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Auf dem Fingerhutshof krachten die Böden unter der Last des aufgespeicherten Kornes; allein der Donnerjü hatte kein Auge dafür. Mürrischer denn je lebte er in den Tag hinein, skandalierte in den Ställen herum, traute seinem Weib nicht mehr und war nur aufgekratzt, wenn er die Roggenstrohhaarige auf seinem bei Wisselward gelegenen Vorwerk besuchte. Er trieb's offenkundig und scherte sich den Teufel um das Gerede der Leute. Allmonatlich spazierten zehn Taler in die benachbarte Kreisstadt, wo er den bereits vor der Ernte geborenen Bankert untergebracht hatte, und wenn Stina in einem Extraschäschen den kleinen Schreihals besuchte, ließ sie bei der Weh- und Pflegemutter durchblicken, daß der Junge mal berufen sei, Trense und Kandare auf dem Fingerhutshofe zu führen; das habe ihr der Donnerjü in die Hand versprochen und heilig versichert. Unumschränkt herrschte sie selber auf dem Vorwerk da draußen, duldete keinen Widerspruch, drangsalierte Mägde und Pflugknechte, und wenn sich diese bei ihrem Herrn über das hochmütige Verhalten der Blonden beschwerten, hatten sie noch dessen Grobheiten herunterzufressen. Sie taten's mit verbissenem Ingrimm, ertrugen's aber unter dem Einfluß des für gewöhnlich auf dem Lande herrschenden Stumpfsinns, allerdings nicht ohne dabei die Fäuste in den Taschen zu ballen und auf das Luderleben der ›Schweinemamsell‹ weidlich zu schimpfen. Nur Ignaz Kerkhoff wagte sie nicht an den Wagen zu fahren. Zeigte sich der vierschrötige Kerl mit dem infamen und eckigen Lächeln auf dem Vorwerk, ging sie ihm aus dem Weg oder versuchte, ihrem Blick eine andere Richtung zu geben. Sie haßte den Menschen aus Grund ihrer Seele, sie fürchtete ihn, weil er immer derb und anzüglich wurde und sichtlich bemüht war, seine Hand schirmend über Aleit zu halten. Dafür aber war ihr Barthes mit Haut und Haaren verfallen. Sie wußte ihn zu nehmen, kannte den Reiz ihres Körpers und den Zauber ihrer milchweißen Zähne, und in dieser Gewißheit streckte und reckte sie sich allmorgens selbstgefällig im Bett, überließ anderen die Arbeit und verknüpfte bereits die rosigsten Dinge mit den späteren Tagen. Halb war's Liebe, was sie in betreff ihres Herrn fühlte, halb die unlautere Begier, offenkundig zu zeigen, daß sie mehr Gewalt über ihn ausübe, wie die legitime Frau es vermochte. Ihre behagliche Kammer ging ins Vorland hinaus, und zeigte sich in später Nachtstunde ein brennendes Kerzenlicht hinter den Scheiben, dann wußte Ignaz auf dem Fingerhutshof, was die Stunde geschlagen hatte.
»Die Schweinemamsell hofiert schon wieder herüber,« pflegte er dann grimmig zu sagen, begleitete seine Verbissenheit mit einem höhnischen Lachen und ging auf den Strohsack.
So war es Ende Oktober geworden. – Die Pappeln warfen ihre Blätter ab, Kalmus und Schilfrohr zogen die Schwerter ein, die Kappweiden streckten ihre kahlen Pfriemen gen Himmel, so daß es aussah, als wüchsen ungezählte Besen aus der niederrheinischen Erde. In den frühen Morgenstunden lag es wie bauschige Watte über den Kolken. In weißlichen Streifen dampfte es die Wassergraben entlang; die Krähen wurden unruhig, taten sich zu großen Schwärmen zusammen und ruderten tagtäglich um die Zeit der Dämmerstunde dem fahlen Licht des sterbenden Abends entgegen. –
Heute zerteilte sich der Nebel frühzeitiger wie an den sonstigen Tagen. Die Luft war heiter und klar. Aus den nahegelegenen Bauernhöfen und Katen tönte die taktmäßige Arbeit der Drescher. Es mochte gegen zehn Uhr sein, als Barthes van Laak in Höhe des Leelochs einzelne Fuhrwerke bemerkte, die, aus verschiedenen Richtungen herkommend, alle Kurs auf den Deich nahmen, um scheinbar von hier aus nach dem benachbarten Wissel zu karren. Er kannte vereinzelte Schäschen. Sie gehörten nach Wissesward, Caldenhoven und Hönnepel.
