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Mit einer gewissen Feier und Formalität hatte inzwischen der Donnerjü in Begleitung seines Weibes die Kirche betreten. Draußen, in Gottes freier Natur, auf seinem Anwesen, zwischen Knechten und Mägden, beim Billardspiel oder vor seinen Bouteillen ›Schwart Water‹ ließ er mehr das Jovial-Brutale seiner Charakterveranlagung in die Erscheinung treten, während er hier, im Tempel des Herrn und unter den Augen einer gläubigen Gemeinde, den größeren Nachdruck auf ein gestrichenes Maß voll eisenfester Gemessenheit, phlegmatischer Ruhe und Würde legte, ohne dabei das Protzige und Hochfahrige seines Wesens gänzlich beiseite zu schieben. Das gehörte sich so für einen Mann, der über vierhundert Morgen fetten Ackers und Wiesenlandes verfügte, fünfundachtzig melkende Kühe im Stalle hatte und mit zwei Kutschpferden in silberplattierten Kummetgeschirren ausfahren konnte. Schon von alters her waren überhaupt die Fingerhutshöfer, ihres sprichwörtlichen Reichtums halber, estimiert in der Gegend, so auch Barthes van Laak, dessen Hand es meisterhaft verstand, die harten Taler splendid unter die Leute zu bringen, ein oftgeübtes Verfahren, das ihm ein gewisses pompöses Relief verliehen und seiner Person im Kreise von Verwandten und Bekannten eine Art von Beliebtheit verschafft hatte. Die eigene Sippe war freilich im Verlauf der letzten Jahre merklich zusammengeschmolzen. Außer seinem Ohm, dem Seilermeister Krispinus van Bommel und dessen Neffen, konnte er noch über einen weitläuftigen Vetter in der Person des Herrn Notariatssekretärs Sulpiz Knippscheer verfügen; allein er betrachtete diesen lediglich als ein verwandtschaftliches Kuriosum, als ein überflüssiges Anhängsel der van Laakschen Familie – und trotzdem: auch diesen armseligen Schlucker verstand er an sich zu fesseln. Eine spendierte Flasche, 'ne bezahlte Billardpartie oder sonst 'ne Gefälligkeit in klingender Münze ließen manche Kränkung vergessen. Sie spielten die Rolle von versüßten Latwergen und vergoldeten Pillen. Geben war überhaupt die starke Seite des Fingerhutshöfers, aber wohlverstanden nur dann, wenn es in seinen Kram paßte, oder in der Anwandlung einer plötzlichen Laune die Geldstücke sonstwie mobil gemacht wurden und Beine bekamen. Und so ein Moment schien gekommen, als er die Tür des von ihm gepachteten Kirchenstuhls hinter sich zuschlug. Gerade in diesem Augenblick war das Evangelium verlesen worden, und der Klingelbeutel erschien, um durch die heiligen Hallen zu meckern.
Von Bank zu Bank und mit leiser Bettelstimme kam er näher und näher.
Ja, der Klingelbeutel – das war es!
»Pst! – Pst!«
Der Donnerjü hatte sich bemerkbar gemacht und war dabei mit Daumen und Zeigefinger in die rechte Westentasche gefahren, aber mit einem solchen Aufwand von Breitspurigkeit und geberischer Würde, daß alle es sehen mußten. Ein großes Silberstück blinkte zwischen den kräftigen Fingern, wurde mit Ostentation in die Höhe gehoben und dann mit gönnerischer Miene zu den Kupferkumpanen geklimpert.
Barthes van Laak hatte seine Pflichten als gewichtige Standesperson und Mitglied der christkatholischen Kirche hiermit erledigt und fühlte sich berechtigt, von nun an ein wenig zwischen den Bänken Umschau zu halten.
Der Opferbeutel war inzwischen voran gewackelt.
Mit sichtlichem Interesse verfolgte der Donnerjü den weiteren Bittgang. Er konnte an den Gesichtern der Menschen erkennen, was der klingelnde Bettelsack einheimste, und lächelnden Mundes registrierte er die Pflichtpfennige der einzelnen Geber.
Da saß Lisbeth Mömmes. Sie wuscherte umständlich in ihrem gehäkelten Pompadour herum und gab dann.
»Fünf Pfennige!« registrierte der Donnerjü und beobachtete weiter.
Jetzt hatte Krispinus van Bommel zu spenden. Das verschlagene Fuchsgesicht zeigte keine merkliche Regung; nur die hageren Finger versenkten sich tief in den Beutel.
