies Haus, dies Bild in Deinem Zimmer und – –«

Sie wollte Sidoniens Härte nennen, unterdrückte es jedoch. Der Baron sah zu dem Gemälde hinauf, es war das Werk von Saint Albin. Er verstand nicht, welchen Zusammenhang es mit den Erinnerungen seiner Tochter haben könne, er forschte auch nicht danach, und wieder schwiegen Beide, bis der Baron sie fragte: »Wie verhält sich Saint Brezan zu Dir?«

»Ich bin Herr über mich und mein Thun!«

»Furchtbar!« rief der Baron, »furchtbar und unverantwortlich vom Grafen! Deine Freiheit ist – –«

»Mir schaudert vor dieser Freiheit,« rief die Tochter ihn unterbrechend, »vor dieser Freiheit, die ich selbst begehrte. Die Schuld ist mein, mein allein! Aber mein Herz ist leer, mein Beruf unerfüllt! Müde, recht lebensmüde, Vater, bin ich zu Dir gekommen, das Einzige zu fordern, das mir noch werth hat – Deine Vergebung. Vergieb mir, o! vergieb mir Vater!«

Sie war aufgestanden und an ihn herangetreten, der Baron zog sie in seine Arme und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie hörte seinen Herzschlag, sie hörte die starken Athemzüge, mit denen er seine Erschütterung bekämpfte, sie fühlte des Greises Thränen niedertropfen auf ihr Haupt. Plötzlich ließ er sie los, richtete sich hoch empor und sagte: »Genug der Reue! sie ist unfruchtbar! Schließe ab mit der Vergangenheit, und dann auf neuem, besserm Wege vorwärts! – Jetzt aber geh zur Ruh!«

Er gab ihr die Hand, sie küßte dieselbe. Der Baron wollte sich entfernen. Die Gräfin jedoch schien noch Etwas auf dem Herzen zu haben, denn sie behielt seine Hand in der ihren, und sah bittend zu ihm empor. Der Baron glaubte, sie fühle sich noch nicht beruhigt, küßte sie auf die Stirne und wiederholte: »Geh zur Ruh, Helene, und schlaf wohl im Vaterhause!«

Da faßte die Gräfin sich gewaltsam und mit flehender Stimme bat sie: »Soll ich allein das Glück genießen – soll nicht Cornelie –«

Der Baron zuckte zusammen. »Schweig!« herrschte er. »Deiner Schwäche konnte ich vergeben, denn Du bist ein Weib! – Sie, die mit kaltem Blute gegen ihren Vater Rechte zu behaupten wagte, sie bedarf des Vaterhauses nicht!«

Er wendete sich danach schnell von ihr ab und verließ mit festem Schritte das Gemach, in dem die Gräfin einsam zurückblieb, bis die verlöschenden Kerzen sie zum Aufbruch mahnten.

Der nächste Morgen fand sie bleich und abgespannt, auch der Baron sah angegriffen aus. Es war kein Schlaf in seine Augen gekommen. Hatte in der Tochter Gegenwart das Mitleid mit seinem Kinde ihn überwältigt, das Gefühl des Mannes gegen ein schutzsuchendes Weib ihn bestimmt, so wuchtete sich das Geständniß der Gräfin in der Einsamkeit nur um so schwerer auf ihn. Er konnte sein bisheriges Verhältnis zu ihr nicht wieder finden. Sie selbst hatte den Zauber zerstört, der ihn ihre Schuld vergessen machen, sie selbst hatte ihn daran erinnert, daß er ihr Schweres zu verzeihen habe.

