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Weshalb Georg Felber seinen Posten verläßt – Warum der Kaufherr stutzig wird – Ein Wiedersehen – Ein ungetreuer Verwalter – Was man Georg schreibt.
Zum ersten Februar hatte Georg seine Stellung bei der Firma Burgstetten gekündigt. Dem Kaufherrn tat es sehr leid, daß er den ihm so lieb gewordenen Mitarbeiter verlieren sollte. Aber es war ihm ja auch kein Geheimnis geblieben, daß das Verhältnis zwischen dem Prokuristen und Georg immer gespannter zu werden drohte. Er bedauerte es unendlich, daß sich die beiden Männer so wenig verstanden. Ebenso wie er den in seinen Diensten ergrauten Herrn Hagemann nicht entlassen konnte, mochte er auch Georg Felber nicht missen. Auf wessen Seite die Schuld an dem wenig angenehmen Verhältnis lag, konnte Herr Burgstetten beim besten Willen nicht ergründen. Keiner sprach sich darüber aus. Und nach des Kaufherrn Ansicht und Erfahrungen waren beide ausgezeichnete Menschen, nur daß sie eben nicht zueinander paßten. Als Georg Felber seine Kündigung vorbrachte, fügte sich Herr Burgstetten seufzend darein. Seine Versuche, den jungen Mann zum Bleiben zu bewegen, scheiterten. Und der Grund, den Georg als Hauptanlaß seines Fortgehens angab, war ja auch durchaus glaubhaft und versprach außerdem Vorteile für den jungen Kaufmann. Georgs ehemaliger Prinzipal war plötzlich gestorben, und sein Sohn, ein Schulfreund Georgs, sah sich dadurch unvermittelt an die Spitze des großen Geschäftshauses gestellt. Er bat Georg in einem herzlichen Schreiben, wenn irgend möglich, in seine frühere Stellung zurückzukehren und ihm als Freund und Berater zur Seite zu stehen.
Georg schied begreiflicherweise nicht mit leichtem Herzen aus dem ihm so vertraut gewordenen Wirkungskreise. Aber er erhoffte von dieser Trennung, so schwer sie ihm schien, Ruhe für sein Herz. In der Ferne würde er Karola vielleicht doch vergessen können. Sie gehörte ja einem anderen. Georg ließ sich nicht über diese Tatsache hinwegtäuschen. Wenn auch noch niemand in die Verlobung eingeweiht zu sein schien, so merkte es Georg doch deutlich an des Doktors glückstrahlender Miene, dem freudigen Aufleuchten seiner Augen, wenn er Rola gegenüberstand.
Daß Karola der Hauptgrund seines Fortgehens war, wußte nur Fräulein Roderich. Ihr hatte Georg gebeichtet. Sie ersetzte ihm ja alles, was er schon so lange verloren – die Heimat und die Mutter. Dem warmen, teilnehmenden Blick ihrer Augen hatte der junge Mann auf die Dauer nicht widerstehen können. Aber Trost vermochte ihm das alte Fräulein zu ihrem größten Schmerze auch nicht zu geben. Sie sah ja selbst keinen Ausweg. Georg mußte sein Leid allein durchkämpfen.
Karola fand es im stillen undankbar, daß Georg seine Stellung so schnell und anscheinend leichten Herzens aufgab. Sie ahnte ja nicht die Gründe und wußte nur, daß er unter günstigen Bedingungen an seinen früheren Posten zurückging. So schnell also konnte er sich von hier trennen! Und wie hatte sich Fräulein Roderich doch gefreut, daß Georg nach Gürberg gekommen war! Nun, ihr selbst war es ja gleich. Mochte er gehen, wenn ihm der Abschied so leicht wurde! Sie beide hatten sich ja nie übermäßig leiden können. Immer wieder versicherte sich Rola das. Aber merkwürdig, je mehr sie es sich einredete, je mehr beschäftigten sich ihre Gedanken mit Georg. Und ihr Herz wurde nicht leichter bei diesem Grübeln.
Nun war Georg fort. Ein anderer war an seine Stelle getreten. Aber nie und nimmer konnte dieser seinen Vorgänger ersetzen, das wurde Herrn Burgstetten bald zur Gewißheit. Zwar war er ein fleißiger, gefälliger Arbeiter, jedoch fehlte es ihm an dem kaufmännischen Talent Georgs. Er besaß wohl auch nicht dessen ausgezeichnete Vorbildung.
