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Wodurch das Kränzchen in ein vernünftiges Licht gesetzt wird – Karolas Reisegefährte – Warum sie Trinchen schwatzen läßt.
Einige Tage nach der Rodenheimschen Gesellschaft trafen sich die Freundinnen zu einem gemeinsamen Spaziergange. Auch Ilse hatte man dazu gebeten, und gern hatte sie, schon weil sich ihre Mutter darüber freute, zugesagt. Man traf sich vor dem Ebersteinschen Hause. Am Stadttore gesellten sich dann auch noch die beiden Baronessen zu der jungen Schar. Sie wurden mit Ilse bekannt gemacht, und Herta bemerkte mißmutig, daß auch hier wieder Ilse Sternberg kam, sah und siegte.
Naturgemäß drehte sich das Gespräch vorerst nur um die verflossene Gesellschaft bei Rodenheims. Man schwelgte noch in der Erinnerung an den schönen Abend. Herta war auch mit ihrer Laune längst wieder auf der Höhe. Der Doktor war schon verschiedenemale bei ihrem Vater gewesen, hatte auch eine Einladung zum Mittagessen im Doktorhause angenommen und sehr freundlich mit Herta geplaudert. Sogar einige Lieder, die das junge Mädchen mit ihrer etwas harten Stimme mehr laut als schön vortrug, hatte er mit rührender Geduld über sich ergehen lassen. Und was die Hauptsache war, er hatte nicht einmal nach Rola gefragt, obwohl Herta das mit beinahe ängstlicher Spannung erwartete. Wie sehr würde sich Herta indessen geärgert haben, wenn sie erfahren hätte, daß Herr Scholz bereits am Vormittag nach der Gesellschaft bei Burgstettens Besuch gemacht hatte. Karola schwieg darüber, um den Unmut der Freundin nicht von neuem zu erregen. Sie war froh, daß Herta tat, als sei nichts vorgefallen.
Ehe man sich's versah, war man im Laufe der Unterhaltung am Ziel angelangt. Dort leuchtete es mit hellen Goldbuchstaben über der Tür des freundlichen Hauses: »Gasthaus zum Brunnental«. In dem schattigen Garten suchte sich die junge Schar ein Plätzchen aus, von dem man direkt in das Brunnental hinabblicken konnte. Ilse vermochte einen Ausdruck des Entzückens nicht zu unterdrücken.
»Nicht wahr, hier ist es schön?« fragte Wilma. »Sie waren gewiß noch nicht hier?«
»Nein, allerdings nicht. Gehört habe ich ja schon von dem schönen Brunnental. Aber meine Erwartungen sehe ich doch weit übertroffen.«
»Ja, blicken Sie nur einmal hinunter! Dort hinten treiben die mächtigen Wasserräder unser herrliches Quellwasser zur Stadt hinaus,« sagte Änne.
»Früher soll es hier noch schöner gewesen sein,« warf Grete dazwischen. »Mutter erzählt oft davon. Da gab's noch kein Gasthaus zum Brunnental. Alles war unverfälschte Natur, und wer von den guten Gürbergern hierher wandern und nicht hungern wollte, mußte sich schon ein Butterbrot mitnehmen.«
Jetzt erschien die rundliche Wirtin mit der dampfenden Kaffeekanne und einem Teller voll Napfkuchen.
Essen und Trinken aber wirkte durchaus nicht nachteilig auf den Redestrom. Im Gegenteil – man taute immer mehr auf. Aus diesem Impulse heraus nickten sich die Freundinnen plötzlich verständnisinnig zu, die Schwestern Rodenheim flüsterten der neben ihnen sitzenden Rola etwas ins Ohr, Änne und Herta beugten sich gleichfalls herüber, und schon war die Verständigung herbeigeführt.
»Du mußt es sagen, Karola!« Diese erhob sich denn auch, um an Ilse eine scherzhafte kleine Ansprache aus dem Stegreif zu richten, des Inhalts, daß man um die Ehre bat, Fräulein Ilse Sternberg in den Kreis der Freundinnen als ständiges Mitglied aufnehmen zu dürfen.
Ilse lächelte erfreut. »Von Herzen gern trete ich Ihrem Bunde bei, wenn es Ihnen nichts ausmacht, daß ich einige Jahre älter bin als Sie?«
»Das macht doch absolut nichts!« riefen die Zwillinge wie aus einem Munde.
»Im Gegenteil – es setzt unser Kränzchen in ein vernünftiges Licht,« lachte Änne.
