Joseph Lauff
Frau Aleit
Joseph Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX Frühlingssturm

Die Blätter waren inzwischen von den Bäumen gefallen. Die Nächte längten sich, und die Tage drückten schon um die fünfte Mittagsstunde schlummermüde die Augen zusammen. Die Windmühlen standen wie Giganten im Nebel. Der Herbstwind kam ihnen zu gunsten. Unermüdlich stakelten sie mit ihren segelbespannten Armen so energisch durch die dicken Lüfte, als müßten sie stattliche Fetzen aus der dunstigen Masse heraussäbeln. Bis spät in die Nacht hinein leuchteten ihre erhellten Lukenfenster über die Landschaft. So ging es allnächtens. Es wurde mit Überstunden gearbeitet; die Mühlen hatten zu tun, alle Gänge waren in Tätigkeit, dem Mahlwerk wurden Wannen voll Korn ins Maul geschoben, aus allen Öffnungen drängte sich der mulmige Mehlstaub und stiebte hinaus, als müßte die Erde ein Teil von dem zurückempfangen, was sie in so verschwenderischer Weise ausgeteilt hatte. Über alles Erwarten war die Ernte gewesen. Besonders beim Donnerjü; da hatte der Roggen weit über Mannshöhe auf den Feldern gestanden, und als die Lokomobile ihre Arbeit getan hatte, als die Fruchthändler kamen und ihre gespickten Lederportefeuilles herauszogen, um Zahlung zu leisten, wollte sich der Fingerhutshöfer nur durch harte Taler befriedigen lassen. Das sah mehr aus, präsentierte sich besser und gab der ganzen Bezahlungsaffäre 'nen kompakteren Anstrich. Papiergeld war ihm überhaupt aus tiefster Seele zuwider. Gold?! – na ja, aber am liebsten war ihm von jeher Silber gewesen. Das verlangte doch einen ordentlichen Raum, das konnte auch ein Blinder in Augenschein nehmen und ein Händeloser betasten – und so kam es denn, daß um Martini fünfundzwanzig handliche Geldsäcke in seiner schweren Eisenkiste Posto gefaßt hatten und seine Augen erfreuten. Und wie sie so standen, da war ihm der Hochmutsteufel noch mehr denn sonst in die Krone gefahren. Jetzt erst recht gedachte er, das verflixte Deichprojekt über den Haufen zu knallen, und wer es wagen sollte, den ersten Spatenstich auf seinem Grund zu riskieren, und wenn es selbst der König von Preußen beföhle . . . Prosit, Ihr Bauern! – er, der Donnerjü, wolle keinem verwehren, sich mit ihm ins Einvernehmen zu setzen; er solle man kommen, aber so viel sei sicher: lebendig käme er nicht mehr von seinem Grund und Boden herunter. Und mit diesem Hochmutsteufel behaftet, der aus allen Knopflöchern herausvigilierte, räsonnierte sich Barthes van Laak so allmählich in den Winter hinein, sah den schwarzen Vögeln nach, die durch den Nebel strichen, schimpfte auf Gott und die Welt, daß es im Advent nicht grünte und blühte und keine Spargelstangen durch die Erddecke stießen, und registrierte nur dann eine fröhliche Laune und ein herzhaftes Späßchen, wenn es ihm gelang, irgend einen liebestollen Pferdeknecht abzufassen und aus der behaglichen Mägdekammer zu räuchern. Das war nach seinem Geschmack, stimmte ihn fidel und ließ ihn für etliche Stunden die tödliche Langeweile der trüben Wintertage vergessen. –

Während all dieser Zeit war die Laken-Sophie nicht müßig gewesen. Ihrem heiligen Vorsatz getreu, eine aufrichtige und innige Zuneigung für ihre ehemalige Widersacherin im Herzen, war sie regelmäßig zu Aleit gepilgert, hatte großmütigen Sinnes die Spitzen und seidenen Durchziehbändchen spendiert und mit Aufbietung aller ihr zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte sich der etwas anrüchigen Hemdenfrage angenommen. Allerdings, mancher Seufzer war dabei mit untergelaufen, wurde als Fädchen durch die Nadelöhren gezogen und in die Leinwand gestichelt – denn Gert Liffers war noch immer nicht aus seiner Reserve getreten, um die angehäufelte Liebesspannung auszugleichen und endgültig zur Entladung zu bringen. Allein, wenn sie das Garn wachste und einzog, und die Lampe so behaglich in der Stube herumspielte, wenn der Wind da draußen durch die kahlen Pappeln sauste und die Wetterfahne bewegte, dann ließ sie sich auch angenehme und tröstende Gedanken durch den Kopf gehen und gestaltete sich die Zukunft nach ihrer Façon und nach ihrem Behagen. Und so saß sie denn eines Tages im Advent auf dem Fingerhutshof und schneiderierte, was nur immer das Zeug halten wollte.

Erster Faden!

»Noch immer hat er keine Kurasch gefunden,« sagte sie leichthin, »und der Inhalt meiner Gefühle ist ihm doch offenkundig gewesen. – Was bedeutet das alles? – Morgen vielleicht; ach, wenn es doch schon morgen wäre, mein Schätzchen! – Aber warum diese Prüfung, Herr, Du mein Christus?!«

Zweiter Faden! – Gleichzeitig begann es äußerst gemütlich im blankgewichsten Kanonenofen zu poltern.