»Was denn los?« fragte er Ignaz, der mit zwei Gäulen von der Priestergemarkung kam, wo er die Weizenstoppel geworfen.
»Je, Baas,« sagte der Pferdeknecht, »die fahren zur Schöffensitzung nach Wissel.«
»Unsinn!« fuhr der Donnerjü auf, »die letzte ist doch erst im vergangenen Frühjahr gewesen.«
»Wenn auch,« replizierte der Knecht, »sie wollen in die Hände spucken und mit der Peitsche dahinter.«
»Well, Baas. Der Wasserbauinspektor von die Regierung war hier und hat mit Gert Liffers gesprochen.«
»Gottverdammich!« knurrte Barthes und stieß den rechten Transtiefel ins Erdreich, »mit wem der Mensch nicht alles zu tun hat!«
«Je, ja,« sagte Ignaz. »Noch vor acht Tagen haben die beiden an der Bunten Schleuse gestanden, und er, was ja wohl der Deichgräf ist, zeigte nach dem Leeloch hinüber.«
»Mit dem Peitschenstiel sollte man dem Kerl auf die gierigen Finger kloppen,«
»Höhö!« lachte Ignaz, »immer feste auf die Klamotten, aber mit Vorsicht, denn er, was der Deichgräf ist, haut wieder und schreibt 'ne deutliche Handschrift.«
»Maul halten!«
»Well, Baas.«
Der Donnerjü strich sich verärgert die Schnurrbartspitzen nach aufwärts.
Hinter dem letzten Gefährt, das von der kleinen Stadt herkam, zeigten sich flirrende Räder, die im Sonnenlicht blitzten.
»Pittje Nagel!« meldete Ignaz. Über sein rissiges Gesicht flog ein lustiges Grinsen.
»Was will der denn?!« erstaunte sich Barthes.
»Auch nach der Deichschöffensitzung.«
»Der?« fragte Barthes, »ist ja gar nicht berechtigt.«
»Gewählt und geworden,« bestätigte Ignaz. »Hat von seiner Frau selig fünfundvierzig preußische Morgen an der Gänseward liegen, hat also Interessen, und da der Hechelkreuzer mit Tod abgegangen, ist er der Kerl mit Ärmels geworden und darf mit 'rein räsonnieren.«
»Prosit, Ihr Bauern! – und solchem Zichorieninspektor wird Stimme und Urteil gegeben über Realverpflichtungen und Kaveln?«
»Höhö!« lachte Ignaz.
»Kutt ki kutt!« trumpfte der Donnerjü auf. »Mit 'ner Bouteille zwischen die Blase geschmissen!«
»Man zu,« sagte Ignaz, »immer feste auf die Klamotten.«
»Gegen elf Uhr will ich mein Schäschen parat haben.«
»Well, Baas,« nickte der Pferdeknecht, räkelte sich schwerfällig über einen der Braunen und schaukelte heimwärts. Der Donnerjü folgte. Bis zum heutigen Tage hatte er die Betätigung des notariellen Aktes verschoben. Die Sache war ihm doch so halber gegen den Strich gegangen. Jetzt aber, wo die verflixte Deichangelegenheit wieder ins Rollen gelangte – weiß der Henker warum! – nahm das alte Gespenst wieder Fassung und Form an und beredete ihn, die notarielle Beurkundung seines letzten Willens unter schärfere Beleuchtung zu nehmen. Dieses erwägend, brachte er den Vormittag so lange auf den Kornspeichern zu, bis ihm Ignaz zur präzisen Zeit das Halbverdeck vorführte. Mit einem niederträchtigen Fluch ergriff er die Zügel und kariolte gen Wissel. –
In der großen Schankstube der Wirtschaft ›Zum blauen Schiffchen‹ tagte die Deichschöffensitzung. Die Tür, die ins Honoratiorenzimmer führte, stand geöffnet; hier saßen etliche Zuschauer, die hinter ihrem Glas Bier der Verhandlung bislang mit sichtlichem Interesse gefolgt waren. Auf dem Schöffentisch selber lagen die Deichrollen, also die Verzeichnisse, welche die Besitzer und die Größe der deichpflichtigen Grundstücke, unter Einschluß der hierzu gehörigen Pfänder, enthielten. Scharfmarkierte Bauernköpfe aus der Niederung zwischen Kleve und Xanten, die kurze Kalkpfeife in die harten Mundwinkel geschoben, arbeitsame Menschen mit engwüchsigen Gedanken, die auf Gott den Herrn vertrauten und dem Papst mehr gaben, wie eigentlich dem Papst zukam, der staatlichen Gewalt hingegen soviel abzwackten, wie sie nur eben vermochten – also saßen sie und hatten abermals über den erneut vorgebrachten Antrag des Deichgräfen Meinung und Stimme zu geben, Petrus Nagel paßte in diese Gesellschaft wie der Peijatz unter dickblütige Totengräber. Man sah es diesen Querköpfen an, daß die meisten sich wieder mit der Absicht trugen, die dringliche Sache kurzerhand unter den Tisch fallen zu lassen und somit auf unbestimmte Zeit hinaus zu begraben.