»Also gut, so bilde ich hiermit das sechste Blatt in Ihrem Kranz!« Ilse streckte den Freundinnen beide Hände entgegen. »Dann müssen wir uns aber auch duzen, damit nicht immer ein kleiner Rest Steifheit vorhanden ist!«
»O Herzensilse, etwas Schöneres könnte es für mich garnicht geben!« Strahlend fiel Änne der neugewonnenen Freundin um den Hals, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Gut, daß keine weiteren Gäste im Wirtsgarten saßen, nur die Eheleute Schwelmer waren vom Fenster aus Zeugen des allgemeinen Zärtlichkeitsausbruchs. Sie schmunzelten vergnügt über die warmherzige Jugend.
»Nun müßt ihr aber auch mal zu mir kommen,« sagte Ilse, nachdem wieder Ruhe eingetreten.
»Erst bin ich wieder dran,« entgegnete Änne, »es geht unwiderruflich der Reihe nach. Mit Rola schließt es ab, und dann kämst du.
»Aber ich darf euch doch extra mal einladen, damit ich euch meiner Mutter vorstellen kann? Ich habe ihr schon viel von euch erzählt. Sie freut sich, daß ich so netten Verkehr gefunden habe.«
»Sie – ihr sollt euch aber doch deswegen keine Umstände machen,« fiel Karola ein. Sie dachte daran, daß Sternbergs nach Ilses eigener Aussage in beschränkten Verhältnissen lebten.
»Natürlich machen wir uns keine besonderen Umstände!« Ilse, die Rola verstand, lächelte freundlich. »Ihr müßt eben mit dem vorlieb nehmen, was wir euch bieten können.«
Nachdem man noch ein Stündchen im Wirtsgarten zugebracht, machte man sich auf den Heimweg.
»Wann werden wir denn nun wieder zusammenkommen?« fragte Herta.
»In dieser Woche müßt ihr es schon mal ohne meine Anwesenheit versuchen,« erklärte Rola. »Ich fahre morgen nach Heimberg zu meiner Patentante. Sicher bleibe ich über den Sonntag fort. Mutter hat nämlich allerhand Besorgungen für sie in Gießen gemacht, und die Sachen soll ich ihr überbringen.«
»Da mußt du doch mit der Postkutsche fahren?« fragte Wilma. »Eisenbahnverbindung besteht doch mit diesem kleinen Marktflecken noch nicht?«
»Nein, solchen Aufschwung hat Heimberg noch nicht genommen. Die Fahrt, die über drei Stunden dauert, ist ziemlich ermüdend.«
»Und dann fährst du mit allerhand Leuten zusammen!« Grete lächelte schelmisch. »In Postkutschen gibt es häufig gemischtes Publikum. Das ist doch nichts für unsere stolze Karola?«
»Pfui über euch Spötterinnen!« schalt die Geneckte. »Ihr übertreibt aber wahrhaftig! Ich fahre sogar, wenn die Fahrt nicht allzulange ist, sehr gern in der Postkutsche. Sie ist so altmodisch und anheimelnd zugleich, und wenn der Postillion ein hübsches Lied schmettert, ist für mich der Höhepunkt der Poesie erreicht.«
Am übernächsten Morgen fuhr Karola nach Heimberg. Sie hatte einige Damen als Reisegefährtinnen, die jedoch nur bis zu einem kleinen Waldörtchen – einer gern besuchten Sommerfrische – mitfuhren. Dort wurden auch die Pferde ausgewechselt. Während Rola auf der Bank vor dem niedrigen Postgebäude saß, seufzte sie unwillkürlich. Noch eine Stunde hatte sie zu fahren. Schade, daß die netten Damen ausgestiegen waren. Ob sie wohl jetzt wieder Reisegesellschaft bekam? Dort drüben ging ein junger Herr im grauen Reisemantel auf und ab. Ob er mitfahren würde? Hoffentlich nicht! Einem Herrn – zumal einem jungen – saß man entweder stumm, steif und tödlich gelangweilt gegenüber, oder, was noch unangenehmer war, man wurde zudringlich fixiert. Mit einer Dame konnte man doch wenigstens ungeniert plaudern.