Herr Burgstetten hätte gerade jetzt eine tüchtige, eingearbeitete Stütze gut gebrauchen können. In geschäftlicher Beziehung hatten sich durch den Fall eines großen Handelshauses nicht unbedeutende Schwierigkeiten ergeben. Der Prokurist aber hatte im April seine alljährliche Ferienreise angetreten. Er war irgendwo in Südfrankreich. Eine genaue Adresse hatte er nicht hinterlassen können, da er angeblich ständig seinen Aufenthalt wechselte.
Des Kaufherrn Antlitz war jetzt manchmal recht sorgenvoll. Zu seinen Damen sprach er nicht von der schwierigen Geschäftslage, Rat konnten sie ihm ja in dieser Beziehung auch nicht geben. Jetzt hätte er einen Mann wie Georg Felber gebrauchen können. Immer wieder dachte der Kaufherr das, und andere Gedanken schlichen sich dabei ein. Ja, der Georg Felber – solch einen Schwiegersohn hätte er sich gewünscht. Da wußte er wenigstens, daß die Firma Burgstetten, sein Lebenswerk, in gute Hände überging. Aber sein Wünschen und Hoffen war vergeblich. Die jungen Leute waren sich in der ganzen Zeit ziemlich fremd geblieben, und Doktor Scholz schien ja wohl Absichten auf Rola zu haben. Nun, das Glück seines Kindes sollte ihm das Höchste sein, dahinter mußte alles andere zurücktreten.
Der Ärger und Verdruß wollten gar nicht aufhören in diesem Jahre. Herr Burgstetten hatte einen schon seit langem ausstehenden großen Betrag bei einer anderen Firma anmahnen lassen. Jetzt wies die Firma an Hand einer von Herrn Hagemann selbst unterzeichneten Quittung nach, daß sie bereits im März die Summe eingezahlt habe. Es mußte also von seiten des Prokuristen, der nach Georg Felbers Abgang die Kassengeschäfte wieder übernommen hatte, ein Versehen vorliegen – und ein ziemlich grobes dazu. Der Eingang des Betrages war in keinem Buche notiert, und in der Kasse ergab sich kein Überschuß. Niemand wußte etwas davon. Herr Burgstetten schrieb postlagernd nach Nizza, wie er es für dringende Fälle mit Herrn Hagemann verabredet, und bat um Aufklärung. Nach vierzehn Tagen kam endlich eine Antwort – etwas unklar und verworren. Der Prokurist beteuerte fast zu eifrig, daß die Sache auf einem Irrtum der in Frage kommenden Firma beruhen müsse. Der Kaufherr wurde stutzig. Sollte er seinem langjährigen Untergebenen allzusehr vertraut haben? Und merkwürdig, wenn er jetzt an Herrn Hagemann zurückdachte, so sah er immer zwei unstet flackernde, scheue Augen vor sich. Ein unbehagliches Gefühl beschlich den Kaufherrn. Nun, wenn Herr Hagemann, um dessen sofortige Rückkehr er ersucht hatte, wiederkam, mußte sich ja alles aufklären.
Aber das Schicksal hatte es anders im Sinne. Herr Burgstetten hatte einen eiligen Ritt über Land gemacht und sich dabei eine Erkältung zugezogen. Am Abend schon klagte er über Frost und Kopfschmerzen. Am nächsten Tage konnte er das Bett nicht verlassen, und der schnell herbeigerufene Medizinalrat stellte eine Lungenentzündung fest. Er verhehlte den beiden Damen nicht, daß die Krankheit bei dem Herzfehler des Kaufherrn leicht einen bedenklichen Charakter annehmen könne.
Karolas Kräfte schienen in dieser Zeit zu wachsen. Fast ununterbrochen weilte sie am Lager des geliebten Kranken. Sie wußte, daß die zarten Kräfte der Mutter nicht allein ausreichten, und einer Fremden wollte sie die Pflege nicht überlassen. Der Medizinalrat, der zuerst dagegen protestieren wollte, erklärte sich doch einverstanden, als er sah, mit welcher Umsicht das junge Mädchen am Krankenlager waltete. War das noch das stolze, selbstbewußte, verwöhnte Töchterchen – die ernste Mädchengestalt mit dem blassen Antlitz, aus dem tiefes Leid und selbstlose Aufopferung sprachen? Ja, was in Rolas Herzen noch an Schlacken und ungeschliffenen Ecken gewesen, das versank in jenen ernsten Tagen für immer. Jetzt erst kam es ihr zum Bewußtsein, wie glücklich sie bisher gewesen, welchen Schatz sie als selbstverständlich hingenommen – Gesundheit, Reichtum und vor allem die köstliche, warme Elternliebe. Und sie hatte immer gemeint, an ihrem Glücke könne gar nichts rütteln.