Die Gräfin empfand die Veränderung, die in seinem Innern vorgegangen war, nur zu tief, und wie ein Gewitter in weiter Runde die Luft erkaltet, so machte sich die Erschütterung der Zustände zwischen Vater und Tochter allen Hausgenossen schnell bemerkbar. Helenens Hingebung an den Vater hatte einen Ausdruck der Gebrochenheit angenommen, und der Baron schien es plötzlich müde geworden zu sein, nach ihren Erlebnissen zu fragen. Er begann allmählich zu seinen alten Gewohnheiten, zu Vorlesungen und Kartenspiel, zu der Baronin und der Pfarrerin zurückzukehren. Die Gräfin ließ es ruhig geschehen. Das lange und still getragene Bewußtsein einer Schuld hatte sie geduldig und demüthig, und jede Art von Buße ihr erwünscht gemacht. Der Baron aber verlor alles Behagen an den Zuständen. Es verdroß ihn, der Tochter die früheren Vorrechte zu entziehen, und er konnte sich doch nicht entschließen, sie ihr Sidonien gegenüber ferner einzuräumen. Als Richter anerkannt, wollte und mußte er ein Richter sein.

Sidonie sah die wiedererwachende Theilnahme ihres Schwiegervaters für sie, und benutzte sie schnell. So gewann die Gräfin mehr Muße, sich selbst und ihrem Bruder zu leben, und in der Vertraulichkeit längerer Spaziergänge, in dem Geplauder mancher einsamen Stunde, schlossen die Herzen der Geschwister sich einander auf. Dabei ward Erich gewahr, wie sehr er an seiner Frau jenes liebevolle Verständniß seines Charakters, jenes Verständniß der wirklichen Welt entbehrte, welche ihm in der Schwester überall entgegenkamen. Sidonie hatte eine feste, ideale Vorstellung von dem Charakter des Mannes, feste ideale Vorstellungen von dem Leben, und wo Erich, wo das Leben diesen Abstractionen nicht entsprachen, sah sie verdammliche Schwäche oder Schuld. Das zwang ihren Mann, sich immer künstlich zu jener Höhe emporzuschrauben, auf der allein er ihren Begriffen zu genügen vermochte. Er durfte ihr nicht die Nachsicht mit der Unvollkommenheit des Menschen und der menschlichen Zustände zeigen, welche seine Lebenserfahrung und seine größere Menschenkenntnis ihn gelehrt hatte. Er mußte sein besseres Wissen, seine reifere Einsicht, und mehr noch jede Schwäche seines Wesens vor ihr verbergen. Dabei aber wird ein wahrer Zusammenhang zur Unmöglichkeit. Er durfte sich achten in der Aufrechterhaltung des Charakters, zu der Sidoniens Auffassung ihn zwang, indeß er hatte das rechte Gleichgewicht verloren, denn er war genöthigt, gegen seine angeborne Milde und Weichheit zu handeln, und Niemand verleugnet seine Anlagen ohne wirklichen Nachtheil.

Er tadelte die Baronin nicht, allein er beklagte gegen die Schwester die Erziehung der Frauen im Allgemeinen. »Es ist nicht gut,« sagte er, »daß man sie so wenig vorbereitet für das Leben, für die Wirklichkeit. Jeder Mann wird durch eine lange, stufenweis fortschreitende Schule und Erfahrung für den Beruf herangebildet, dem er sich bestimmt. Man würde den für einen Thoren halten, der einem Lehrlinge die Vollendung eines Meisterwerkes übergäbe, Niemand jedoch denkt an die Notwendigkeit, das Mädchen vernünftig für die Ehe, für das Leben, durch Menschenkenntnis und durch Wahrheit zu erziehen.«

»Und wer trägt die Schuld davon?« fragte die Gräfin, »wer anders als Ihr selbst. Die Mütter sind dahin gekommen, es dem Manne als einen Segen anzurechnen, wenn sie ihm die Tochter so unerfahren wie ein Kind entgegenbringen, weil Ihr Männer, entsittlicht, wie so viele unter Euch es sind, den höchsten Werth des Weibes in den Zauber jener ahnungslosen Unschuld setzt, den die Ehe doch zerstört. Wie könnt Ihr fordern, daß ein Tag, daß wenig Monate dem Mädchen die Einsicht, die Selbstverleugnung und das Verständniß Eures Wesens geben, die unentbehrlich sind für eine Ehe? Woher sollen dem Mädchen die rechten Vorstellungen von dem männlichen Charakter, woher jene Menschenkenntniß kommen, deren die Frau als Gattin, als Mutter, als Vorsteherin der Familie bedarf, und ohne die überhaupt Niemand mit dem Leben fertig werden kann?«