Gert Liffers hatte soeben gesprochen. In klaren Worten, auf die Vorteile und Einzelheiten seines Projektes eingehend, die Stellung der Regierung dem angeregten Vorschlage gegenüber betonend, hatte er es versucht, die kantigen Menschen für die Regulierung am Leeloch gefügig zu machen. Freilich, nicht der Donnerjü allein sollte pflichtig gemacht werden, auch die angrenzenden Grundstückbesitzer hatten nach Größe ihres Areals Buße zu geben, wenn auch die Hauptlasten sich auf Rechnung des Fingerhutshofes bezogen. Mit einem markanten Appell an die bessere Einsicht und unter dem zündenden Hinweis, sich der drohenden Gefahr und ihren bedenklichen Folgen nicht zu verschließen, legte er hierauf das Geschick des Tages in die Hände der Schöffen und ließ zur Abstimmung schreiten. Bekümmerten Herzens sondierte er hierbei die rings um den Tisch Sitzenden, die gestikulierend ihre Meinungen austauschten, die Köpfe zusammensteckten und mit schmalen Lippen ihren ›A. B. Reuter‹ verpafften.
Petrus Nagel kam als Jüngster des Schöffenkollegiums zuerst an die Reihe. Mit 'ner Tanzmeisterstellung schnellte der Aufgerufene in seinem hechtgrauen Flausrock vom Stuhl, strich sich durch die Harlekintolle und ließ das dampfende Pfefferrohr aus der linken Mundecke bammeln.
»Mynheers, Schöffen, Herr Deichgräf!« also begann er, »ich bin für gewöhnliche Zeiten nur ein gelernter Kaufmann und Spezereiwarenhändler mit eingetragener Firma und habe mein Lebtagens reellemang mit Zichorienkaffee, Gewürznelken, englischem Mostert und Süßholz gehandelt. Meine Firma habe ich von meinem Vater nach dessen gottseligen Ableben ohne Hypotheken und Schulden erhalten und hoffe, sie dereinstmals meinem Sohne Nikola rein und proper in die unschuldsvollen Hände geben zu können.«
»Gehört nicht zur Sache,« höhnte der alte Viehweidshöfer. »Hier ist nicht von Zichorienkaffee und Mostert die Rede, sondern vom Deich, und Sie haben nur ›Entweder – oder‹ zu sagen; das Kaufmännische mag ja ein pläsierlich Geschäft sein, ist aber für uns ökonomische Leute bloß schnuppe.«
»Bong!« sagte Nagel, »obgleich ich absolutemang nicht dieselbigte Meinung vertrete. Zum gelernten Kaufmann gehört Sprit und Benehmung, während so'n Niederungsbauer nur in Plüschpantoffeln und Schlafrock zuzusehen braucht, wie ihm sein fetter Ochse das Geld in die Tasche hineinfrißt.«
»Zur Sache, zur Sache!« mahnte der Deichgräf. »Ich bitte um Ihre Stimme, Herr Nagel.«
»Kommt,« sagte der Sprecher und blies eine so kräftige Knasterwolke zur Decke, als müsse er das soeben Behauptete wie Mett- und Leberwürste beräuchern. »Ich wollte auch nur festgestellt haben,« fuhr er fort, »daß ich kein geborener Bauer bin, sondern ein sterblicher Laie, aber doch soviel von der Sache begreife, um in aller Reellität meine Stimme auf den Tisch des Hauses niederlegen zu können, und da muß ich denn allerdings sagen: was der Herr Deichgräf von sich gegeben, das ist besser wie Guanodünger gewesen, und da können sich die Herren Bauern und Grundbesitzer nur ein Beispiel dran nehmen, denn er hat bewiesen, daß er ein christliches Herz hat für seine Mitkomparenten und nicht will, daß bei Großwasserzeiten die Ochsen vom Donnerjü und die übrigen Ochsen versaufen. Und das ist klug von dem Mann, und ich bin absolutemang derselbigten Meinung, und wer was dagegen sagt, der ist ein Esel, und das sage ich – und darum und deshalb . . .«
Mit der vollen Faust schlug er sich auf Weste und Flausrock und machte sich einen Zoll größer wie bei sonstiger Gelegenheit: »Und darum und deshalb sage ich ›Bong und Amen‹ zum Antrag,« machte dem Vorsitzenden noch eine tiefe Verbeugung und meinte: »Sie haben meine Stimme, Herr Deichgräf.«
Mit einem Gefühl innerlicher Befriedigung über seine wohlgesetzte Rede ließ er sich alsdann in den Rohrsessel fallen, gleichzeitig einen Duft nach Muskatnuß, Nelken und geschlagenen Rübsen von sich gebend, gewissermaßen, um sich selber das Weihrauchfaß um die Nase zu schwingen, hörte aber gleichzeitig, wie ein rasches Wägelchen vorfuhr, eine Tür aufgeschlagen wurde, jemand mit schweren Schritten das Honoratiorenzimmer betrat, und eine bekannte Stimme fünf Pullen ›Schwart Water‹ bestellte.