Der Kranke phantasierte heftig. Die geschäftlichen Schwierigkeiten der letzten Wochen wollten ihm selbst im Fieber nicht aus dem Kopfe. In lichten Momenten faßte er die Hände von Frau und Tochter. »Nicht wahr, wenn ich einmal nicht mehr bin, ihr laßt unsere Firma nicht eingehen. Wenn es mit dem vorhandenen Personal nicht geht, dann ruft den Georg Felber. Er wird kommen, ich zweifle nicht daran.«
Fast übermenschliche Kräfte kostete es Frau Burgstetten und Karola, um nicht aufzuschreien in bitterem Weh, den Kranken zu bitten, nicht so trübe Gedanken zu haben, sondern an seine Wiederherstellung zu glauben. Und sie konnten doch selbst nicht mehr daran glauben. Des Doktors Antlitz wurde immer ernster, bis sich dann, nach zehntägigem Kranksein, das Schreckliche erfüllte. Sanft und ruhig schlummerte Herr Burgstetten hinüber.
Mutter und Tochter waren fassungslos. Die erstere war überhaupt zu nichts fähig, und auch Karola gab sich zuerst völlig ihrem unsäglichen Schmerze hin. Aber dann mußte sie sich aufraffen, mußte doppelt ihre Kräfte einsetzen, jetzt, wo die Kraft der Mutter versagte. Es gab so viel zu tun in der Zeit vor der Bestattung, so viel Formalitäten, die man Fremden nicht überlassen konnte, waren zu erledigen, Kondolenzbesuche entgegenzunehmen, und was sonst noch mit einem solchen traurigen Fall zusammenhing.
Auch Dr. Scholz, den Karola in der letzten Woche nur ein paar mal in Vertretung des Medizinalrats gesehen, machte seinen Besuch. Er trauerte aufrichtig um den Verstorbenen, dessen prächtigen Charakter er hoch geschätzt und von dem er so gern noch den Segen für seine Verbindung mit Karola erbeten hätte. Es war ihm aber auch klar, daß er jetzt auf keinen Fall länger zögern durfte, die Verlobung zu veröffentlichen. Karola und ihre Mutter bedurften unter den obwaltenden Verhältnissen doch dringend eines männlichen Schutzes. Wenn sich die erste furchtbare Aufregung gelegt haben würde, wollte er um Karola anhalten. Sie mußte doch jetzt auch damit einverstanden sein. Dann würde sich, so hoffte er zuversichtlich, auch die scheue Zurückhaltung, die sie ihm gegenüber noch immer an den Tag legte, verlieren. Seine Mutter, die er in seine Verlobung eingeweiht, schüttelte sowieso schon bedenklich den Kopf. Sie konnte das junge Mädchen nicht begreifen. Wenn Rola ihren Sohn wirklich liebte, so würde sie doch nicht die Veröffentlichung der Verlobung so lange hinausschieben. Ob es wirklich das Richtige zwischen den beiden war? Die Frau Rat wollte es sich ja selbst so gern glauben machen. Sie wußte, daß das Glück ihres einzigen Sohnes davon abhing. – –
Zur Beerdigung kam des Kaufherrn Stiefbruder, Major Burgstetten mit seiner Gattin. Auch Georg Felber fehlte nicht, um seinem ehemaligen Prinzipal das letzte Geleit zu geben. Karola fühlte, wie seine Blicke immer wieder in aufrichtiger Teilnahme zu ihr und der Mutter schweiften. Ehe die Angehörigen später zu dem am Portal harrenden Wagen zurückkehrten, trat Georg zu den beiden Damen. An Karolas Seite stand Dr. Scholz. Georgs Fuß wollte stocken. Es quoll dem jungen Mann heiß und bitter im Herzen auf. Aber dann schämte er sich seiner selbstsüchtigen Gefühle – an dem Tage, an dem Karola Unersetzliches verloren. Herzlich drückte er den Damen die Hand und versicherte sie seiner Teilnahme. Nur wenige Worte waren es, aber man wußte von ihnen, daß sie von Herzen kamen.
