Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

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X Der selige Tag und was weiter passiert

Sonntag nach Ostern, und schönes Wetter da draußen! – Seit Menschengedenken konnte man sich nicht eines solchen Frühjahrs erinnern. Die Pfirsichbäume sahen aus, als seien sie direkt aus den rosigen Abendwolken gefallen, und die Kirschen standen so weiß und wattebauschig im Putz, daß man die Augen zuhalten mußte, um von all der Pracht nicht geblendet zu werden. Früher denn sonst hatten die Nachtigallen ihre alte Heimat bezogen. In wehmütigen Sehnsuchtslauten, tiefer und voller als in anderen Jahren, riefen sie ihr Liebeslied über die niederrheinische Landschaft. Im Garten des Herrn Notars Johann Peter Gerechtsam schlug eine – weiter zur Linken, zwischen den Johannisbeersträuchern und Obstbäumen des Armenhofes, eine zweite, und sie sang geradeswegs in das geöffnete Oberlicht des Fensters hinein, hinter dem Lisbeth Mömmes noch in ihrem großschichtigen Himmelbett ruhte. In ihrer ganzen Komplettigkeit, ehrbar mit zusammengefalteten Händen, wie es sich für Madam Mömmes doch immerhin schickte, lag sie zwischen den blaugestreiften Kattunkissen und ließ sich das feurige Lied der Nachtigall in ihre bunte Traumwelt hineinschluchzen.

Die alte Kuckucksuhr nebenan begann jetzt die hölzernen Flügel zu strecken und ihr tönendes ›Kuckuck‹ zu rufen, und was sich gehörte, trat ein: sämtliche Uhren im Armenhof machten prompte und propere Arbeit. Alle ohne Ausnahme meckerten, krähten, klingelten und schlugen präzise zusammen. Selbst dem tauben Christ van de Lucht seine heisere Schwarzwälder zeigte ein tadelloses Benehmen.

»Sechs Uhr!« gähnte Lisbeth, streckte sich noch so'n bißchen behaglich im Bett und wollte dann aufstehn, als sie sich noch rechtzeitig zwischen Duseln und Dämmern erinnerte, daß sie es heute mit einem schönen, klaren Sonntagmorgen zu tun hatte.

Also heute war Sonntag. Na, denn aber auch! – da konnte sie noch immer so'n halbes Stündchen riskieren, tat's auch, rückte ihr Mützchen zurecht und legte sich gemütlich auf die andere Seite. Noch einmal sich auf ein Schläfchen verlegen – nein, dazu war es denn doch schon zu sehr hellichter Morgen geworden, aber noch so'n bißchen Nucken und Nüren, dazu langte es grad, und so verfiel sie denn wieder in ihre alte und liebe Gewohnheit und nahm kurzerhand ihren ›seligen Sonntag‹ beim Wickel. Ich sage ausdrücklich ihren ›seligen‹ und nicht ihren ›ägyptischen Sonntag‹, weil sie dieses Mal mit der peinlichsten Sorgfalt alle Vorkehrungen im Geiste bewerkstelligte, um ihr Begräbnis in möglichst solenner Weise in die Wege zu leiten.

Gott, ne nich! – sie freute sich wirklich und aus ganzem Herzen auf die schöne Bestattung.

Sie war also gestorben, aber wohlverstanden selig gestorben, hatte aber die ans Wunderbare grenzende Fähigkeit behalten, mit leiblichen Augen den ganzen Vorgang ihrer Beerdigung, und zwar alles nur ›prima‹ von A bis Z zu verfolgen.

Auf ihrer Kirschholzkommode lagen die hierzu gemachten Ersparnisse, nach den jeweiligen Posten geordnet; in Summa fünfundachtzig Taler fünf Groschen.

Der Herr Schreinermeister Pollmann brachte mit seinen Gesellen den Sarg an. Prima Ware; Eichenholz mit versilberten Zinkblechbeschlägen und doppelt gefirnißt. Kostenpunkt: zehn Taler drei Groschen. Stimmte.

Dem Herrn Pastor, den Kaplänen und für Lesung der Totenmesse – fünfunddreißig Taler in Summa.

Dem Küster – fünf Taler zwei Groschen.

Für Totenhemd, Wachskerzen, Diverses: wie Häubchen, Papierrosen etc. – elf Taler netto.

Der Lichtjungfer für prompte Bedienung – fünf Taler und ein Extrapräsent aus dem Nachlaß, nach eigenem Ermessen: entweder ihr schönes Gebetbuch ›Blüten der Andacht‹ oder zwei Dutzend Paar Strümpfe, die in der Kirschholzkommode im obersten Fach lagen. Sie hatte also ›pläng puwoar‹, wie sich die Erblasserin auszudrücken beliebte, und brauchte nur zuzugreifen.