»Sidoniens Mutter theilte in gewissem Sinne Deine Ansicht, die leider nur zu wahr ist!« erwiederte Erich. »Auch war Sidonie mehr als Andere für ihren Frauenberuf erzogen. Sie hatte über Liebe, über Ehe, über Erziehung viel gedacht –«

»Und sich unerfüllbare Vorstellungen davon gebildet, wie wir Alle,« fiel die Gräfin ihm in's Wort, »weil man ihr die einzige Wahrheit verborgen hat, welche allein den Menschen für das Leben richtig vorbereitet, die Wahrheit, daß der Mensch unvollkommen, und alle menschlichen Zustände daher mangelhaft sind. In dieser Erkenntniß liegt alle höchste Lebensweisheit. In ihr sind alle Lehren der Liebe, der Nachsicht, der Barmherzigkeit enthalten. Und Gott weiß es, was es die Frauen kostet, was es mich gekostet hat, daß man uns diese Einsicht absichtlich vorenthält.«

Erich hatte ihr schweigend zugehört, dann sagte er plötzlich: »Ich habe Dich nie befragen mögen um Dein Sein und Leben, denn ich wußte, Du warst nicht glücklich. Jetzt, da ich Dich mit so sicherer Ruhe sprechen höre, kann die Frage Dich nicht schmerzen. Hast Du Dich in Dein Loos gefunden?«

Die Gräfin schüttelte schweigend das Haupt.

»Aber was soll aus Dir werden mit diesem Stachel der Unzufriedenheit im Herzen? Was forderst Du vom Leben? was willst Du beginnen?«

»Ich werde warten!« antwortete die Gräfin sanft.

»Warten?« fragte ihr Bruder befremdet.

»Was kann der arme, kurzsichtige Mensch anders thun als warten, wo er keinen Ausweg findet!« entgegnete sie. »Was kann er anders thun, wenn er nirgend einen Sonnenstrahl für sich erblickt, als auf den Tagesanbruch hoffen!«

Der Bruder sah sie befremdet an. Sie fühlte, er verstehe sie nicht und sagte: »Es ist nicht wahr, daß man abzuschließen vermag mit dem Leben! Weder Schuldbewußtsein noch Reue, weder Enttäuschungen noch Schmerzen, haben die Hoffnung in mir zu tödten vermocht auf ein Dasein, in dem ich mich rein waschen kann von meinen unglückseligen Erinnerungen, in dem ich schuldlos glücklich sein kann durch Liebe!«

»So hast Du auf's Neue eine Neigung gefaßt und denkst also doch an Deine Scheidung?« fragte Erich.

»Nein! keines von Beiden. Aber hast Du wohl die Erde im Frühlinge beobachtet, wenn die Stürme ausgewüthet haben, und sie nun da liegt noch unter dem Eindruck der vergangenen Schrecken, und doch wie leise träumend von der sanften Schönheit, die sich nun bald über sie verbreiten wird? So still erwartungsvoll ist mir zu Muthe, seit ich neulich vor dem Vater gebeichtet habe!« –

»Gebeichtet?«

»Laß Dich nicht irren durch das Wort! Es ist etwas Befreiendes in dem Aussprechen dessen, was uns drückt, vor einem Menschen, den wir höher achten als uns selbst. Und ich genieße den Frieden, der mir seitdem geworden ist, als eine Segnung, als einen Balsam, der mir Heilung bringen wird und muß.«

»Aber welches sind Deine nächsten Plane?« forschte Erich, der nicht den Muth hatte, der Schwester zu bekennen, daß diese Ruhe, diese Hoffnung ihm auf neuer Täuschung zu beruhen schienen.