»Unbestimmt!« verzeichnete Barthes van Laak, machte eine Drehung nach links hin und nahm den Herrn Notariatssekretär Knippscheer ins Auge.
Fein säuberlich paradierte dieser mit seinem Hosenboden auf dem ausgebreiteten Sacktuch, dessen Enden knallrot unter der schwarzen Kleidung hervorsahen. Das sinnenblutige Gesicht war eitel Gottvertrauen und Andacht. Beim Nahen des Opfersackes schien sein Gebet an lauterer Inbrunst zu wachsen. Seine Gedanken waren nach oben gerichtet und hatten mit dem profanen Treiben nichts mehr zu schaffen.
Das erste mahnende Zeichen ertönte.
Der Herr Geheimrat ließ mahnen, was mahnen wollte, und betete weiter.
Der kurzatmige Sakristan wedelte ihm mit der klingelnden Troddel bis dicht unter die Nase.
Auch dieses verfing nicht. Nur ein tiefer Seufzer war die einzige Antwort. Sulpiz neigte sich vor und machte das Zeichen des heiligen Kreuzes.
Als die dritte und letzte Aufforderung denselben negativen Erfolg hatte, drehte sich der Sakristan mit seiner schwarzpolierten Stange dem Herrn Spezereiwarenhändler Petrus Nagel entgegen.
»Nichts!« konstatierte der Donnerjü und zwirbelte seinen martialischen Schnurrbart.
Herr Petrus Nagel stand aufrecht. Mit hastigen Fingern knisterte er in den Blättern seines Gebetbuches. Keine Gedankenlänge stand das unruhige Kerlchen auf der nämlichen Stelle. Umschichtig setzte er bald den rechten, bald den linken Fuß auf die Seite, nahm eine tänzelnde Bewegung an und wiegte sich dabei flott in den Hüften, wie'n Magyar auf ungarischen Wollmärkten, wobei allerdings das landfremde, sauertöpfische Gesicht eitel Gram und Betrübnis über die betende Menge hinwegblies.
»Bong!« machte der Spezereiwarenhändler, als an ihn die Reihe gekommen, griff sich noch fix durch die Haare und spedierte fingerfertig ein blankes Ding in den Beutel.
»Hosenknopp!« buchte der Donnerjü mit kategorischer Ruhe, »so'n Viechskerl!« beugte sich vor und bemerkte, wie die Laken-Sophie eintrat, niederkniete und verklärten Gesichtes ihren Obolus darbrachte.
»Gottverdomie,« dachte der Fingerhutshöfer, »was ist das, was soll das?! – Die hat ja ›PuttPutt‹ in der Tasche. Ich tu's nicht unter zweimal fünf Groschen. Da muß was passiert sein!« und hätte er sich hier über die gemachte Wahrnehmung des längeren aussprechen dürfen, es wäre ein vergebliches Bemühen gewesen, denn er war vor Erstaunen eine geraume Zeit lang so gut wie sprachlos geworden.
»Zweimal fünf Groschen . . .!«
Seine Blicke waren weiter gehastet.
Wer stand da – an der Säule dahinten?!
Vor dem stillen Ernst dieses Mannes, der mit unterschlagenen Armen dem Gottesdienst beiwohnte, ging der Klingelbeutel schüchtern vorüber.
Barthes van Laak hielt mit seinen Betrachtungen inne. Er bemerkte den Deichgräfen, er sah die unerschütterliche Ruhe des Insichgekehrten, der nicht so wollte, wie er wollte, der ihm von jeher ein Dorn im Auge gewesen.
Nein, unterkriegen ließ er sich von dem nicht. Und wäre es fünfundzwanzigmal zu seinem eigenen Vorteil gewesen – gerade weil sie von ihm herrührten, wollte er von den Neuerungen in den Korporationsrollen nichts wissen. Und wenn er, der Deichgräf, absolut auf seinem Willen beharrte, wenn er Streit haben wollte, wenn er's weiter so triebe und die Deichgeschworenen gegen ihn aufhetzte – gut, er stand zur Verfügung, aber dann auch: Auge um Auge, Zahn um Zahn und Stirn gegen Stirne. Und sollte einer auf der Strecke verrecken: Kampf bis auf's Messer.