Während man zum Wagen schritt, wandte sich Georg noch einmal zu Karola, Frau Burgstetten wurde bereits wieder von anderer Seite in Anspruch genommen. »Wenn Sie in kaufmännischer Hinsicht einen Rat oder eine Hilfe brauchen, Fräulein Burgstetten – ich stehe jederzeit zur Verfügung.«
Georg war sich bewußt, daß er dieses Anerbieten dem Andenken des Verstorbenen schuldig war, und Karola ihrerseits empfand, daß seine Worte aus treuem, ehrlichen Herzen kamen. Heute, in ihrem tiefen, heiligen Schmerze, war ja alles, was jemals zwischen ihnen gelegen, versunken und vergessen. Sie reichte ihm die Hand. Viel zu sprechen vermochte sie nicht. »Ich danke Ihnen, Herr Felber. Die Zeit wird vielleicht kommen, wo Mutter und ich eines freundschaftlichen Rates bedürfen.«
»Rufen Sie mich – und ich komme!« Mit einer Verbeugung zog sich Georg zurück. – –
Vom Kontor aus war bei Ausbruch der Krankheit des Prinzipals an Herrn Hagemann depeschiert worden. Aber der Prokurist erschien nicht in Gürberg, und das Telegramm kam schließlich als unbestellbar einen Tag nach dem Tode des Kaufherrn zurück. Herr Korn, der schon längere Zeit den Posten eines Expedienten bei der Firma bekleidete, machte Karola schließlich darauf aufmerksam, daß mit Herrn Hagemann nicht alles zu stimmen scheine. Es hätten sich bereits zu Lebzeiten des Prinzipals Unregelmäßigkeiten herausgestellt.
Karola hatte noch nicht weiter über diese Angelegenheit nachgedacht. Ihr Schmerz nahm ihr ganzes Denken gefangen. Erst als der Stiefonkel sich am Tage nach dem Begräbnis erkundigte, wie denn die Geschäfte geregelt werden sollten, dachte sie wieder an Herrn Hagemann und seine mutmaßlichen Veruntreuungen. Sie berichtete, was sie wußte.
Major Burgstetten, der, ebenso wie seine Gattin, etwas Stolzes, Kaltes im Wesen trug, zuckte unmutig die Achseln. »Da habt ihr vermutlich auch größere Verluste?«
»Ja, ziemlich umfangreiche sogar, wie mir Herr Korn mitteilte.« Rola sagte es so apathisch, als rede sie von ganz gleichgültigen Dingen, die sie nichts angingen. Und ihre Mutter achtete auch kaum darauf. Sie saß im Erker und starrte geistesabwesend vor sich hin.
Der Major blickte seine Frau vielsagend an, und fast vorwurfsvoll wandte er sich zu Schwägerin und Nichte. »Ich weiß nicht, was das immer mit den Unterschlagungen ist! Bei Ihrem Herrn Vater, verehrte Schwägerin, war es doch seinerzeit auch so ähnlich! Hat da nicht ein gewisser Felber eine ganz bedeutende Summe veruntreut? Demnach scheint doch die Kontrolle nicht scharf genug zu sein?«
Jetzt wurde Karola doch aus ihrer Gleichgültigkeit gerissen, während ihre Mutter beinahe hilflos auf den Mann starrte, der ihr so harte Dinge sagte. »Herr Felber ist es damals bei meinem Vater sicher nicht gewesen,« antwortete letztere schließlich mit matter Stimme. »Man hat den Dieb nicht ermitteln können. Was jetzt aber mit Herrn Hagemann sein soll, verstehe ich nicht.«
»Aber ich sehr gut!« sagte der Major trocken. Nach einigem Schweigen fuhr er fort: »Helfen kann ich hier beim besten Willen nicht. Von kaufmännischen Dingen habe ich keine Ahnung, und Geld?+… Wir müssen uns selbst einrichten. Warum war Kurt auch so töricht, Kaufmann zu werden!«
Karola, die sich schon vorhin nur mit Mühe beherrscht, konnte jetzt nicht länger schweigen. In ihrem Herzen glomm zum ersten Male wieder etwas von dem alten Stolze auf. Aber es war ein edler Stolz, der aus ihren Worten sprach. »Vater hat die Firma Burgstetten auf eine schöne Höhe gebracht. Und wenn dieser Hagemann ein Betrüger ist, so kann man doch Vater nicht dafür verantwortlich machen. Im übrigen denke ich zuversichtlich, daß wir uns allein forthelfen können. Wir werden uns gern recht einschränken, um die Verluste auszugleichen. Die Firma Burgstetten soll auf jeden Fall fortbestehen. Ich weiß, daß ich damit einen Herzenswunsch meines geliebten Vaters erfülle.«
»Ja, wie gedenkst du denn das zu tun?«
»Über die Einzelheiten bin ich mir jetzt natürlich noch nicht klar. Jedenfalls aber können wir uns auf das vorhandene Personal unbedingt verlassen, und ich werde selbst mitarbeiten, was in meinen Kräften steht.«
»Wie ist es denn mit Herrn Felber, kann er nicht kommen? Vater sprach doch noch in den letzten Tagen von ihm,« ließ sich die Mutter vernehmen.
»Was+… Felber? Der Major machte ein erstauntes Gesicht. »Doch nicht etwa der Sohn+…?«
»Ja, sein Sohn,« bestätigte Frau Burgstetten.