»Sollte da etwa . . .«
Er kam in seiner Betrachtung nicht weiter. Gert Liffers rührte die Schelle und ersuchte um die anderen Boten.
»Herr Otten, ich bitte!«
»Ich stelle mich auf den konträrigen Standpunkt.«
»Herr Lörks!«
»Ich stimme dem Antrag gemäß, weil ich die Sache estimiere und für richtig befinde.«
»Herr Raths vom Entenbusch!«
»Desgleichen.«
»Herr Hoghoff von Hönnepel!«
»Nein.«
»Herr van der Mörmter!«
»Abgelehnt.«
»Herr Wesselink senior von der Gipskat!«
»Dito, dito!« quittierte ein stämmiger Bauer mit grauem Haar und einem Gesicht wie aus einem saftigen Schinken geschnitten, »das braucht sich Barthes van Laak nicht gefallen zu lassen. Ich stimme wie Henn van der Mörmter.«
»Bravo!« kam es lachend und brutal aus dem Nebenzimmer gefahren. Gleichzeitig klinkten verschiedene Gläser zusammen.
»Nanu!« meinte Herr Nagel und quecksilberte erregt um seine eigene Achse. Dabei machte er ein Gesicht, als begebe sich Hannibal Pinsgen mit einem brennenden Licht in den Keller, um dortselbst eine Portion Benzin dem weitbauchigen Glasballon zu entnehmen.
Das Gelächter im Nebenzimmer nahm einen verstärkten und herausfordernden Ton an. Eine leere Flasche wurde mit Ostentation in eine Ecke geschleudert. Der frische Ankömmling in dem Herrenstübchen schien den Krakeeler spielen zu wollen. Der Deichgräf erbleichte, behielt aber seine äußere Fassung. Nichts verriet, was sein Inneres bewegte; nur seine Stimme vibrierte, als er den Viehweidshöfer ersuchte, sich gefälligst zu äußern.
»Hm!« machte dieser und strich sich mit Mittel- und Zeigefinger zwischen Hemdenkragen und Bartkranz, der von Ohr zu Ohr sich unter dem verschrumpfelten Doppelkinn hinzog. »Ich bin von Anno Toobak immer der Ansicht gewesen: wat mott, dat mott – en wat niet mott, dat mott niet. Der Preußische Staat und seine Beamtens wollen immer Neuerungs machen und stellen sich immer konträr der katholischen Kirche. Aber da steht alles, wie's steht, denn die Herren Kapläne predigen noch heutzutage genau dasselbigte, was der Herr Jesus Christus vor tausend Jahren gesagt hat, und dessentwegen . . .«
Petrus Nagel unterbrach ihn mit einer demonstrierenden Geste. »Mynheer Viehweidshöfer,« warf er energisch dazwischen, »der Herr Jesus Christus gehört in die Kirche und nicht mang die Deiche!«
»Doch,« hielt ihm der knorrige Ökonom lebhaft entgegen, »weil er Erde und Himmel geschaffen hat und Dämme und Deiche, und daher, weil die Geschichte am Leeloch seit Anno Toobak bestanden, wird's der Herr Jesus Christus auch so wohl bestehn lassen wollen, denn das ist immer am Leeloch also gewesen, hat sich bewährt – und dessentwegen . . .«
»Menschenskind!« versuchte ihm Gert Liffers in die Parade zu fahren, »alle irdischen Dinge sind der Veränderung unterworfen.«
»Oho!« sagte der Bauer, »bei mir nicht, auf meinem Hof nicht und in meinen Stallungens auch nicht. Das geht, wie es geht, und immer fahr' ich den nämlichen Mist auf den Acker: Langstroh mit Pferde- und Kuhdung, und wer da Kurzstroh hinfahren wollte, dem würde ich schön unter die Augens begegnen.«
»Und trotzdem ist eine Regulierung geboten,« hielt ihm flammenden Gesichtes der Deichgräf entgegen. »Die in den letzten Jahren vorgenommene Durchschleusung des Kalkflacks, die hierdurch bedingte Verschiebung des Stromlaufs drängen gebieterisch darauf, Maßnahmen vorzunehmen, die imstande sind, eine etwaige Hochflut in Zaum und Zügel zu halten. Es ist mir daher rein unverständlich, wie einer den traurigen Mut haben kann, mit solcher Dickfelligkeit gegen sein eigenes Interesse zu wüten.«
»Ansichtssache,« zuckte der Viehweidshöfer höhnisch die Achseln. »Wat mott, dat mott, war wat niet mott . . . Ich bin der letzteren Ansicht.«
Zornig schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch.