Der Donnerjü warf Kopf und Stiernacken rücklings, kam aber mit der Musterung seines kompakten Ingrimms nicht weiter, denn der Dechant van Haag hatte soeben die Kanzel bestiegen. Der tolerante Geistliche konnte in Herzen und Nieren sehen; er wußte, daß sich manche in seiner Herde befanden, die das Jäten ihrer Äcker vergaßen und die Falter der Weltlust taumeln ließen über böses Gekraut und nichtsnutzige Blumen, die zwar dem Auge schmeichelten, aber eitel und nichtig waren für die Gewinnung des ewigen Lebens. Am Sonntag vorher hatte er unter leiser Anspiegelung über Stolz und Hoffart gepredigt, heute gedachte er über den Wert und die Pflichten einer gottwohlgefälligen Ehe zu sprechen, und also begann er:
»Geliebte im Herrn! – Im zweiten Buche Samuelis, und zwar im elften Kapitel, steht also geschrieben: Und es begab sich, daß David um den Abend aufstand von seinem Lager und sahe vom Dach seines Hauses ein Weib sich waschen, und das Weib war sehr schöner Gestalt. Und David sandte hin und ließ nach ihm fragen und sagen: Ist das nicht Bath-Seba, die Tochter Eliams, das Weib Urias, des Hethiters?«
»Hm, hm!« räusperte sich Sophie Boß, schob sich kommod in die Sitzbank zurück und drehte die rechte Gesichtshälfte mehr der Kanzel zu, um besser hören zu können.
Der Dechant aber sprach weiter: »Und David sandte Boten hin und ließ sie holen in die Gemächer des Königs. Und da sie zu ihm hineinkam, blieb sie lange bei ihm und ging wieder nach Hause. Und das Weib war schwanger und ließ David verkünden und sagen: Ich bin schwanger geworden. Er aber schrieb einen Brief an Joab und ließ ihn durch Uria bringen. Und also stand in dem Brief geschrieben: Stellet Uria an den Streit, da er am härtesten ist, und wendet Euch hinter ihm ab, auf daß er erschlagen werde und sterbe.«
Bei den letzten Worten blinzelte die Laken-Sophie in berechtigter Wissensbegierde zur Linken, woselbst ihrem Ermessen nach die grellilluminierte Sonntagshaube ihrer besten Freundin auftauchen mußte. Sie wollte doch wissen, was Lisbeth bei dem heiklen Thema für ein Gesicht machen würde. Allein Madam Mömmes war nicht bei der Sache. Die schwarze Hornbrille bis auf die Nasenspitze geschoben, hatte sie es vorgezogen, sanft und selig in die Gefilde ihrer beliebten Traumwelt hinüberzuduseln. Was galten ihr auch David und Bath-Seba! – hatte sie doch mit einem anderen biblischen Weib zu schaffen, das schlimmer war wie alle alttestamentlichen Frauen zusammengenommen, und sie war gerade dabei, im Interesse des keuschen Joseph einen zölligen Hasel aus der nächsten Hecke zu schneiden, um damit der gotteslästerlichen Potiphar unter die Augen zu treten, als der Prediger lauter wurde und mit eindringlicher Stimme den heiligen Text weiter erzählte: »Und da nun Joab um die Stadt lag, stellte er Uria an den Ort, wo er wußte, daß streitbare Männer waren. Und da die Mannen der Stadt herauskamen und stritten wider Joab, fielen etliche des Volks von den Knechten Davids, und Uria, der Hethiter, fiel auch.«
»Gott, ne nich!« erschreckte sich Madam Mömmes, war aber des Glaubens, gedungene Mietlinge der Potiphar hätten Joseph von Ägypten erschlagen, und kam erst zu klarem Bewußtsein, als sie die Kanzelworte genauer verfolgte. Mit einem tiefen und glückseligen Seufzer konstatierte sie nun, daß alles bei ihr nur ein böses Träumen gewesen. In einem kurzen Stoßgebet quittierte sie daher bei ihrem lieben Herrgott für die glückliche Rettung des jungen Hebräers.
Der Dechant aber streckte die Hand aus und meinte: »Da sandte Joab hin und ließ David ansagen allen Handel des Streites. Und David sagte zum Boten: Du sollst melden an Joab: Laß Dir das nicht übel gefallen, denn das Schwert frißt jetzt diesen, jetzt jenen. Und da Bath-Seba hörte, daß ihr Mann Uria tot war, trug sie Leid um ihn. Da sie aber ausgetrauert hatte, sandte David zu ihr, und sie ward sein Weib und gebar ihm ein Söhnlein. Aber dem Herrn gefiel die Tat übel, die David getan hatte.«
»So 'ne Person!« fuhr die Laken-Sophie zusammen, »den lieben König David in solche Schwulitäten zu bringen . . .« konstatierte, daß alle Weibsbilder nichts taugten, nahm natürlich ihre eigene Person, Madam Mömmes und die Babbeltjes-Lena von diesem Verdikt aus, und – weiß der Kuckuck warum! – sie konnte nicht anders: allein sie mußte bei der soeben gehörten Geschichte immer an Aleit van Laak denken, und als sie instinktiv den Kopf wandte und nachsah, fand sie die jugendliche Frau zur Seite des Donnerjüs sitzen.