»Na, wissen Sie, verehrte Schwägerin, da gehört doch, gelinde gesagt, eine gewisse Portion+… Vertrauensseligkeit dazu!«
Wieder flammte es in Karolas Augen auf. »Georg Felber ist ein Ehrenmann, ich dulde kein Wort des Zweifels über ihn. Was mit seinem Vater gewesen ist, weiß ich nicht; aber keinesfalls kann man den Sohn dafür verantwortlich machen.«
»Sein Vater war damals unschuldig,« sagte Frau Burgstetten.
»Hm, mein Fräulein Nichte führt ja eine sehr energische und scharfe Verteidigung,« sagte der Major ironisch. »Nun, macht es, wie ihr wollt! Jedenfalls habe ich meine Bedenken nur zu eurem Besten ausgesprochen.« – –
Es war eine schwere, schlaflose Nacht, die Karola heute verbrachte, vielleicht die schwerste der beiden letzten Wochen. Da war nichts als Schmerz und Angst in ihr gewesen. Sie hatte überhaupt keinen klaren Gedanken zu fassen vermocht; jetzt aber stürmte außer dem tiefen Weh um den geliebten Vater noch manch anderes Schwere auf sie ein.
»Ich werde selbst mitarbeiten,« hatte sie dem Onkel heute geantwortet. Ja, wie dachte sie sich denn das? War sie nicht die Verlobte des jungen Arztes, dem sie in kürzerer oder längerer Zeit als Gattin folgen mußte? »Ich kann nicht, es ist unmöglich!« schrie es in ihr. Nein, sie liebte den Doktor nicht in der Weise, wie er es von ihr verlangen konnte. Und wenn sie es sich hundertmal eingeredet hatte, wie ein Hauch war alles verflogen, als sie heute Georg wiedergesehen. Aber die Erkenntnis wäre wohl auch so gekommen. Die beiden letzten Wochen hatten eine andere aus ihr gemacht. Sie war nicht mehr die alte Karola, die froh und sorglos das Dasein genossen. Tage der unsäglichsten Qual und Anstrengung hatten ihre Seele, ihr Denken gereift. Sie wußte jetzt, daß sie des Doktors Gattin nicht werden konnte. Nein, sie wären beide nicht glücklich geworden, sie paßten nicht zusammen. Warum hatte sie nicht schon eher auf die mahnende Stimme in ihrem Innern gehört?
Und dann – in Karolas Herzen stieg es heiß auf, weh und beglückend zugleich – sie hatte ja jetzt auch gar nicht an sich selbst denken dürfen, von ihr lag ein bestimmtes Ziel, ein schöner, ernster Lebenszweck. Sie wollte die Pläne ihres Vaters weiterführen, die Firma, die der Verstorbene mit so viel Liebe und Geschick begründet, sollte in Ehren fortbestehen. Ein reiches Arbeitsfeld winkte ihr da; viel, viel lernen mußte sie noch, aber sie würde ihre ganze Kraft dafür einsetzen. Und vor allem wollte sie ihrer Mutter durch doppelte Liebe und Zärtlichkeit über den schweren Verlust fortzuhelfen versuchen. Sie wollte die Gebeugte trösten+… trösten – ja – wie unendlich schwer war das doch! Ihr drohte ja selbst das Herz zu brechen in tiefem, qualvollem Weh. Karola schlug die Hände vors Gesicht, und heiße Tränen perlten zwischen ihren Fingern hervor. –
Diese Nacht, so schwer sie war, brachte Klarheit in Rolas Denken. Sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte, der Weg lag klar und deutlich vor ihr. Gleich am nächsten Vormittag schrieb sie an Doktor Scholz den Abschiedsbrief. Schwer, fast zu schwer erschien es ihr. Sie kam sich so schlecht vor, daß sie diesen Mann getäuscht. Aber sie war sich ja bisher dessen nicht bewußt geworden! Diese Zeilen mußten sein, es gab kein Zurück. Mit herzlichen, aufrichtigen Worten erklärte sie dem jungen Arzt alles, schrieb ihm, daß sie sich in ihren Gefühlen getäuscht, daß sie ihn zwar hoch schätze und achte, ihm aber nicht die richtige, große Liebe entgegenbringen könne, und daß sie jetzt nur ein Ziel habe, nämlich das Lebenswerk ihres Vaters fortzuführen. Fast flehend bat sie ihn um seine Verzeihung, und sagte ihm, beschönigte nichts, wie schmerzlich es ihr war, ihm weh tun zu müssen.