»Ich habe keine Plane, ich warte!« antwortete Helene, »denn ich weiß, das Leben ist viel klüger, als wir selbst. So lange ich es meistern, so lange ich das Glück erjagen wollte und nach Liebe strebte, flohen mich Glück und Liebe. Jetzt, da ich Nichts erstrebe, ist mir der Friede gekommen. Wer weiß es, welche milde Lösung das Leben in seinen wunderbaren Verwicklungen mir noch für meine Zukunft aufbewahrt!«

Erich entgegnete ihr Nichts, bis er nach einer Pause sagte: »Welch eine Klippe muß der Katholicismus in Italien für Dich gewesen sein!«

»Ich habe oft sehnsuchtsvoll an ihn gedacht!« erwiederte die Gräfin. »Er ist die Zuflucht für den Leidenden. Was hätte ich in mancher banger Stunde darum gegeben, hinknieen zu können, und meine Schmerzen auszuweinen in eine verschwiegene Menschenbrust! Welch ein Trost wäre es mir gewesen, nur einmal auszusprechen, ich trage eine Hölle von Verzweiflung in mir –«

»Und einem Menschen mußtest Du das sagen? genügte Dir nicht –«

»Das Gebet?« ergänzte Helene mit Lebhaftigkeit, »nein! das Gebet zu einem Unsichtbaren hilft mir nicht. Meine ganze Natur ist auf das sinnlich Erfaßbare gestellt. Ich kann nicht denken, ich will sehen, hören, will empfinden. Es muß gegenwärtig sein, was mir helfen soll. Ich kann nicht in mir selbst beruhen, ich fühle das Bedürfniß nach einer leitenden Hand, nach einem Herzen, in dem ich Schutz und Zuflucht finde – und da das Schicksal mir dies Herz zu finden nicht vergönnte, zog es mich oft, den Trost zu suchen in der Kirche, welche ihn uns durch ihre Stellvertreter lebensvoll verkündet.«

»Friedrich beurtheilt den Katholicismus und namentlich die Priester, die er jetzt in der Nähe kennen lernt, aus einem andern Standpunkte als Du!« bemerkte der Baron, und mit großer Theilnahme rief Helene, als habe sie nur diesen Anlaß erwartet, die Frage zu thun: »Warum sprichst Du mir nicht von Friedrich? Warum höre ich Nichts von ihm, als die Klagen, welche Sidonie über seine Irreligiosität ausspricht, und das Lob, das Auguste dem Glücke ihrer Ehe spendet?«

»Was soll Dir diese traurige Erinnerung?« meinte Erich.

»Traurig nennst Du sie?« rief Helene. »Wie wenig kennt Ihr mich!« – Sie sah nachdenkend vor sich nieder, dann sprach sie: »In den Zeiten, in denen ich aus blindem Schmerze irre geworden war an mir selber und an den Menschen, als ich die Männer verachtete, weil Einer verächtlich an mir gehandelt, da blieb nur eine Erinnerung rein in mir, nur ein Mann frei in meinen Augen von dem Verdachte harter Selbstsucht, eine Zeit meines Lebens frei von jedem Vorwurf – und das waren Friedrich und die schuldlosen Tage unserer Jugendliebe. – Welch gute Kinder, welch glaubensvolle Idealisten waren wir!«

Sie seufzte und lächelte dabei. »Du würdest ihn,« sagte der Bruder, »in seinem Charakter unverändert finden. Er hat noch immer den unbeirrten Glauben an den Menschen und an alles Große –«