Und Aleit saß da ohne Bewegung und mit halb geschlossenen Augen. Sie fühlte sich neben ihrem Mann wie eine Pflanze mit durstigen Wurzeln, der eine heiße Prellsonne feuchtes und kühlendes Erdreich versagte. Nur wie ferne Glocken über den Wald weg, wie ein unbestimmtes, verlorenes Läuten klangen ihr einzelne Worte des Kanzelredners zu Ohren. Ein krankhafter Zug war ihr im Verlaufe der Tage zu eigen geworden. Sie war nicht ihr früheres ›Ich‹ mehr, seitdem sie erkannt hatte, daß das Wesen der Liebe Leidenschaft sei und heißes Verlangen, und es doch nicht vermochte, dieser heiligen Erkenntnis Rechnung zu tragen. Diese scheu verborgenen Gefühlsquellen waren in ihr noch immer lebendig; aber sie sträubten sich, ihre dämmernden Tiefen zu lassen, denn alles um sie her war so nüchtern und taghell, und sie sehnten sich doch, hinauszuströmen in ein verschwiegenes Waldtal und in eine Landschaft voll himmlischen Glückes. Und Sterne mußten stehn in der Höhe, und der Horizont mußte gegürtet sein mit einem olivenfarbigen Gürtel, und inmitten desselben mußte eine Pforte sich öffnen . . . Sie kannte die Landschaft. Sie kannte die Sterne, die Dämmerungen und die hohen Pappeln, die über die Deiche gingen mit leisem Gesäusel. Sie hatte sie als Kind schon gesehn und später, als sie größer geworden. Und das Tor stand geöffnet, und jenseits davon konnte sie ihren Durst und ihre Leidenschaft stillen – und da sie eintreten wollte, versagten die Füße, und alles war eitel und nichtig gewesen. Und seitdem vibrierte eine ungelöste Dissonanz durch ihre bekümmerte Seele. Sie wollte Sättigung haben und konnte diese Sättigung nicht finden, sie hatte Durst und konnte dieses Dursten nicht stillen, sie fühlte die Schwingungen einer liebestrunkenen Sommernacht, ihr geheimes Regen und Reifen und den Zauber, der in den unbestimmten Rissen der massigen Baumkronen lebte und webte und dem Heer der Blütendolden entströmte . . . Aber sie fühlte ihn nur, sie ahnte ihn nur – allein sie konnte nicht völlig genießen, nicht untertauchen in den Rausch der ersehnten Verzückung. Nur aus weiter Ferne, unbestimmt, dunkel und unerreichbar spielte die geheimnisvolle Sommernacht mit ihren berückenden Wundern. Und sie hatte keinen Anteil an ihnen; das Verlangen mußte ihre Seele verzehren. –
»Und Bath-Seba war schön,« klang es von der Kanzel herunter, »und sie wußte, daß sie schön war und wusch ihren Körper mit köstlichen Essenzen, sie stellte ihre Reize zur Schau und betörte den König – und das war schlecht von dem Weibe, denn es hatte seine Keuschheit und die des Mannes hierdurch zu Grabe getragen und sich hierdurch versündigt, denn letztere ist, wie der selige Bischof Doktor Konrad Martin versichert, eine der schönsten Blüten des menschlichen Geistes und eine ragende Palme des Lebens. Sie befähigt den irdischen Waller zur seligen Anschauung Gottes, sie trägt ihn empor zu den Sternen des Himmels und läßt die Lilien des Friedens wachsen auf den Bergen der Myrrhen.«
Und Aleit fuhr aus ihren lethargischen Träumen. Eine quälende Angst hatte sich ihrer bemächtigt. Sie war eigentümlich erregt. Die gesprochenen Worte, die mystischen Dämmer, die Flämmchen, die wie leblos über den Wachsschäften standen, berührten sie seltsam, und es war ihr so, als sei ein plötzlicher Riß durch ihre Seele gegangen. Sie schien auf ferne Stimmen zu hören. Kaum merklich hob sie den Kopf, und zwei traurige Augen irrten suchend ins Leere. Wie ein Nebel lag es vor ihren verschleierten Sinnen. Und sie stierte in diesen Nebel hinein, als müsse sich dort eine Lichtquelle auftun, die sie führen sollte bis an jene Pforte, die sie vor Jahren gekannt hatte. Damals war sie wegemüde an der verheißungsvollen Schwelle niedergesunken. Das war jetzt anders geworden. Erhobenen Hauptes wollte sie den Eingang betreten, das durchweinte Leben vergessen und glücklich werden an glücklicher Stätte. Aber eine Stimme war bei ihr; die hatte sich gelöst von den anderen.