Sechs Träger mit Zylinder und Gehrock, aber Oho! und mit frischgebügelter Wäsche und baumwollenen Handschuhen – jedem 'nen Taler, inklusive Schnaps und Zigarren. Alles in allem sechs blanke Taler zusammen.

Dem Herrn Webermeister Janssen, aber nicht diesem, sondern dem Herrn Kapellmeister Janssen, für sich, seine Musikanten und die Trauermusieke – zehn Taler netto. »Ich bitte hierfür den Marsch ›Nu trinkt sie keinen Rotspon mehr‹ gefälligst spielen zu wollen, aber getragen un zweimal. Zuerst auf dem Markt un denn, wenn die Erde mir leicht wird.«

Den Armen – zwei Taler.

Und jetzt Strich unter das Ganze. In Summa fünfundachtzig Taler fünf Groschen.

Madam Mömmes gab einem tiefen Seufzer die Freiheit.

So, jetzt wäre das Geschäftliche in die Wege geleitet und – Gott sei gedankt! – sie war keinem was schuldig geblieben. Jetzt konnte die eigentliche Feier beginnen – und sie begann in so pomphafter Weise, daß die verstorbene Frau Mömmes über ihr eigenes Begräbnis aus dem Staunen nicht herauskommen konnte.

Der Herr Pastor kam unter Assistenz seiner Kapläne, dann der Leichenbitter mit der funkelnagelneuen Pleureuse, der Küster mit dem frischrasierten Gesicht, dem man schon von weitem ansah, daß er's mit 'ner noblen und splendiden Leiche zu tun hatte. Jetzt erschienen die Träger. Sie rochen zwar so'n bißchen nach Wacholder und Sargdeckel, aber das genierte nicht weiter. Sie hatten sich für ihren Taler nicht lumpen lassen, ihren besten Anzug spendiert und 'nen breiten Trauerflor um ihren Zylinder gewickelt. Und alles was recht ist: würdig und ohne vorher in die Hände zu spucken, griffen sie zu und trugen den Sarg hinaus auf die Straße, wo bereits die Leidtragenden standen und sich nicht genug darüber wundern konnten, daß aus dem Armenhof ein so piekfeines Begräbnis herauskam.

»Nein, diese Lisbeth!«

»Sechspfündige Wachskerzen!«

»Und diese Silberbeschläge!«

»Und vier Heerohmes auf einmal!«

»Und die ganze Musieke von Janssen!«

»Ne – die hat in der Wolle gesessen!«

»Wer das nur gedacht hätte!«

So ging es bunt durcheinander, bis der Herr Kapellmeister Janssen das mit Krepp geschmückte Kornet à piston in die Höhe hob, um hierdurch das Zeichen zum Aufbruch zu geben.

Endlich . . .!

»Oremus

Es war ein großer Moment, als die vorderen antraten und die Responsorien einsetzten. Und sie hörte alles mit leiblichen Ohren, sie sah alles mit leiblichen Augen und wußte die Gnade des Allerhöchsten zu schätzen, der sie würdig befunden, ihr mit einer solchen Feier gewissermaßen unter die Arme zu greifen. Alles prima und von feinster Noblesse.

Gott, ne nich – wie sie sich freute!

Vorneweg gingen die Kleinen, Hühnchen und Hähnchen, das ganze Kroppzeug, das sie noch kurz vor ihrem Tode unter ihrer erzieherischen Fuchtel gehabt hatte: Blondköpfe, Flachsköpfe, Krummbeinchen, Geradbeinchen, welche mit Holzpantoffeln, andere mit Schuhen, Nöllecke Kunders, Marieke Bärendonk, Barthje van Bebber und die anderen alle. Gott, ne nich – wie rührend! – Sie mußte ordentlich ihr Schnupftuch vor den Mund nehmen, um nicht vor eitel Freude zu weinen. Auch der Pinkelnikola, Herrn Petrus Nagel sein Sprößling, war mitten dazwischen. Und die Kinder trugen schwarzseidene Schleifen, und der Pinkelnikola hatte sein Fähnchen auf Halbmast gezogen. Und hinterher kamen die Honoratioren der Stadt, denn sie wollten ihr doch auch die letzte Ehre erweisen.