Die Antwort des Doktors ließ nicht lange auf sich warten. Nur wenige Zeilen waren es, aber aus ihnen sprach ehrlicher, männlich getragener Schmerz. Kein Wort des Vorwurfs lag darin. Er sprach die Hoffnung aus, daß die Zeit ihm über seine Enttäuschung hinweghelfen werde.
Die Antwort, die so recht den vornehmen Charakter des jungen Arztes widerspiegelte, bereitete Karola fast noch mehr seelischen Schmerz als ihr Abschiedsbrief an ihn. Sie fühlte sich ja schuldig, und es dauerte lange, ehe sie darüber hinwegkam.
Da man von Herrn Hagemann kein Lebenszeichen erhielt und seine Veruntreuungen immer wahrscheinlicher wurden, erstattete Herr Korn nach Rücksprache mit Frau Burgstetten und Karola schließlich die Anzeige. Die Kriminalpolizei erschien, untersuchte die Bücher und Kasse und stellte einwandfrei erhebliche Unterschlagungen des Prokuristen fest.
»Ob wir den Vogel noch fangen werden, ist allerdings recht fraglich, es ist schon zu viel Zeit für uns verloren gegangen,« meinte der Kommissar mit bedenklichem Gesicht.
Leider bewahrheitete sich seine Befürchtung. Die sofort eingeleitete Untersuchung ergab, daß Hagemann nicht, wie Herr Burgstetten angenommen, alljährlich zur Erholung in Südfrankreich oder Italien weilte, sondern ein ständiger Besucher der Spielsäle in Monaco war. Ferner wurde ermittelt, daß er in diesem Jahre fast immer mit Verlust gespielt und bedeutende Summen verloren habe. Vor vierzehn Tagen war Hagemann, wie die schmutzige Wirtin des ebenso schmutzigen Hauses, in dem der Prokurist gewohnt, aussagte, plötzlich abgereist. Die weiteren Nachforschungen ergaben, daß Hagemann sich nach Italien gewandt und vermutlich in Genua eingeschifft habe. Jedenfalls suchte er in Amerika Zuflucht. Im Gewühl der neuen Welt konnte er untertauchen, schwerlich würde ihn dort der Arm der Justiz erreichen.
Für Karola war diese Angelegenheit höchst qualvoll. Es erschien ihr entsetzlich, fast entehrend, daß der Name Burgstetten in eine so häßliche Geschichte verwickelt war. Ihre Mutter litt gleichfalls sehr darunter. Sie vermochte es noch immer nicht zu fassen, daß Hagemann ein Betrüger war. »Er war doch immer so freundlich und entgegenkommend,« sagte sie zu Karola.
»Mir war er, wie du weißt, schon immer widerwärtig; ich fand sein Wesen unangenehm kriechend,« antwortete das junge Mädchen. »Doch nun rege dich nicht weiter darüber auf, Mütterchen, wir werden auch darüber hinweg kommen.« –
Die Firma Burgstetten ging weiter. Frau Burgstetten als Erbin ihres Gatten hatte Herrn Korn einstweilen Vollmacht erteilt. Karola führte ihren Vorsatz getreulich aus. Sie war mit im Büro tätig. Zweimal in der Woche fuhr sie nach Gießen, wo sie an einem Handelskursus teilnahm. Sie bewies, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes ihres Vaters Tochter war. Sie hatte sein kaufmännisches Talent geerbt, und ihre guten Sprachkenntnisse, vor allem aber ein fester Wille, kamen ihr dabei zu Hilfe. Sie unterstützte Herrn Korn bei der Korrespondenz, die sich zum Teil auch aufs Ausland erstreckte. Bald hatte sie sich so eingearbeitet, daß sie auch einige Nebenbücher übernehmen konnte. Da saß sie nun an ihres Vaters Platz, auf seinem Stuhle, schrieb mit seiner Feder. Manche heiße Träne kostete es sie, das Vergangene wurde ja immer wieder in ihrem Herzen aufgerührt.
Dazu kamen im Anfang noch die pekuniären Sorgen. Die Verluste waren ganz erheblich, weniger noch durch Hagemanns Veruntreuungen, als durch den bereits zu Lebzeiten des Kaufherrn erfolgten Fall des großen Handelshauses.