»Die Lilien des Friedens wachsen nur auf dem Berge der Myrrhen,« sagte die Stimme, »und sie müssen welken, verderben, wenn niedere Regungen über sie fortgehn. Und wo die Schönheit sich auftut, da ist die Keuschheit gefährdet, und die Lilien des Friedens verderben, denn die Berge sind ledig der Myrrhen geworden, und um sie her ist eitel Dunkel und Wirrnis. Und Bath-Seba war schön vor allen Frauen in Israel, und ihre Schönheit brachte David zu Falle. Und wehe dem Manne, denn geschrieben steht: Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib, denn es ist ein Greuel vor dem Herren und den Menschen ein Ärger.«
Es war über Aleit wie ein mächtiges Brausen gekommen. Was sagte der Mann da auf ragender Kanzel? Wollte er den Menschen, die so nüchtern und mit stumpfen Gesichtern in den Kirchenbänken umhersaßen, ihr Geheimnis verkünden und ihnen ihre ganze Leidensgeschichte erzählen? Was scherte das alles die übrigen Leute – und war sie denn überhaupt schon vom Wege der Pflicht und in die Irre gegangen? – Nein! – Noch konnte sie erhobenen Hauptes unter die tuschelnde Menge treten und ihren Blicken begegnen, noch konnte sie getrosten Mutes ihr Kind an's Herz drücken – und dennoch, sie hatte das unklare Bewußtsein, als ob das Gesicht des geliebten Mannes über ihr stände, als ob er bei ihr wäre, sie emporrisse und mit ihr hinwegginge in die ersehnte Taumelnacht mit ihren liebestrunkenen Schwingungen und den ewigen Sternen. Und sie ging mit ihm, wohin er sie führte, und somit: sie hatte also dennoch gesündigt, gesündigt im Geiste, denn wer schon in Gedanken die Ehe gebrochen . . . Und die soeben gesprochenen Worte . . . Sie war schuldig, schuldig, schuldig! – Sie hätte untertauchen mögen in den wirren Nebel, der vorhin vor ihren Blicken gewesen.
Und die Scham, die Selbsterkenntnis drückte ihre Seele zu Boden. Ihr Antlitz war kreidig geworden, als wäre der Tod mit kalter Hand darüber gefahren. Die durchsichtigen Nasenflügel öffneten sich über den Lippen. Etwas unkörperliches haftete ihrem Leibe an. Die halbgeschlossenen Augen verlängerten sich zu einem schmerzlichen Lächeln. Die Lippen blieben geöffnet, als sehnten sie sich nach einem verzehrenden Kusse. Mechanisch fuhr sie sich über die Stirne. Mit einem leisen Seufzer sank sie in sich zusammen. Sie wußte es, und wenn sie es noch nicht gewußt hätte, so hätte sie es heute und in jetziger Stunde erfahren. Die Worte des Predigers waren zu deutlich gewesen. Für sie blühten keine Lilien mehr auf dem Berge der Myrrhen.
Aber schön war Aleit van Laak trotz ihrer Sünde geblieben, und selbst Jöffer Boß, die doch alle Ursache hatte, die weiblichen Reize ihrer Nebenbuhlerin etwas tiefer zu hängen, um auf diese Weise gefesteter und mit größerem Erfolge in den Konkurrenzkampf treten zu können, war ehrlich genug, ihr den Zauber des Weibes nicht abdisputieren zu wollen. Allein – wenn sie sich wieder selber betrachtete . . . Sie durfte schon zufrieden sein mit dem, was sie hatte.
Hierzu kamen noch ihre inneren Vorzüge.
Rein war sie – das konnte am besten Madam Mömmes bezeugen; ob aber Frau Aleit ein gleiches von sich behaupten durfte, das stand denn doch auf einem ganz anderen Brette verzeichnet, und somit, alles in allem: sie hatte schon eine erkleckliche Portion von inneren und äußeren Vorzügen in Pachtung genommen und konnte bestehn vor sich und anderen ihres Geschlechtes.