»Ich lasse mir als Ökonomiker von preußischen und städtischen Beamtens keine Vorschriften machen. Also – nie und niemals, Herr Deichgräf!«
»Bist mein Mann, Viehweidshöfer! – Prosit, Ihr Bauern!«
»Danke!« nickte der Angeprostete in das Honoratiorenzimmer hinüber.
Bleich wie der Tod war Gert Liffers von seinem Sitz gefahren. Er riß sich zusammen. Durch den Mann ging ein Zittern und Beben.
»Also dahin ist es auch heute wieder gekommen!« rief er mit keuchendem Atem. »Noch zwei solche Stimmen – und die Totenglocke geht abermals über Deich und Projekt hin. Und wird sie geläutet – so wahr ich hier stehe – dann wird auch meine Stellung zu Grabe getragen. Noch ein solches Debakel wie im verflossen Frühjahr hier in diesem Hause, an diesem Tisch, vor diesen Pflichtigen Schöffen – dann bin ich zum letzten Male Euer Deichgräf gewesen. Ich bin auch ein Mann von Ehre im Leibe, laß mich durch Querköpfe nicht kuranzen und schinden und will, daß Unvernunft und böswilligen Treibereien durch bessere Einsicht ein Ziel gesetzt werde.«
Gert Liffers wuchs über seine eigene Größe hinaus. Im gerechten Zorn hatte er eine Deichrolle ergriffen, sie zerknüllt und mit einem verhaltenen Fluch über die Tischkante geschleudert. Verschiedene Herzschläge hindurch war ein bedrohliches Schweigen unter den Pfannen des ›Blauen Schiffchens‹ zu Wisset. Selbst im Nebenzimmer wagte niemand, die beängstigende Stille vor dem nahen Sturme zu stören,
»Bevor also die verhängnisvollen Stimmen fallen – ich rekapituliere noch einmal. Der Staat, die Gemeinde, Ihr selbst habt mich auf diesen Posten gerufen, auf daß ich nach Pflicht und Gewissen, nach bestem Wissen und Wollen meines Amtes walte und mein Können verwerte. So wahr ich hier vor Euren Augen vielleicht zum letzten Male als Deichgräf amtiere, ich habe dem Staat gegeben, was des Staates, und dem pflichtigen Bauern, was das Interesse des Bauern verlangte. Ich für meine Person habe nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Ich habe meinen Ruf zu verlieren und meine Ehre in die Schanze zu schlagen, aber bevor ich mich hierzu verstünde, müßte ein erbärmlicher Adam in mich hineinfahren. Mag ein anderer kommen, der wider besseres Wissen und mit sehenden Augen die Dinge gehn läßt, wie es den Anschein hat, daß sie hintratschen werden. Ich aber bin nicht aus dem Holz gemacht, die Rolle eines solch traurigen Kumpanen zu spielen. Gewiß – beklatschen werdet Ihr ihn, so lange das Wasser nicht wild wird, so lang' es dahinschleicht wie ein Schwächling auf holperigen Krücken; aber wenn es seine Schwäche auskuriert hat, wenn es sich fühlt und die Krücken über den Deich wirft, dann dreht sich das Blättchen. Fluchen werdet Ihr ihm, anspeien werdet Ihr ihn, weil er nicht in guten Zeiten das Rückgrat besessen und die Stirne gehabt hat, Euch zusammenzurütteln und die Grillen Eurer schwerfälligen Bauernschädel zu Paaren zu treiben.«
Gert Liffers suchte nach Atem. Eine Pause entstand. Der tiefe Eindruck seiner geharnischten Worte ließ sich jetzt schon erkennen. Selbst der Viehweidshöfer duckte den Kopf und klopfte verlegen die glimmenden Aschenpartikelchen aus seiner irdenen Pfeife.