Aber es wurde überwunden. Man schränkte sich ein, so weit es ging. Hatten Burgstettens bisher das große Haus allein bewohnt, so vermieteten sie jetzt das Erdgeschoß und einen Teil des ersten Stockwerks. Die Equipage, sowie das Dienstpersonal bis auf Frau Häberlein wurden abgeschafft. Aus dem Büro ging ein junger Mann ab, um sein Einjährigenjahr abzudienen. Für ihn wurde kein Ersatz genommen. Karola wollte die fehlende Kraft ersetzen. Was sie sich vorgenommen, führte sie mit zäher Energie aus. Wollte ihr der Mut einmal sinken, so genügte schon ein einziger Gedanke an den teuren Verstorbenen, ein Blick auf die geliebte Mutter, um ihre Kräfte zu stählen. – So wurden nach und nach die Verluste ausgeglichen. In Ehren wie bisher konnte die Firma Burgstetten weiterbestehen. –
Eine stille Freude wurde Mutter und Tochter dadurch zuteil, daß sich Fräulein Roderich bei ihnen im Parterre einmietete. Fast jeden Abend verbrachten die drei Frauen zusammen. Rola mußte manchmal lächeln, wenn sie daran dachte, wie sie früher über das alte Fräulein gespöttelt. – Und jetzt konnte sie es kaum erwarten, bis das bescheidene Klopfen an der Tür erscholl und Fräulein Roderich mit einer Häkelarbeit in dem gemütlichen Wohnzimmer erschien. So lieb und gut verstand sie zu trösten, so aufrichtig trug sie mit an dem herben Schmerze, der Mutter und Tochter betroffen. Manchmal schlüpfte Karola auch am Tage, wenn sie ein Viertelstündchen erübrigen konnte, in das Altjungfernstübchen hinunter.
Fräulein Roderich machte sich seit letzter Zeit ihre eigenen Gedanken über das junge Mädchen. Dr. Scholz kam nicht mehr zu Burgstettens, Karola erwähnte ihn auch nie. Als Fräulein Roderich einmal nach längerem Draußensein unvermutet ins Zimmer zurückkehrte, fand sie Karola in den Anblick von Georgs Bild, das aus neuester Zeit stammte und auf dem Sophatisch den Ehrenplatz einnahm, versunken. Sie erzählte jetzt öfter von ihrem Paten, und immer hörte das junge Mädchen interessiert zu. In dem Herzen des alten Fräuleins keimte ein grünes Hoffnungszweiglein auf. Sollte sich Georg nicht doch getäuscht haben? Liebe macht blind – und die Eifersucht!
Gelegentlich brachte Fräulein Roderich wohl auch auf Karolas Bitte die alte Spieluhr herbei. Mit feuchten Augen lauschten beide auf die liebliche Melodie. »Georg – Herr Felber hat uns die Tyrolienne auch einmal auf dem Klavier vorgespielt.« Kaum waren ihr diese Worte entschlüpft, erschrak Karola. Hatte sie sich jetzt etwa verraten? Aber nein, Fräulein Roderichs Antlitz war nicht das geringste anzumerken, und bis ins Herz hinein konnte Karola ja nicht sehen. – –
Die Kränzchenzusammenkünfte hatten recht lange ausgesetzt. Karola hatte in ihrem Schmerze für nichts Sinn, und auch die Freundinnen waren so bestürzt über den schnellen Tod des Kaufherrn, daß sie lange gar keinen Gefallen an den sonst so frohen, sorglosen Kränzchenkaffees fanden. Die Rosen verblühten schon, als man zum ersten Male wieder wie in alten Zeiten zusammenkam. Da saß man nun im Garten des Rechtsanwaltshauses, aber es wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Rola sah so ernst aus in ihrem schwarzen Kleide. Sie fühlte wohl selbst, daß sie die Ursache der allgemeinen Niedergedrücktheit war, und bemühte sich deshalb, ein wenig Ablenkung zu schaffen.
»Wann hast du denn Hochzeit, Ilse?« erkundigte sie sich.
»Ach Rola, ich hatte gehofft, sämtliche Kränzchenschwestern an meinem Hochzeitstage um mich zu sehen, und nun soll ich meine Rola missen?« Die junge Braut blickte traurig auf die Freundin. »Wir haben die Hochzeit sowieso noch bis zum Spätherbst hinausgeschoben, weil der Umbau von Elgenhorst längere Zeit in Anspruch nimmt, als Franz anfänglich annahm. Vielleicht darf ich dich dann doch unter meinen Brautjungfern sehen? Wir machen ja gar keine besondere Festlichkeit, nur nach der Trauung ein einfaches Diner im engsten Kreise.«
»Ich will sehen, Ilse. Ich würde dir ja selbst gern an deinem Ehrentage das Geleite geben. Nur eben – Vater+…« Karolas Augen füllten sich schon wieder mit Tränen. Und Ilse, die ja den gleichen Schmerz durchlebt, verstand die Freundin nur zu gut.