Außerdem hatten zwei Orakel zu ihren Gunsten gesprochen, sie war siegreich geblieben und hatte die schöne Partnerin aus dem Felde geschlagen. Gewiß, die Ärmste konnte ihr leid tun; aber bei Lichte besehen: sie war doch nicht dafür verantwortlich zu machen, daß gerade ihr das Glück in den Schoß fallen mußte. Daß Aleit verheiratet war und sich trotzdem nach dem Deichgräfen bangte, das widersprach allerdings jedem christlichen Grundsatz und war nicht schön von der Aleit – mit Rücksicht aber darauf, daß die Liebe geeignet ist, die klarsten Sinne zu trüben, und im Hinblick auf die obwaltenden Umstände wollte sie ein Auge zudrücken und sich mit der christ-katholischen Nächstenliebe behelfen. Überhaupt, man dürfe mit seinem lieben Mitmenschen nicht allzustreng ins Gericht gehn. Diesen Grundsatz gedachte sie auch jetzt zu beherzigen – und eine Art von stiller Wehmut ergriff sie.
Alles was recht ist – Sophie Boß war, abgesehn von ihren Eigentümlichkeiten und Schrullen, nicht nur ein ehrliches Mädchen, sie hatte auch ein gutes Gemüt und konnte mitleidig werden. Ja, sie wollte in ihrem Glück alle beglücken – auch Aleit, ihren Kanarienvogel, den Kugelkaktus. selbst den Herrn Notariatssekretär Knippscheer, dem sie allerdings, hinsichtlich ihrer eigenen Person und des erhofften Ringes wegen, nicht mehr zu helfen vermochte. Das war sie nicht nur ihrem eigenen Selbst gegenüber, sondern auch Gert Liffers schuldig, und daher, so schwer es ihr auch ankommen mochte: der Herr Notariatssekretär Knippscheer mußte eben in den sauren Apfel beißen und sich anderweitig vertrösten. Aber das wußte sie jetzt schon: sie wollte ihm stets ein treues und liebevolles Andenken bewahren. Und Aleit? – Um Gott nicht, die Ärmste! – Ihr gegenüber war sie aus einem Saulus ein Paulus geworden. In ihrem Siegesbewußtsein, bei ihren Liebestriumphen sollte auch die nicht zu kurz kommen. Sie wollte ihr alles vergeben, alles vergessen. Selbstverständlich mußten die neumodischen Hemden schneideriert werden; allein sie gedachte noch ein übriges zu tun, um die Sache so opulent wie möglich zu machen, Blauseidene Bändchen mußten zur Hebung des Ausschnitts partout angebracht werden, das gehörte sich nun einmal für die Frau des Fingerhutshöfers, und die Spitzen hierzu wollte sie aus ihren eigenen Mitteln spendieren. Ja, glücklich, glücklich sollte die Ärmste werden, glücklich wie sie. Sie konnte überhaupt keine traurigen Gesichter mehr leiden, und auch bei Gelegenheit ihrer demnächstigen Hochzeit mußte die Aleit dabei sein. Und an ihrer Seite sollte sie sitzen, und aus demselben Glas sollte sie trinken – und wenn sich die Gelegenheit böte: sie konnte sich auch hierzu verstehen und ihr den Versöhnungskuß geben. Und wenn Aleit es wünschte: gut, sie hatte nichts dagegen zu sagen – auch ihren Mann durfte sie küssen.