»Am Leeloch, also im Gelände des Fingerhutshofes, lauert die Gefahr,« begann Gert Liffers von neuem, »und wartet unter den jetzigen Umständen nur auf die praktikable Stunde, ihre Tatzen gierig in Euere Äcker und Wiesen zu schlagen. Nicht dem van Laakschen Terrain allein wird der kritische Moment verhängnisvoll werden, sondern Euch allen, vom Bolk bis zur Bunten Schleuse herunter. Genau wie ich, hat auch der Königliche Bauinspektor das Fatale der gegenwärtigen Lage beurteilt. Gewiß – das Leben geht nicht immer ohne Kompromisse, aber hier sind keine Kompromisse geboten. Hier heißt es, den Geldbeutel offen, Karst und Spaten genommen und graben und abermals graben und zum letztenmal graben!«
»Ganz dieselbigte Meinung. Das geht an die Nieren!« ließ sich Petrus Nagel vernehmen.
Der Deichgräf sprach weiter: »Aber Ihr wartet und wartet und pocht darauf, daß das Wasser in den letzten Jahren geschlafen und fast in unerklärlicher Weise gedöst hat. Wolle Gott, daß es noch ein weiteres Jährchen so hindöst, bis ihm der neue Deich vor die Nase gesetzt wird. Aber ich fürchte . . .
»Wofür sind denn die Fluchthügel vorhanden?!« warf der Viehweidshöfer dazwischen.
»Nur um Eure Knochen zu retten. Seid Ihr damit zufrieden – allerdings, dann laßt das Deichprojekt schießen. Wartet, wartet, wartet, Ihr Bauern! Zu spät ist zu spät – und wenn die grimmige Stauflut daherkommt, sich aufreckt, sich aufbäumt und mit polternden Dreschflegelhölzern dazwischen hantiert und die Scholle versandet, als wäre der Tod über die Erde gegangen, dann,« und der Sprecher streckte die nervige Faust über den Tisch aus, »dann, wenn ich hier nicht mehr in meiner Stellung amtiere: so manchen von Euch, der annoch wie ein sässiger Freiherr sich aufspielt – ich werde ihn sehn, wie er sich bankrott die Faust gegen die Stirn stößt und die Stunde verdammt, wo er steif und stur wie der Fingerhutshöfer seine bessere Einsicht rechts und links um die Ohren geknallt hat. So, ich habe gesprochen, und es ist mein letztes Wort an dieser Stelle und in dieser Sache gewesen. Tut, was Ihr wollt – ich ersuche um die noch ausstehenden Stimmen. Herr Hövels, ich bitte!«
»Donnerwetter!« kratzte sich der Viehweidshöfer hinter den Ohren, als der Deichgraf geendet, »wenn ich das vorhin . . .«
»Herr Hövels . . .!« mahnte Gert Liffers.
»Also denn – ganz Ihrer Meinung, Herr Deichgräf.«
Um seiner Stimme den gehörigen Nachdruck zu geben, machte er mit Daumen und Mittelfinger einen kräftigen Schnalzer.
»Herr Hartjes!«
»Wie vorhin.«
Die Entscheidung mußte jetzt fallen.
»Der letzte Mann. Ihre Stimme, Herr Hasselt!«
»Donnerknippchen!« schlug sich ein schwarzgekleidetes Männchen, mit steifen Bartstoppeln am Kinn, auf das bläulich gestärkte Schemischen, »nach solch einer Epistel . . . Man kann Sie nur estimieren, Herr Deichgräf. Ich stimme wie Havels und Hartjes. Streu Sand drauf – und fertig.«
»Hurra – sechs gegen fünf!« jubelte der Vater von Nikola, sprang mit einer erstaunlichen Beinfixigkeit auf den Stuhl, rief abermals »Hurra!« und »Lang' soll er leben!« und schwenkte dabei sein Pfefferrohr mit den beiden Bammelquasten über den Tisch fort, als habe er einen Tambourmajorstock in Händen und müsse nun den Takt für die leider nicht anwesenden Musikanten abgeben, »Holla, Markör, auf meine Rechnung und für eigene Firma: zwei Bouteillen vom Besten, aber dieselbigte Nummer wie sie Barthes gewohnt ist. Bong! – ich laß mich nicht lumpen. Auf das Wohl von Gert Liffers! – Der Deichgräf soll leben . . .«
»Viechskerl, verdammter!«
Mit weinrotem Gesicht und verquollenen Augen war der Donnerjü auf die Schwelle getaumelt.