»Oremus

So, jetzt waren sie bis an die nächste Ecke gekommen; sie hörte noch, wie die dicke Bäckersfrau sagte: »Kiekt mal, Madam Mömmes wird wie 'ne richtige Fürstin begraben,« da – eins, zwei, drei . . .

Sie hätte aufjubeln mögen in ihrem doppelt gefirnißten Sarge . . .

Das Kornet à piston gab den Takt an, und das ›Nu trinkt sie keinen Rotspon mehr‹ zog in herzzerschneidenden Klängen über den Markt hin.

Ja, nun wußte sie doch, wofür sie gelebt hatte, warum sie ihren lieben Herrgott verehrt und warum sie fünfundachtzig Taler und fünf Groschen gespart hatte. Da lag doch noch 'ne Idee in der Sache, da hatte sich doch das erbärmliche Leben gelohnt, wenn man endlich so erster Klasse in die Grube hineinkam.

Und erst auf dem Kirchhof – auch hier alles nur prima: 'nen prima Weihwasserquast, mit dem der Herr Pastor, unter Assistenz seiner Kapläne, ihren Deckel besprengte, 'ne prima Leichenrede und 'nen prima Platz neben dem Herrn Bürgermeister und der ehrsamen Jungfrau Judula Anstoots, die früher Hebamme gewesen und genau auf den Kopf dreihundert und fünfundneunzig Kindern den Eingang ins Leben leichter gemacht hatte. Wenn das nichts besagte . . .

»Oremus

Das besagte doch alles! – Und als der Herr Kapellmeister Janssen zum zweitenmal die wehmütige Rotspontrauermarschweise hatte aufspielen lassen und noch im Zweifel stand, ob er zur größeren Ehrung der verewigten Madam Mömmes vielleicht noch ein extra Kornet à piston-Solo draufsetzen sollte, räusperte sich der Herr Pastor in nicht mißzuverstehender Weise, schob seine Hände in die weiten Ärmelfalten des Röcklings und begann dann mit bewegter Stimme zu sprechen.

»Geliebte im Herrn!« also kam es ihm fließend vom Mund, »ich sage Euch wahrlich: die edle Frau, die hier zwischen den teuren Eichenbrettern die letzte Ruhestätte gefunden, ist einmal lebendig gewesen, und wie sie prima gelebt hat, so hat sie auch, ihrem letzten Wunsche gemäß, ein prima Begräbnis gefunden. Ja, meine Geliebten im Herrn, Madam Mömmes war aus einem anderen Holze geschnipselt wie die übrigen Menschen. Ihr wißt es ja alle! – Begibt sich einer in den heiligen Stand der Ehe, dann ist Geld in Hülle und Fülle vorhanden; dann wird Tafel gemacht, und zum Ehebett geht es nur über eine niedergekämpfte Reihe von Flaschen. Tritt ein Weltneuling, und zwar kraft des Sakraments der heiligen Taufe, in die Gemeinschaft der katholischen Christen, dann natürlich geht das nicht anders – dann wird Taufschmaus gehalten, und die aufgetischten Spanferkel werden hierbei so aufs Geratewohl heruntergesäbelt, als wären sie so wohlfeil zu haben wie die Chausseesteine zwischen Moyland und Kleve. Und ferner, meine Geliebten in Christo! – wird einer gekeilt, dem Kriegerverein ›Es lebe der König‹ in Person beizutreten, dann ist magnum tumultum in Bänken – und das kostet Geld und abermals Geld und zum letztenmal Geld. Aber so einer berufen wird, durch den Gang zum Kirchhof in das ewige Reich zu gelangen – für einen möglichst feierlichen Eintritt in Gottes Behausung, dafür werden keine bedeutsamen Ausgaben gemacht, und ›Nix in der Sparbüchs‹ ist hier die Parole. Bei Madam Mömmes hingegen . . . O, diese Seele, diese gottwohlgefällige Seele! – die gab nichts auf irdische Genüsse – aber für ein solennes Begräbnis, dafür war sie zu haben, denn wie Ihr sehet, Geliebte in Christo, bei ihr ist alles nur prima. Sie hat nicht geknausert, ich weiß es, denn höret: pro sepulchro, pro cüsterio, pro wachskerziis, pro messis solemnibus, pro trägeris mortis et cetera et cetera hat sie hochherzigen Sinnes fünfundachtzig Taler fünf Groschen geopfert und somit ihren schönen Grundsatz betätigt: im Tode laß ich die Menschen noch leben. Ich aber kann daher kühnlich behaupten: Flügel sind ihr gewachsen, und aufgefahren ist sie gen Himmel und zur ewigen Freude. Madam Mömmes lebt nicht mehr, Madam Mömmes ist tot, Madam Mömmes ist ein Engel geworden. Friede ihr und ihrer sterblichen Asche. Amen.«

»Oremus

Die ersten Erdschollen ratterten auf den piekfeinen, gefirnißten Deckel . . .