Aber was Rola nicht wünschte, trat doch ein. Der Postwagen fuhr wieder vor, und der Fremde schwang sich geschickt auf das Trittbrett. Rola erhob sich nun gleichfalls, um einzusteigen. Sie hatte verschiedenes Handgepäck, und als sie sich bemühte, das ziemlich hohe Trittbrett zu erklimmen, sprang der Fremde höflich hinzu und nahm ihr die Schachteln ab. Damit war eigentlich schon der erste Bann gebrochen. Rola bedankte sich, und der junge Mann meinte lächelnd, die Trittbretter an den Postkutschen seien reichlich unbequem.
Mit lustigem Peitschenknallen fuhr der Postillion ab. Karola und ihr Reisegefährte saßen sich schräg gegenüber. Vorläufig schwiegen sie beide. Schwager Postillion ließ jetzt von seinem hohen, luftigen Sitz herunter ein Lied erschallen. Er blies gut, und wunderschön klang's durch den Waldesdom: »Wer hat dich du schöner Wald+…«. Schweigend lauschten die beiden jungen Menschenkinder in der Postkutsche den feierlichen Klängen. Die Fenster waren geöffnet, und die erfrischende Waldesluft strömte ungehindert ein. Rola wurde das Herz so weit und froh. Wie schön war doch die Natur, wie schön die ganze Welt!
Karola konnte den Blick nicht von draußen wenden. Ganz leise zitterten Millionen von Blättern und Blättchen im Windeshauch. Flimmerndem Golde gleich huschten die Sonnenstrahlen durch die Zweige, und liebkosend streifte der weiche Goldschimmer Rolas Antlitz. – Der junge Fremde hatte heute keinen Sinn für all das Schöne draußen. Seine Blicke hafteten bewundernd an dem hübschen jungen Menschenkinde ihm gegenüber, das so andächtig auf die Sommerpracht schaute.
Als habe sie seine Blicke gefühlt, wandte Rola jetzt den Kopf. Die beiden Augenpaare trafen sich für Sekunden. Das junge Mädchen senkte den Kopf. Zu ihrem innerlichen Ärger fühlte sie, daß sie obendrein errötet war. Dem Fremden war es sichtlich peinlich, daß Rola sein Anschauen bemerkt hatte. Während sie etwas verlegen an ihrem Armbande herumnestelte, suchte er nach ein paar unbefangenen Worten, um die peinliche Stille auszufüllen.
»Die Natur stimmt auch Sie andächtig, nicht wahr, gnädiges Fräulein?« Es war eine ziemlich alltägliche Phrase, das fühlte er, sobald er es gesagt. Aber immerhin war es eine harmlose Unterbrechung der fatalen Stille.
Karola nickte und hob den Kopf. In seiner Rede lag so gar nichts Aufdringliches, und sie war ihm dankbar für fein Bemühen, den Dingen eine gleichgültige Wendung zu geben.
»Ja, ich liebe die Natur, und gerade diese Fahrt durch den Wald ist wunderschön. Vom Eisenbahnwagen aus kann man das alles doch lange nicht so genießen.«
»Da haben Sie recht. Ich bin in letzter Zeit viel geschäftlich auf Reisen gewesen und weiß die Annehmlichkeiten der Eisenbahn wohl zu würdigen. Aber doch freue ich mich jedesmal, wenn ich gezwungen bin, die Post zu benutzen. Ein eigentümlicher Reiz liegt darin.«
Ein Wort gab das andere, und ehe sie sich versahen, waren sie beide im angeregtesten Gespräch.
Rola, die so mancher Fernstehende für stolz und unnahbar hielt, vergaß, daß es ein gänzlich Fremder war, dem sie gegenüber saß. An eine gegenseitige Vorstellung dachte keines von beiden; man genoß froh und unbefangen den Zauber des Augenblicks. Was taten auch die Namen schließlich zur Sache? Sie waren jetzt Reisegefährten, die sich freuten, Unterhaltung zu haben – und dann mit dem Ende dieser Postfahrt war alles vorbei.
Sie hatten beide den gleichen Gedanken. »Ja, so geht es mit einer Reise!« versuchte der junge Mann zu scherzen; aber es lag ein Ton leiser Schwermut in seinen Worten. »Kaum hat man sich kennen gelernt, heißt es schon wieder scheiden.«
Rola nickte, es tat ihr selbst leid, daß ihre Reise sich dem Ende näherte. Sie hatten sich beide so gut unterhalten, und der schlanke, dunkelblonde Mann gefiel ihr mit seinem frischen, natürlichen Wesen. Übrigens lag etwas in seinem Gesicht, das ihr bekannt schien. Wo hatte sie ähnliche Züge nur schon einmal gesehen?