Sich mit der Linken an den Türpfosten haltend, die Rechte vorgestreckt, schrie er den Schöffen entgegen: »Was – in dieselbe Tutetrompete wie der Zichorienherzog zu stoßen . . .?! Niederrheinische Bauern wollt Ihr sein – nichts da! – Erbärmliche Hammel seid Ihr, ohne Grütze im Kopfe und ohne Haar auf den Zähnen! Aber das Schlimmste: statt einem so schiefgewickelten Kerl von Beamten das Fell zu verhauen, reicht Ihr ihm noch höflichst den Prügel, damit er es proper bequem hat, Euch zu verdreschen. Aber Ihr Duckmäuser verdient es nicht besser – nein, verdient es nicht besser!«
»Ruhe!«
Gert Liffers war in Harnisch gekommen.
»Ich fordere Sie auf, das Lokal zu verlassen.«
Ein schallendes Gelächter schlug ihm entgegen.
»Was?! – Sie?! – Sie maßen sich an, mir hier das Lokal zu verbieten – mir, dem Fingerhutshöfer, das Lokal zu verbieten?! – Mit welchem Recht und weshalb denn?!«
»Weil Sie nicht als pflichtiger Schöffe gewählt sind.«
Eine rasende Blutwelle stieg dem Donnerjü aufwärts. Er kannte sich nicht mehr, griff in die Luft, als müsse er dort einen Gegenstand fassen, um ihn seinem Widerpart an den Schädel zu werfen.
»Mensch, infamer, daß Du mir im Leben immer in die Quere hineinmußt! – Schon damals vor Jahren – dann später bei Schweinem – dann auf dem Leedeich mit Aleit . . .! – Aber wag's, mir den ersten Spatenstich in meinen Grund und Boden zu stoßen – wag's, mir das blöde Stimmvieh noch weiter auf meine Interessen zu hetzen . . .! Deichgräf – Deichgräf – Deichgräf . . .! – heute bist Du mir zum letzten Male in die Quere geraten!«
Mit einem hastigen Ruck riß er eine leere Bouteille vom Tisch. »Gottverdammich! – zum letzten Male, Herr Deichgräf . . .!« und von wuchtiger Faust geworfen, fuhr sie, dicht am Kopf des aufrecht stehenden Mannes vorbei, an die rückwärts gelegene Wand an. Mit einem gellenden Wehschrei zersprang sie.
»Pfui, Barthes!« drangen die Bauern und Gutsbesitzer auf ihn ein. Ein wilder Tumult entstand. Stühle stürzten zu Boden. Grimmige Flüche hasteten laut durcheinander. »Pfui, Düwel . . .!«
Ehern, ruhig, ohne mit den Wimpern zu zucken stand Gert Liffers inmitten des beschworenen Aufruhrs.
»Deichgräf – Deichgräf – Deichgräf . . .! – wir müssen Abrechnung halten. Entweder Du oder ich. Wie'n Viech muß einer von uns zwei beiden verrecken . . .! Saukerl – infamer . . .!«
Mit gehobenen Fäusten, unartikulierte Laute hervorstoßend, der Herrschaft über seine Sinne verlustig, stürzte der Donnerjü vorwärts.
Alles wich vor dem Rasenden scheu auf die Seite.
Kalt wie Stein erwartete Gert Liffers den Angriff.
»Schlage ihn nieder . . .!«
Blitzartig war dieser Gedanke sein eigen geworden. Schon stieß er nach einer Stuhllehne die Hand aus, aber eine Lähmung erfaßte ihn . . .
»Ist der Mann so gänzlich im Unrecht? Hast Du nicht nach seinem Weibe verbrecherisches Gelüste getragen? Reiße Dir das sündige Herz aus, das bis heute sich nach ihrer Liebe gebangt hat . . .«
Die Fäuste des Donnerjüs waren über ihm.
»Schlage zu!« rief Gert Liffers. »Du hast ein gewisses Recht dazu, Du miserabeler Hundsfott!«
Hochaufgerichtet, ohne auch nur die geringste Miene zur Gegenwehr zu machen, bleich wie der Tod, aber die leuchtenden Augen fest auf den Gegner gerichtet, harrte er des kommenden Faustschlages.
Aber der Donnerjü schlug nicht.
Matt sanken ihm die drohenden Fäuste am Leibe herunter. Und dann: wie ein feiges Tier, das den richtigen Angriff verpaßte, den Nacken gebogen, die blutunterlaufenen Augen zu Boden geheftet, taumelnd und lallend ging er rückwärts – schlich in das Herrenstübchen zurück und von hier aus ins Freie.