Madam Mömmes konnte sich nicht mehr halten und weinte vor Freude. Diese Gelegenheit benutzte nun Herr Kapellmeister Janssen, sein projektiertes Kornet à piston-Solo doch noch vom Stapel zu lassen, tat's auch, vergriff sich aber in seinem mitgebrachten Notizbuch und blies statt eines feinfühligen Chorals ›So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage‹ herunter, so daß Kreuze, Gedenksteine, Kleriker und Laien nicht wußten, was sie zu hören bekamen.

Und die schweren Sterbeglocken brummten dazwischen – und die Kuckucksuhr kuckuckte achtmal hintereinander – und alle Uhren im Armenhofe folgten ihrem Beispiel und schlugen präzise zusammen – und Madam Mömmes fuhr erschreckt in die Höhe und meinte: »Um tausend Gottes willen noch einmal! – ich bin ja noch immer lebendig – un nu hab' ich die Frühmesse verpaßt un muß nu ins Hochamt.«

Mit einer Alertheit, die man der kompletten Dame nicht mehr zumuten sollte, war sie aus ihren warmen Federn gesprungen und in ihre Sonntagsstrümpfe gefahren.

Aber Herrgott – der schöne Sonnenschein da draußen! – das mußte ja lustig stimmen, das mußte ja alle Todesgedanken verscheuchen, selbst wenn sie zu den angenehmsten gehörten – eine Tatsache, der sich auch die würdige Madam Mömmes nicht mehr zu entziehen vermochte. Sie ließ also ihren ›seligen Tag‹ schießen, freute sich des wiederum geschenkten Lebens, machte Toilette und spitzte sich während des umständlichen Verfahrens auf einen recht steifen Kaffee mit Beiwerks, den sie mit einer doppelten Portion Kraftzucker zu würzen gedachte.

Alles ging ihr geschickt von der Hand. Nach eingenommenem Kaffee machte sie sich fertig, aber ›tipptopp‹ und verließ ihre Wohnung.

Am Hause der Laken-Sophie standen die Fenster geöffnet. Selbst der warzige Kugelkaktus hatte es auch schon riskiert, sich in seinem grünen Schlafrock ins Freie zu wagen. Mamsell Boß hingegen ließ sich nicht blicken, war überhaupt während der letzten vierzehn Tage so gut wie verschollen gewesen.

Krank war sie nicht, denn sonst hätte sie, Madam Mömmes, die Visiten des Herrn Doktors wahrnehmen müssen. Auswärts beschäftigt? – Auch das nicht, allein Lisbeth fühlte das Bedürfnis nicht in sich, ihr zur Klärung der Sachlage einen Besuch abzustatten. Sie war zuletzt drüben gewesen, und somit erforderte es der gewöhnliche Anstand, sich durch eine Gegenvisite beehren zu lassen.

»Ne, ne, ne,« überlegte die Dicke, »wenn Mamsell Sophie was will, dann laß sie man kommen – ich bin immer zu haben,« ließ den spinatgrünen Protz stehn und begab sich zur Kirche.

Hier bedankte sie sich beim lieben Herrgott so recht innig für den gehabten ›seligen Tag‹, hörte die Messe mit gebührender Andacht, schenkte sich aber die Predigt, weil sie den Worten des rothaarigen Kaplans so recht keinen Geschmack abzugewinnen vermochte, und verließ gehobenen Sinnes und mit dem Ausblick auf einen Löffel warme Suppe zu Mittag das Hochamt.

Auf dem Marktplatz stieß sie auf die Babbeltjes-Lena, die bei ihrem Kram saß und mit ihrem Paradiesapfelgesicht und der frischen Klöppelmütze so recht in den niederrheinischen Sonntagmorgen hineinpaßte.

Es war wie gewöhnlich still in der Runde.

Madam Mömmes aber brachte Leben in das trostlose Schweigen.

»Tag, Lena!«

Ihre patschige Hand legte sich sanft, aber mit Nachdruck, auf die Schulter der Alten, die eben sich entschlossen hatte, so ein kleines Nickerchen zu halten.