»So muß Augustens Schilderung ihres Glückes unwahr sein! Ein solcher Mann kann sie nicht lieben!« unterbrach ihn die Gräfin mit einer Art Heftigkeit. »Wie klein ist es von ihr, mit einer Lüge vor mir zu prunken! und wie wenig kennt Sidonie das Leben, daß sie es nöthig glaubt, Augustens Heuchelei mir gegenüber zu unterstützen. Was kann ich gemein haben mit ihm, von dem ein Menschenleben mich trennt? Was können wir für einander hegen, als den Dank für eine Erinnerung? Und nur die meine hat er mir zu retten vermocht!«

Sie versank in Nachdenken, und sprach an diesem Tage nicht mehr von Friedrich. Indeß schon nach kurzer Zeit war es Erich, der wieder und immer öfter auf den Freund zurückkam. Durch Helenens sichtliche Hinneigung zum Katholicismus besorgt gemacht, sie könne sich zu einem Uebertritt entschließen, war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, sie durch Friedrich, an den sie glaubte, von einem solchen Schritte zurückzuhalten, der für den Baron ein furchtbarer Schlag sein mußte; während er ander Seits dem Freunde es durch das Beispiel Helenens zu beweisen meinte, daß eine sichtbare Kirche von Menschen der verschiedensten Bildungsgrade als ein unabweisbares Bedürfniß empfunden werden könne. Es lag für ihn etwas Versöhnendes in der Vorstellung, daß Helene und Friedrich, die das Leben in der Jugend getrennt hatte, bestimmt sein könnten, einander auf dem rechten Wege festzuhalten, und in gegenseitiger Freundschaft Ersatz zu finden für das, was ihre Ehen ihnen nicht geboten hatten. Er gönnte Beiden den Trost, ja er hoffte sogar, Beide würden sich leichter mit ihrem Loose auszusöhnen, sich in ihren Verhältnissen zurecht zu finden vermögen, wenn man ihrem idealen Zuge diese Befriedigung verschaffen könne. Und gleich theilnehmend für die Schwester wie für den Freund, machte er einst, als er einen Brief von Friedrich erhalten hatte, der Schwester den Vorschlag, ein Paar Zeilen für Friedrich der Antwort beizufügen, die er ihm zu senden hatte.

Helene war von diesem Vorschlage sichtbar betroffen. Sie verlangte zu wissen, wie Erich zu dem Einfalle gekommen sei? Er verhehlte ihr es nicht, und der Gedanke, den einst geliebten Mann vor der Trostlosigkeit des Atheismus zu bewahren, ergriff Helene lebhaft. Ihr Herz und ihre Phantasie bemächtigten sich desselben augenblicklich, der Plan lockte und rührte sie zugleich, aber schon bereit, ihre Zustimmung zu erklären, schien sie plötzlich ihre Ansicht zu ändern. »Ich mag Augusten nicht entgegentreten!« sagte sie kurz und bestimmt.

»Entgegentreten?« erwiederte der Bruder. »Würde ich Dir dazu rathen? Ihn auf dem Wege festzuhalten, auf dem am leichtesten eine Ausgleichung zwischen Friedrich und Auguste zu vermitteln ist, das forderte ich von Dir!«

»So schweige wenigstens gegen sie davon!« sprach die Gräfin nach flüchtiger Ueberlegung. »Ihr Mißtrauen würde ihn und mich verfolgen, und wo wir Frieden säen wollen, würde Streit erwachsen! Die theure Mutter hat mich einst selbst zu Friedrich's Ideal geweiht, möge Gott mir das Glück gewähren, ihm ein Rettungsengel zu werden!«

Es lagen eine Feierlichkeit und Frömmigkeit in ihrem Ausdruck, die den Bruder rührten. Sie versank in Nachdenken, und sagte endlich nach längerem Sinnen lächelnd: »Hatte ich nicht Recht, daß man nur warten müsse? Jetzt zeigt mir ja das Leben selber wieder, wohin ich mich zu wenden habe, worauf ich meine Kraft und meine Hoffnung richten soll! – Eine Hoffnung! das war das Tageslicht, nach dem ich lang geschmachtet habe!«


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