»Die Augen . . .!« knirschte er zwischen den Zähnen, ließ das Schäschen vorfahren und lenkte den Gaul Schritt für Schritt durch die Gaffer, die von dem Skandal angelockt, sich vor dem ›Blauen Schiffchen‹ eingestellt hatten.
Am Schöffentisch waren inzwischen die Gemüter ruhig geworden. Über die Züge des Deichgräfen ging ein schmerzliches Lächeln. »Ich danke den Herren,« sagte er mit bewegter Stimme. »Ihr habt zu Euren Gunsten gesprochen, und meine Ehre ist rein aus der Affäre gegangen. Es war eine häßliche Stunde, aber wir sind Sieger geblieben. Und wenn Ihr mich weiter als Deichgräfen wollt – meine Herren, hier bin ich.«
Die angeredeten Bauern sahen verlegen zu Boden. Manche harte und verschwielte Hand wischte sich eine Träne herunter.
»Wat mott, dat mott,« riß sich der knorrige Viehweidshöfer zusammen, schritt auf Gert Liffers zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Herr Deichgräf,« sagte er, kaum seines Wortes mächtig, »was ich da soeben von Anno Toobak und dem Herrn Jesus Christus gesagt hab', das schluck' ich herunter, denn das ist dummes Zeug und 'ne altmodische Jacke gewesen. Und wenn Ihr mir noch die Hand geben könnt – Herr Deichgräf, hier ist sie.«
»Viehweidshöfer . . .!« machte Gert Liffers.
Große Tränen wurden in seinen Augen lebendig.
Hand in Hand standen der Deichgräf und der harte Niederungsbauer zusammen.
»Und was da im Protokoll steht, was da notiert ist, von wegen meiner eigenen Stimme – das gilt nicht, das wird gestrichen, da setz' ich jetzt mein richtiges ›Amen‹ darüber. Jetzt – für den Antrag, Herr Deichgräf.«
»Auch ich!« meldete sich Hoghoff von Hönepel.
»Desgleichen!« sagten Otten und Wesselink senior von der Gipskat.
Henn van der Mörmter trat ebenfalls heran und änderte sein vorhin abgegebenes Votum, so daß mit Stimmeneinheit die projektierte Regulierung am Leeloch durchgebracht wurde.
Das war ein Sieg über alles Erwarten gewesen!
Gert Liffers reckte sich auf. Die Erinnerung an das infame Begegnen schob er beiseite. Etwas wie eine nervige Kraft durchfuhr seinen Körper. Das war nach langer Zeit die erste glückliche Stunde in seinem bekümmerten Dasein gewesen! Er tat einen mächtigen Atemzug, als müsse er einen neuen Lebensquell in sich aufnehmen. Mit glücklichen Augen musterte er die Schöffen, die ihn umstanden und an seinen Lippen hingen. Selbstbewußte Menschen, kantig wie Kirchenpfeiler, störrisch wie die Stiere, die auf ihren saftigen Weiden brüllten und sich nur widerwillig dem aufgezwungenen Joch beugten . . .! Zollweise und Schritt für Schritt hatte er sich die Herzen dieser kernigen und eichenholzharten Männer erobert.
Ha, wie das wohl tat, wie ihn das entschädigte für alles, was er bislang an Qual und Widerwärtigkeiten durchgemacht hatte!
Er trat unter sie, gab ihnen die Hand und sah jedem ins Auge. Er gewahrte nur leuchtende Blicke.
»Männer der Niederung,« sprach er bewegt, »wir haben uns in dieser Stunde gefunden, und daß es so kam, das dank' ich Euch allen. Jetzt, wo Ihr mir Ellenbogenfreiheit gegeben, wo wir uns gegenseitig verstehen und gemeinschaftlich denselben Rammpfahl eintreiben – da fleckt das ganz anders, da ist die Arbeit ein köstliches Gut und eine herrliche Freude. Arbeit, Arbeit . . .! – In Eurem Dienst, im Kampf mit dem Wasser – Ihr sollt Euren Deichgrafen erkennen, und gebe der Himmel, daß es noch nicht zu spät ist.«
»Donnerknippchen!« sagte Franz Hasselt, »auf den können wir stolz sein.«
»Sind wir!« jubelte Petrus Nagel und gab dem Wirt vom ›Blauen Schiffchen‹ ein freudiges Zeichen.
»Gert Liffers soll leben,« rief der Viehweidshöfer. »Hurra – der Deichgräf!«