Hiermit glaubte sie ihre Glückseligkeitsbetrachtungen endgültig beschlossen zu haben und quittierte mit einem tiefen Seufzer. Dabei schickte sie einen innigen Blick zu Gert Liffers hinüber, glitt seligen Auges an seiner männlichen Forsche herunter und dachte: »Alles Dir zuliebe, mein Engel – und unsre Pantoffeln . . . Ach, Du mein lieber Herr Jeses . . .!«
Sie konnte das Übermaß ihres unverdienten Glückes nicht fassen. Sie zog das schwarze Pelerinchen enger zusammen, beugte sich vor und versuchte zu beten. Was zu viel ist, ist nun einmal zu viel; zu viele Bongbongs schaden dem Magen. Der Mensch kann nur eine gewisse Portion von Leckertäten vertragen. Sie mußte auf andere Gedanken kommen und ein Gegengewicht haben. Sie dachte deshalb an die Leidensgeschichte des Herrn, sie ließ sich die Marter von diversen Blutzeugen durch den seligen Kopf gehn, um ihren Gedanken 'ne andere Wendung zu geben – aber wie sie auch grübeln mochte, sie brachte keine andere Stimmung zuwege. Immer schöner, rosiger, einschmeichelnder gestalteten sich die Farbentöne auf ihrer Zukunftspalette. Die schrieen nach dem Papierbogen und wollten vertuscht sein. Erst malte sie an ihrem Hochzeitstage herum, dann nahm sie die Einzelheiten ihres häuslichen Glückes vor, und zwar der Reihe nach und den Jahreszeiten entsprechend. Sie war bis zum Winter gekommen. Ach, wie das schön tat! – Draußen war's schummerig. – Das Thermometer zeigte achtzehn Grad Kälte. Es fror die Spatzen vom Dache herunter. – Jetzt kam ihr Männchen nach Hause – ihr einziges Männchen. – Tag, liebes Gertchen! – Die Deichgräfenstiefel mußten herunter und durch angewärmte Filzpariser ersetzt werden, dann ward's erst gemütlich. – Ein Fidibus stand schon parat, und die Pfeife war fertig. – 'ne Buddel Warmbier kam, auch 'ne duftige Schüssel mit Grundbirnen und Rindfleisch. – Im Kanonenofen begann es zu knacken – und die Bratapfel quietschten – und sie saßen beide zusammen wie die Distelfinken im Rübsen . . .
Und denn . . . ?!
Unwillkürlich schob sie ihre Hand vor die Augen.
Und denn . . .?!
Sie genierte sich sichtlich, gab sich aber 'nen Ruck und tuschte dann weiter. Ja – und denn war es spät Abend geworden, und der Nachtwächter tutete draußen – und ihr Männchen sah nach der Hausuhr, die immer so gemütlich tickte und tackte, und meinte: Na, Sophie, wie wär's denn? – Und dabei zwinkerte er mit seinen treuen Augen verliebt ins Nebenzimmer. Na, und was ihr Männchen wollte . . . Sie war doch 'ne brave und christkatholische Hausfrau und konnte nicht anders. Und der Nachtwächter tutete wieder – und dann hörte sie nichts mehr. Es war um sie her so angenehm düster geworden. Nur der Mondschein tippte mit scheuem Finger ins Zimmer . . .
Nein – sie hörte absolut nichts mehr, kein Sterbenswörtchen, kein Jota. Sie wußte auch nicht, daß die Predigt schon lange beendet; auch Präfation und Wandlung waren spurlos an ihr vorübergegangen, und sie wurde erst munter, als der Segen mit hellem Gebimmel erteilt wurde, und der frische Weihrauch ihr erlösend in die Nase hineinkribbelte.
Jesus Christus, wo war sie . . .?!
Ein Geschlurf von vielen Schritten brachte sie dann ganz zur Besinnung. Mit einem Päckchen voll gesammelter Weisheit schickten die Leute sich an, nach Hause zu gehen.
Fast gleichzeitig machte sich in den vorderen Bänken eine starke Bewegung bemerkbar. Dort liefen die Menschen zusammen.
»Was gibt's da . . .?!«
»Das ist ja nicht zu mäntenieren – die Sache!«
»Ach, Du mein Heiland!«
Aleit van Laak war in Ohnmacht gefallen. Sie hatte soeben . . . und sie hatte ihn doch nicht mehr gesehen, seitdem er vor Jahren von ihr Abschied genommen.
Der Donnerjü fluchte.
»Gottverdomie, so ist eben das Weibsvolk! – Immer die Nerven!«
Ihr Gesicht hatte den Anschein des kalten Marmors erhalten. Blaue Äderchen lagen auf den leblosen Schläfen.
»Um Gott nicht!« entsetzte sich Sophie. Sie wollte ihr beispringen.
Aber ein Diakon war gekommen. Mit dessen Hilfe geleitete Barthes van Laak sein Weib in eine Seitenkapelle – und da gingen Sophie Boß und Madam Mömmes nach draußen.
Auch Gert Liffers hatte in Gemeinschaft mit dem jungen Lehrer, der von der Orgel kam, die Kirche verlassen. Sturm war in ihm. Noch immer klangen ihm die Worte zu Ohren, die der Dechant zum Schluß seiner Predigt gesprochen. Er wiederholte sie tonlos.
»Und wehe dem Manne . . .«
»Herr Deichgraf, was meinten Sie eben?« fragte der Lehrer.