»Silke, salke, sente . . .! – Ah, Madam Mömmes . . .! – schon mit unserem lieben Herrgott gesprochen?«

»Wie sich das gehört, meine liebe Frau Lena. Alles meinem Gott zu Ehren – das gibt tägliches Brot, munteriert einen auf un stopft einem frische Federposen unter den Hintern, denn ein gutes Gewissen . . .«

»Hihihi!« kicherte das zahnlose Weibchen, »wie Madam Mömmes doch immerst so fein is! – Vielleicht ein Babbelatje gefällig?«

»Merci,« wehrte die Dicke ab, »so'n Dings is mir mal früher bekömmlich gewesen; jetzt verschleimt's mir – un denn: heute zu Mittag habe ich so'n kleines Suppenhühnchen im Topfe.«

»Prosit die Mahlzeit!« sagte die Alte und wischte sich mit ihrem Schürzenzipfel über den Mund fort, »prosit die Mahlzeit, meine liebe Frau Mömmes,«

»Danke.«

»Wenn unsereins doch auch mal so'n Hühnchen . . .«

»Kömmt noch, kömmt noch,« suchte die Dicke zu trösten, lenkte aber ab, als fürchte sie sich, das begehrliche Frauchen noch länger in ihrem lukullischen Garten herumspazieren zu lassen und voltigierte mit einem raschen Gedanken-Saltomortale auf ein anderes Thema.

»Aber um tausend Gottes willen!« begann sie, »was ich sagen wollte, meine liebe Frau Lena . . . Man is doch auch nich von heute un gestern, man is doch auch nich vom Monde gefallen un hundert Stunden hinter Amerika auf Reisen gewesen – was is nur in Mamsell Sophie gefahren?! – Ausgepustet, wie so'ne Kerze ausgepustet, wenn die Fastenandacht vorbei is. Seit vierzehn Tagen nich mehr unter die Augen gekommen: man sollte ja meinen . . .«

»Aberst ich bitte Ihnen, meine liebe Frau Mömmes . . .«

»Na, was denn?«

»Soeben – das heißt vor 'ner Stunde . . .«

»Un wo denn?«

»Da hinten . . .«

»Bei wem denn?«

»Stracks zu Mynheer van Bommel gegangen.«

»Na, so was! – Was will sie denn bei dem alten Schürzenmarkör?«

»Vielleicht hat sie ihre mannbaren Plüschpantoffeln verloren. Ich kann's so recht nich sagen, aberst dies weiß ich: sie hat mir geschnitten, sie hat mir eklig geschnitten; sie hat keine Benehmigung mehr un is stolz un mit 'ner herkulanischen Forsche an mir vorübergegangen.«

Die Sprecherin war mit 'nem energischen Ruck vom Stuhle gefahren. Entrüstet streckte sie die Hand in Richtung des van Bommelschen Hauses.

»Aberst so is das im menschlichen Leben,« mummelte sie zwischen ihren kauenden Lippen, »erst wird man angezapft wie 'ne milchende Ziege, un denn soll man sich noch bedanken un meckern. Aberst das gibt's nich; man hat doch auch seinen Stolz, meine liebe Frau Mömmes.«

»Hat man, hat man,« tat ihr Lisbeth zu wissen und plättete sanft an ihrem Sonntagstuch herunter.

»Ja, meine liebe Frau Mömmes, das nennt sich bedanken! – Hab' ich ihr da in meinem magnesianischen Zustand die besten Apporten gegeben un ihr allens mit die feinsten Kulören geschildert – un was tut nu die Lange in ihrem hochfahrigen Koppe? Sie hat mir nich mehr für voll angerechnet, un Sie soll sehen, meine liebe Frau Mömmes, sie is auch auf Ihnen pikiert, sie wird Ihnen schneiden, wie sie mir geschnitten hat von oben bis unten.«

»Das wollen wir abwarten,« versetzte die behäbige Dame und warf sich selbstbewußt in ihre stattliche Weste.

»Aberst einmal un nich wieder,« machte die Babbeltjes-Lena ihre Schlußnote darunter, »denn ich laß mir nich anlackieren von so einer, un wenn sie zehnmal ausgeschnittene Hemdens gemacht hat.«

»Richtig,« bemerkte die Dicke, wollte noch mehr sagen, verhielt sich aber und sah steifnackig in Richtung der beiden Kugelakazien.

»Ich seh' ihr gleichfalls,« meinte das eisgraue Weibchen und beobachtete auch ihrerseits die beiden Kugelbäumchen, zwischen denen die Laken-Sophie hindurchkommen mußte. Von Krispinus van Bommel bis auf die Treppenstufen begleitet, ging sie jetzt gesenkten Kopfes und auf weichen Sohlen allein ihres Weges. Ihr Kurs war direkt auf das Kirchengäßchen gerichtet.