Es herrschte eine Zeitlang Schweigen in dem jungen Kreise; dann unterbrach Herta die Stille. »Denkt mal, Dr. Scholz verläßt Gürberg. Er war doch vorläufig nur aushilfsweise hier angestellt. Jetzt hat er beim Ministerium um seine Entlassung gebeten. Er will einige Zeit auf Reisen gehen und später ein Sanatorium für Nervenleidende übernehmen. Er hat diese Absicht ja schon früher geäußert, aber Papa kommt sein Entschluß doch überraschend.«
Karola schlug das Herz heftig. Sie war dem Doktor seit ihrer Trennung nur einmal auf der Straße begegnet; da waren sie mit schweigendem Gruße aneinander vorübergegangen. Nun ging er für immer fort. Oh, wenn er doch Glück und Vergessen draußen finden würde! Karola wünschte es mit jeder Faser ihres Herzens.
Die andern hatten bei Hertas Worten unwillkürlich einen scheu forschenden Blick auf Karola geworfen. Wenn auch niemand etwas Bestimmtes wußte, so sagte doch die Tatsache genug, daß Dr. Scholz, der in dem geselligen Gürberger Leben ordentlich aus sich herausgegangen war, plötzlich menschenscheu und wortkarg geworden, vor allem aber, daß er nicht mehr bei Burgstettens ein- und ausging. Es bestand kein Zweifel, Karola mußte ihm einen Korb gegeben haben. – Vielleicht hatte auch er sich die Sache anders überlegt, redete sich Herta ein.
Änne putzte sich plötzlich krampfhaft die Nase und fuhr dabei hastig über die Augen.
»Nun, du weinst am Ende gar, daß der nette Doktor fortgeht?« scherzte Wilma von Rodenheim ahnungslos.
Änne versuchte zu lächeln, aber die Tränen, die über ihre Wangen rollten, redeten eine andere Sprache. »Ach nein,« sagte sie endlich, »aber die Frau Rat begleitet doch ihren Sohn, und darüber bin ich traurig. Ich habe sie so liebgewonnen und werde sie sehr vermissen.«
Vor Karolas geistigem Auge tauchte plötzlich Ännes erregtes Gesicht auf, und sie meinte die Worte zu hören, die die Freundin einst zu ihr gesprochen: »Du würdest ihn glücklich machen und auch seine Mutter lieb haben, nicht wahr, Rola, das würdest du?« Heute ließ sich Karola nicht wie damals über Ännes Gefühle hinwegtäuschen, und noch jemand ahnte es – Ilse. Ihre und Karolas Augen trafen sich in jähem Verstehen. –
Nachdenklich schritt Karola an diesem Tage nach Hause. Das von Herta Gehörte wollte ihr nicht aus dem Sinn. Seitdem sie in einer verschwiegenen Dämmerstunde der Mutter gebeichtet, war ihr merklich leichter ums Herz geworden. Kein Wort des Vorwurfs war von den Lippen der Mutter gekommen, daß Karola damals gegen die Eltern geschwiegen. Sie hatte ja selbst am meisten darunter gelitten. Nur ganz milde legte die Mutter die Hände auf den Scheitel ihrer Tochter. »Du hast gefehlt, Rola, aber wir fehlen alle einmal. Gott wird euch beiden darüber hinweghelfen und euch ein anderes, dauerndes Glück geben.«
Die lieben Mutterworte hatten Karola den ersehnten Trost gebracht. Sie peinigte sich nicht mehr mit Selbstvorwürfen. Aber heute war doch noch einmal an der Wunde gerüttelt worden. Es tat ihr weh, daß Dr. Scholz von Gürberg fortging – so fortging, ihretwegen. Aber es war wohl so am besten für sie beide.
Vier Wochen später hatte Dr. Scholz mit seiner Mutter Gürberg verlassen. Das Haus des alten Medizinalrats Neuberger stand erneut zum Verkauf ausgeschrieben. Fräulein Roderich konnte doch nicht umhin, ihrem Neffen gelegentlich von dem Fortgänge des jungen Arztes Mitteilung zu machen, wie sie überhaupt des öfteren von Karola berichtete, welch ein prächtiger Kern doch in ihr stecke, und wie sie sich so tapfer durch all das Schwere durchgerungen. Auch von ihrem harmonischen Zusammenleben erzählte Fräulein Roderich in ihren Briefen. Georg, der seiner Patin häufig schrieb, erwähnte nie etwas von Karola. Aber er brachte es auch nicht fertig, die Tante zu bitten, das junge Mädchen nicht mehr zu erwähnen, trotzdem er es schon einigemal hatte tun wollen. Und merkwürdig – kam einmal ein Brief von der Patin, der nichts über Karola enthielt, so war er auch nicht zufrieden, und an solchen Tagen kam ihm seine Sehnsucht nach dem schönen stolzen Mädchen qualvoller denn je zum Bewußtsein.
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