»Nichts,« sagte Gert Liffers, aber ihm war so, als müßte er zusammenbrechen unter der Last seiner Qualen, Jetzt wußte er, daß es Kampf geben würde. Die Wundmale seiner großen Passion begannen von neuem zu bluten.
Und draußen . . .?!
Da standen die beiden Freundinnen und ließen die Kirchengänger einzeln Revue passieren.
Aber Gert Liffers kam nicht. Er hatte das Gotteshaus auf einem Seitenwege verlassen.
»Er betet noch,« tröstete sich die Nähterin und beobachtete weiter. Sie würde ihm schon zu Hause begegnen, und das wäre schicklicher und feiner, als hier auf der Straße seine Gefühle zur Schau zu tragen.
»Das is nobel von Ihr,« meinte die Dicke, »ein ordentliches Frauenzimmer hält auf Turnüre,« stellte ihr violettes Umschlagetuch in die rechte Beleuchtung und sagte: »Nur so Potiphare und ähnliche Menscher poussieren am hellichten Tage un vor Gottes offenem Tempel. Mamsell Boß, ich muß Ihr meine Wertschätzung dartun. Sie hat den richtigen Plie un 'ne seine Erziehung, un das is immer bekömmlich im Leben.«
»Das ist es,« bestätigte die Laken-Sophie und deutete auf den Spezereiwarenhändler, der sein Fahrrad, das er während des Gottesdienstes innerhalb des Portals deponiert hatte, mit einem fröhlichen Zungenschnalzer bestieg und wie ein brausender Sturmwind davonfuhr.
»Bricht auch mal den Hals,« entsetzte sich die würdige Dame und schlug die Hände zusammen. »Mein Zeit nich, die verwogene Mannswelt . . .!«
Und wie sie das sagte, da ging der Herr Notariatssekretär Knippscheer vorüber. Mit einem großen Gebetbuch unterm Arm und ein tiefes Leid unter der frischgebügelten Weste, suchte er einen Blick von seinem holden Traum zu erwischen. Über sein hageres Gesicht spielte eine tiefgründige Wehmut.
Sophie jedoch hatte die Augen zu Boden geschlagen. Die Dicke ging ihr mit einem sanften Stups unter die Rippen und kicherte leise.
»Ich kann ihm nicht helfen,« meinte die Lange, »ich kann ihm nicht helfen . . .!« und erzählte dann, um dem Gespräch eine andere und weniger verfängliche Fahrbahn zu geben, daß sie sich nach reiflicher Überlegung dennoch entschlossen habe, die opulenten Hemden für Aleit zu nähen und in kurzem fertig zu stellen.
»Wa . . .! – Die ohne Ärmels . . .?!«
»Ja,« sagte die Lange verlegen.
»Also doch Freundschaft geschlossen?«
»Aber nur meinem Deichgräf zuliebe.«
»Um tausend Gottes willen!« machte die Dicke und hob ihre ›Blüten der christkatholischen Andacht‹ gen Himmel, »Mamsell Boß, das bin ich nich kumpabel in meinem Kopp zu begreifen!«
»Tut nichts, tut nichts,« fiel ihr Sophie dazwischen, »das kommt schon noch alles . . .« und dann mußte sie wieder an ihr unbändiges Glück denken, an den Deichgräfen und die diversen Orakel. Wie ein Frühlingsbrausen ging es über sie her. Sie hätte springen mögen wie so'n blutjunges Zickchen zwischen Himmelsschlüssel, Butterblumen und Salbei – und über Wiesen und Bach fort. Sie hielt sich nicht länger.
»Ach, liebe Frau Mömmes, ich muß Ihr was sagen. Auch die Babbeltjes-Lena . . .«
»So?!« machte die Dicke und zog das ›So‹ in die Länge, als wäre es ein handliches Knäuel Wollgarn gewesen, das wieder aufgesträhnt werden sollte.
»Ja – aber nicht hier, Madam Mömmes. Heute mittag beim Kaffee . . . Ich bitte Sie höflichst. Nur nicht konträremang sein. Die Babbeltjes-Lena kommt auch. Ich gebe mein feinstes Geschirr und nußbraune Waffeln zum besten. Und das kann Sie mir glauben, Madam Mömmes – alles präsentier' ich auf meinem neuen Tablett von pfundschwerem Silber.«
»Neusilber, Neusilber!« warf die Dicke dazwischen.
»Wollt' ich auch sagen. Neusilber, meine liebe Frau Mömmes.«
»Schön,« sagte die behäbige Dame, und in aller Eintracht gingen die beiden nach Hause.