»Nu schneidet sie Ihnen,« prophezeite die Alte.

»Die? – Mir?« entgegnete Lisbeth. »Das laß ich drauf ankommen,« sah aber gleichzeitig, daß Sophie gewillt schien, einen Haken zu schlagen.

»Prosit die Mahlzeit!« triumphierte die Kleine, »Was ich gesagt hab': die zieht den Hals aus die Schlinge.«

»Warte Sie ab,« war die lakonische Antwort und ein scharfes »Mamsell Sophie!« lief in einem fast befehlenden Ton über den Marktplatz. Die Lange stutzte.

»Mamsell Sophie – hat Sie wohl Zeit, so'n bischen herüberzukommen?!«

Das ging nun nicht anders, wollte sie nicht alle Freundschaftsbande zerreißen: Jöffer Voß hatte ein Einsehn, nahm den alten Kurs wieder auf und steuerte geradeswegs der Babbelatjes-Bude und den beiden Frauen entgegen. Langnasig, verärgert und 'ne Portion Gift und Galle unterm Herzen, hatte sie bald darauf Anker geworfen.

»Ah, Mamsell Sophie,« sagte Lisbeth so von oben herab, »haben wir endlich auch mal die Ehre?«

»Wieso denn?« meinte die Angeredete in patziger Weise.

»Wieso denn? – Da frage Sie einmal die Babbeltjes-Lena. Nich Sie, sondern wir könnten pikiert sein.«

»Hat Sie mir nich etwa geschnitten?« sondierte die Kleine.

»Un is meine Visite nich etwa bei Ihr in den Dreckseimer gerutscht?« warf Madam Mömmes energisch dazwischen. »Das brauchen wir uns als ehrbare Frauen nich gefallen zu lassen.«

»Man hat doch auch seine Turnüre,« meinte die Alte.

»Oder is Sie etwa leidend gewesen?« fragte die andere.

»Ich? – Nein – aber verärgert bin ich gewesen und schändlich betrogen.«

»Hat Sie vielleicht Ihre Strumpfkasse mit die Talers verloren?« meinte Lisbeth mit stoischer Ruhe.

»Oder is der seine Kanalljenvogel mit Tod abgegangen?« erkundigte sich die Babbeltjes-Lena.

»Nein,« versetzte die Lange mit giftigen Blicken, »aber sie pieken mit Fingern auf mich, ich kann mich unter ehrlichen Menschen nicht mehr zeigen, ich muß mich zu Tode schenieren, denn die beiden Orakels sind schändliche Lügen gewesen.«

»Oho!« machte Madam Mömmes und stellte ihre beiden Beine nach auswärts, »das weiß Sie so sicher?«

»Schändliche Lügen!«

»Meine Kartoffelschalen-Orakels . . .

»Un meine Babbelatjes-Apporte . . .

»Gestunken und alles gelogen, denn ich habe jetzt meine Sinne beisammen und tu' nicht mehr dreimal drei für gerade verschleißen. Nichts ist eingetroffen, alles ist daneben gegangen, und die ganze Geschichte ist an 'ne falsche Adresse gekommen.«

»Un da will Sie mich für betrügerisch nehmen?«

»Un mir?« akkompagnierte die Babbeltjes-Lena.

»Ja,« sagte die Lange, »das tu' ich, das kann ich beweisen und ehrlich beschwören, wenn's vor's Gericht kommt.«

»Dann schwört Sie sich in die siebente Hölle,« entgegnete Lisbeth.

»Nein!« schrie die Laken-Sophie mit ihrer gläsernen Stimme.

»Schrei Sie nich so auf dem offenkundigen Marktplatz.«

»Mir egal,« versetzte die Nähterin, »ich geh' zum Herrn Pastor und erzähle ihm alles. Und denn wollen wir sehen, ob die Orakels auch vor ihm bestehen können.«

»Halt!« erklärte jetzt Madam Mömmes mit aller Bestimmtheit. »Komme Sie uns nich mit die heilige Kirche. Aber ich frage Sie jetzt auf Leben und Sterben un auf Ihre Seligkeit: hat Sie damals, ich meine, als ich Ihr damals im Namen des Vaters, des Sohnes un des heiligen Geistes mit die Kartoffelschalen in die Zukunft hineinkucken ließ – ich meine, hat Sie nachher auch über den Ausgang geschwiegen?«

Das war nun eine verteufelte Frage.

»Ich meine geschwiegen,« sondierte Madam Mömmes mit einer verflixten Betonung, »geschwiegen gegen alle un jeden?«

Die Laken-Sophie sah an ihrer Nase herunter und konnte keine Worte mehr finden.