Jetzt tauchten schon die ersten Häuser von Heimberg auf. Das Postgebäude war erreicht. Dort wartete schon Trinchen, das nette Mädchen der Tante. Sie nahm die Schachteln, die ihr der junge Herr hinunter reichte, in Empfang. Einem plötzlichen Impulse folgend, gab Rola ihrem Reisegefährten, der noch einige Stationen weiterfuhr, die Hand. Herzlich erwiderte dieser den fast unmerklichen Druck ihrer schmalen Finger, dann schwenkte er den Hut und schaute der Davongehenden nach, bis das letzte Zipfelchen ihres hellen Kleides um die Ecke entschwunden war.
Wenn Karola später an ihre Reisebekanntschaft zurückdachte, erschien ihr die ganze Sache ein wenig verwunderlich. Es war doch merkwürdig, nicht viel mehr als eine Stunde hatten sie, die sich vorher gänzlich fremd gewesen, einander gegenübergesessen, und wie zwei gute Freunde waren sie von einander geschieden. Aber keines hatte auf Wiedersehen sagen können. Sie beschloß, wenn die Freundinnen nach ihren Reiseerlebnissen fragen würden, nichts von dem jungen Manne zu erzählen. Sie würden sie sonst unfehlbar heftig necken, und das – nun ja, das hätte ihr weh getan.
Trinchen plauderte unterdessen tapfer drauf los. Karola ließ das redselige Trinchen ruhig sprechen. Vor einigen Jahren hatte sie sich bei der Tante einmal beschwert, daß Trinchen mit ihren Erzählungen und Berichten sich förmlich aufdränge. Da war auf dem lieben alten Antlitz ein so mild verzeihendes Lächeln erschienen, daß Rola sich ihres vorschnellen Urteils geschämt hatte. »Siehst du,« sagte Frau Lich zu ihr, »das Trinchen ist nun schon seit zehn Jahren bei mir, und eine treuere, aufopferndere Seele kann ich mir gar nicht denken. Ich glaube, ihr einziger Fehler ist ihre Redseligkeit. Ich unterhalte hier sehr wenig Verkehr, sie kommt mit anderen Mädchen sehr wenig zusammen, da sie mich nicht gern allein läßt. Ist es darum nicht verzeihlich, daß sie, wo sich nach ihrer Ansicht einmal Gelegenheit bietet, allzusehr ins Schwatzen kommt?«
Seitdem begegnete Rola dem Trinchen nicht mehr mit der abweisenden Kälte, die ihr eigen war, sobald ihr jemand nicht zusagte. Sie ließ Trinchen nach Belieben schwatzen und brachte es sogar über sich, ein freundliches Interesse für die Mitteilungen des Mädchens zu zeigen.
Nun näherten sie sich schon dem schönen alten Hause mit den kostbaren Schnitzereien. Rolas Herz klopfte jedesmal freudig, wenn sie das schöne, ehrwürdige Haus erblickte, in dem sie schon so viele frohe Stunden verlebt hatte und in dem die geliebte Patentante wohnte.
Und wie immer, so stand auch heute Frau Lich aus dem Treppenabsatze, um ihr Patchen willkommen zu heißen. Sie hatte sich nicht viel verändert, nur ein klein wenig zitteriger war die Siebzigerin geworden.
Nun war Karola wieder in dem netten Logierstübchen. Andächtig stand sie am Fenster. Soweit das Auge reichte, sah man zartgrünes Wiesengelände und sanft aussteigende Berge. In nächster Nähe erhob sich das historische Rathaus, und weiter in der Ferne erblickte man die malerischen Ruinen eines alten Klosters.
Eine Viertelstunde später saß Karola am Frühstückstisch. Aus dem weißen Damasttischtuche prangte das alte Teeservis aus Meißener Porzellan, mit dem weißen Untergründe und dem Moosröschenkranz unter dem in zartes Blau auslausenden Außenrande. Dazu winkten die verschiedensten Genüsse, die ein junges Menschenherz sich wünschen kann: Honig, Butter, Eier, Schinken, daneben frisches Weißbrot und die herrlichen selbstgebackenen Zimmetwaffeln, die Rola so gern aß. – – – –
Allzuschnell verflog für Rola die Zeit. Schon acht Tage waren seit ihrer Ankunft verflossen, und die Eltern entbehrten ihr einziges Töchterchen nicht gern so lang.
Herzlich nahmen die beiden voneinander Abschied, und eine Viertelstunde später führte der gelbe Postwagen das junge Mädchen wieder der Heimat zu.
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