»Un wie is das mit meine Babbelatjes-Apporte?« fragte die Alte. »Hat Sie keinem auch nur ein Wörtchen verraten?« Drohend streckte sie dabei ihre zittrige Hand mit langem Zeigesinger nach oben.

»Na, Mamsell Sophie – auf Leben un Sterben?!«

Da kam ein unerwarteter Dreh in die Sache,

Die Klägerin wurde zur Angeklagten.

»Nein,« sagte sie betreten.

»J-a–a–a!« kam es fast gleichzeitig aus dem Munde der beiden Sibyllen, und sie zogen das ›ja‹ in die Länge, als könnten sie das Ende nicht finden.

Endlich gelang es, und als es heraus war, da hatte Madam Mömmes auch wieder Oberwasser bekommen.

»Ja, meine Beste,« haspelte sie zungenfertig herunter, »wenn Sie das nich getan hat, wenn Sie nich dicht halten konnte un semmelwarm alles verteilt un unter die Leute gebracht hat . . .«

»Ja, denn . . .!« warf das kregele Weibchen bedauernd und achselzuckend dazwischen.

»Denn natürlich,« zog Madam Mömmes mit salbungsvollem Augenaufschlag ihre Folgerungen aus der aufgestellten Prämisse, »denn natürlich is mir alles erklärlich geworden, denn natürlich darf Sie sich nich Stein un Bein verwundern un uns keine Vorwürfe machen. Sie spricht doch immer von Ihren dicken Korinthen, die ich Ihr aus Ihrem Kuchen herauspicken täte – na, un Sie, meine Beste? – Unsere Orakels sind auch feine Kuchen gewesen, die mußten erst garbacken werden. Sie aber hat's auch nich abwarten können, Sie mußte dran 'rumfühlen un so'n bischen probieren – un was Sie da 'rausgepolkt hat, sind keine poweren Korinthen gewesen, sondern kaptale Rosinen, un darum un deshalb: Sie hat sich selber in die Nesseln hineinposamentiert un kann nu Ihre lieblichste Hoffnung begraben.«

»Un sich andere mannbare Plüschpantoffeln unter die Bettlade stellen,« ergänzte die Alte. »Ich hab' nichts mehr zu sagen; Madam Mömmes hat mir verdefendiert bis ins kleinste, un ich kann daher noch immerst bestehn mit meine magnesianischen Apporte – aberst Ihnen sag' ich nie mehr die Wahrheit.«

»Weiß Gott nich,« setzte die Dicke ihr gewichtiges Siegel darunter, »wir werden uns hüten.«

Die Lange stand wie versteinert. Das hatte sie denn doch nicht erwartet, und wenn sie auch zugeben mußte, daß die beiden Alten sich so ganz nicht im Unrecht befanden – das war mehr, als sie zu ertragen vermochte.

»Um dessentwillen muß mir dieses Unglück passieren!« kam es schluchzend von ihren blutleeren Lippen.

»Ja,« dekretierte die Babbeltjes-Lena, »denn wer nich schweigen kann, hat keinen Anteil nich an unseren prophetischen Zuständen.«

Die Lange ließ alles über sich ergehen; sie war weich wider Willen geworden, zahlte verschleierten Blickes die Pflastersteine und erging sich in sentimentalen Ergüssen.

»Um Gott nicht!« meinte sie schließlich, »ich bin ihm doch immer so freundlich gewesen, habe keine Zichorien in seinen Morgenkaffee geschüttet und bin ihm doch allzeit äußerst nobel mit meinem silbernen Tablett . . .«

»Neusilber, Neusilber!« wurde sie von Madam Mömmes berichtigt.

»Wollt' ich auch sagen – mit meinem neusilbernen Tablett entgegengekommen. Na – und gebetet . . .?! – Morgens und abends – für ihn nur gebetet – und nu . . .

Die Laken-Sophie schob kurzer Hand das Sentimentale beiseite.

»Und Ihr habt mir doch alles versprochen,« begann sie aufs frische und in gesteigerter Tonart, »aber alles ist gestunken und Bosheit gewesen. Der Herr Pastor müßte dahinter, der Herr Schandarm müßte dahinter, um so 'ner gottlosen und infamichten Person den Kopf zu zertreten.«

»Wen meint Sie denn eigentlich?« fragte die Dicke, trat einen Schritt näher, nahm sie aufs Korn und praktizierte zum andern ihre Hände in die stämmigen Hüften,

»Ihnen nicht und auch nicht die Babbeltjes-Lena. Ich meine die andere. Die hat sich gegen die christliche Nächstenliebe verstoßen – die hat sich gegen die zehn Gebote Gottes verstoßen – und mir kalten Herzens 'nen glühenden Dolch in den Busen getrieben.«

»Wohin?« fragte Lisbeth.

»In meinen jungfräulichen Busen. – Aber alles will wiedererlebt sein; unser lieber Herrgott läßt sich nicht für 'nen dummen Jungen verschleißen – unser lieber Herrgott kuckt bis in die hintersten Nieren. – Gott vergeb' mir die Sünde! – aber bei der da, da kann er was Nettes gewahr werden. Madam Mömmes, ich kann nicht mehr reden – Sie muß mich exküsieren – aber das will ich noch eben bemerken . . .«

In ihren Augen blitzte dabei ein häßliches Licht auf.

»'ne Kerze hab' ich ihr aufgesteckt – so'n Talglicht mit 'ner richtigen Schnuppe; dran soll sie sich ihre Finger verbrennen.«

Die Nähterin schnappte nach Atem. »Und das Talglicht, die Kerze . . .«

Langsam, aber bestimmt und mit aufgerissenen Augen drehte sie den Kopf in Richtung der beiden Kugelakazien, daß es den beiden Zuschauern ordentlich den Atem beklemmte, und streckte die Hand aus.

»Und das Talglicht, die Kerze – die nennt sich: Mynheer van Bommel!«

Das Wort war heraus, aber mit ihm war auch die Willenskraft des schwergeprüften Weibes gebrochen. Hilfesuchend appellierte sie an das Mitgefühl ihrer ehemaligen Freundinnen, schlug die Hände vors Gesicht – und weinte bitterlich.

Es war ein Moment von erschütternder Tragik. Die Laken-Sophie hatte Tränen gefunden, sie, die doch immer bei allen nur möglichen und unmöglichen Gelegenheiten sich nicht aus der Fassung bringen ließ und dabei immer so von oben herabsah, als wenn sie 'ne Elle verschluckt hätte. Aber es war so: Mamsell Sophie hatte Tränen gefunden – und Tränen machen die böseste Stimmung zunichte.

Lisbeth konnte überhaupt keinen Menschen weinen sehen, geschweige denn ihre beste Freundin von ehemals.

Ihre herausfordernde Hüftenstellung löste sich auf, unter ihrer prächtigen Fladuse glättete sich das Gesicht zu einem friedlichen Ausdruck, Milde und Herzensgüte bekamen die Oberhand – und in friedlicher Absicht war sie näher getreten.

»Mamsell Sophie,« begann sie mit vibrierender Stimme, »Sie kann mir leid tun un mir ordentlich rühren, denn wir sind doch immer die besten Freundinnen gewesen und die besten Kumpane.«

»Weiß Gott, das waren mir immerst,« konstatierte die Babbeltjes-Lena und wischte sich mit ihrem Schürzenzipfel über die Augen.

»Was mal gewesen is – das nehm' ich nich wieder,« tröstete die Dicke, »un Gert Liffers is doch nu einmal gewesen. Lasse Sie den Deichgräfen man schießen. Gegen umgestoßene Orakels soll man nich gegen anoperieren. Ziehe Sie 'nen Strich unter die alte Geschichte. – Sie kann doch noch immer andere Ansprüche machen. – Bleibe Sie bei Ihrem soliden und praktischen Leisten. – Ich dächte, Sie wäre mal mit dem Herrn Sekretarius Knippscheer . . .«

»War ich,« sagte die Lange, noch immer unter heftigem Schluchzen, »bin ich einmal gewesen . . .«

»Na, denn fange Sie man wieder von vorne an,« machte Madam Mömmes jetzt einen energischen Vorstoß. »Herr Knippscheer war für Sie der richtige Leisten; den kann Sie noch alle Tage haben. – Ach, Mamsell Sophie – habe Sie doch endlich ein Einsehn, un tu Sie's uns beiden alten Frauen zuliebe.«

Und sie breitete die Arme und hielt sie ihr sehnsüchtig und aus versöhntem Herzen entgegen.

Erlöst und beseligt stürzte sich die Lange an das warme und weiche Umschlagetuch der lieben Frau Mömmes, brachte aber noch unter Tränen die gepfefferten Worte zum Vorschein: »Gern, Madam Mömmes – aber dem da, dem Deichgräf, dem wird noch heute mittag gekündigt.«

»Recht so,« sagte die Dicke, schluchzte heftig auf und strich ihr sanft über die strohblassen Haare.

 


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