»Tröstliche Stimmen im Leide!« meditierte die Lange. »Sie geben mir Einsicht, sie erleuchten mich, wie der heilige Geist die Jünger um Pfingsten erleuchtet – und Pfingsten ist Frühling. – Da liegt ja der Schlüssel von der ganzen Geschichte! – Paaren sich nicht auch die Turteltäubchen im Frühjahr? – Ach, und die Kätzchen! – Scheint ihnen der Maimond so behaglich über die langen Schwänze herunter, dann geht's los mit's Miauen – und was besagt das nicht alles?! Liebe, Liebe und abermals Liebe! – Pfingsten ist Frühling, und Frühling ist Liebe! – Gertchen, mein Gertchen, was du doch für'n poetischer Mensch bist!«

Dritter Faden! – Der Kanonenofen hatte ordentlich rote Backen vor lauter Freude bekommen. Glühende Kohlenpartikel huschten knisternd in den Aschenkasten, während der Wind immer luftiger wurde und in der vielfach gekrümmten Ofenröhre rumorte. Ab und zu muhuten die Kühe aus den nahgelegenen Ställen herüber.

»Wie gemütlich,« sagte die Lange und versenkte sich wieder in ihr wonniges Träumen. »Nun versteh' ich ja alles. – So'n Ausbund von Plie und seinem Benehmen und so'ne poetische Seele von Mannsmensch! – Gerne, gerne – ich kann ja warten, mein Liebling. – Er tut's ja, wenn die Buchfinken jungen und die gelben Butterblumen auf den Wiesen sich küssen. Ich kann ja warten, mein Liebling, und wenn ich drüber alt werden sollte. – Es ist ja so selig, zu warten . . .! – Ich bedanke mich auch hierfür – auch hierfür . . .

Mit ihrer gläsernen Stimme hatte sie fast wie jubelnd gesprochen, dann verstummte sie plötzlich.

»Na, Sophie . . .«

Begleitet von seiner Frau war der Donnerjü ins Zimmer getreten.

»Herr Barthes . . .

Die Laken-Sophie glaubte eine Erscheinung zu haben.

»Na, Sophie,« lachte der Fingerhutshöfer, »was soll's denn, und wem will Sie danken?«

»Gert Liffers,« stammelte die Lange, die noch so viel Einsehen besaß, um beurteilen zu können, daß sie zu lebhaft geträumt hatte.

»Gottverdomie – wofür denn?!«

In Verlegenheit fuhr sie sich über ihre straffgescheitelten Haare.

»Ach, Herr Barthes, er will mich doch nehmen.«

»Was will der Deichgräf?«

»Mich nehmen, Herr Barthes.«

»Sie Schneegans . . .

Sie hörte noch ein brutales Gelächter und wie der Wind mit kreischender Stimme um die Fensterläden einen heidenmäßigen Spektakel vollführte. Sonst hörte sie nichts mehr; auch vor ihren entsetzten Blicken begann es zu schwimmen. Die grünlackierte Petroleumlampe tat noch einen närrischen Hopser; dann war auch dieses vorüber.

»Sie Schneegans . . .

Noch einmal wollte sie das schändliche Wort wiederholen; es verlor sich aber, als hätte es sich selber gefressen.

Und draußen war das erste Schneegestöber niedergegangen. Die weichen Flocken fielen stetig und immer. Erst herumgetrieben im Wind, ungewiß wo sie hinfallen sollten, bettete sich schließlich doch Daune bei Daune. Lautlos vom Himmel gekommen, schichteten sich die einzelnen Sternchen lautlos zu einer mächtigen Spreite, die alles mit ihren bläulichweißen Tüchern bedeckte. Es ging stark in den Winter hinein – und als nach Wochen ein lieber Geist über das Schneetuch daherkam, da zogen Glocken hinter ihm her, und vor ihm begannen ebenfalls die Glocken zu klingen, und die Leute legten die Hände in den Schoß, sahen sich glückstrahlend an und sagten: »Nun ist es Weihnachtsabend geworden.« – Mit ›Prosit‹ und ›Vivat‹ wurde alsdann von der letzten Stunde des alten Jahres Abschied genommen. Am Dreikönigentage gab Lisbeth Mömmes 'ne splendide Punschbowle mit frischgebackenen Waffeln und sonstigen Leckertäten zum besten. Es ging hoch und fidel her, und andern Tages behauptete sie mit aller Bestimmtheit, die heiligen drei Könige aus Mohrland gesehen zu haben. Sie konnte sich noch aller Einzelheiten erinnern. Auch nicht ein Titelchen war ihrem Scharfsinn entgangen. Kasper und Melchior seien äußerst höflich gewesen, und Balzer, der auf einem großen Kamele geritten, habe ihr Grüße vom ägyptischen Joseph gebracht und ihr dabei des längeren auseinandergesetzt, daß es der Potiphar hundsmiserabel im Jenseits erginge. Und daß alles der Wahrheit gemäß sei, darauf wolle sie ihre erste heilige Kommunion nehmen und zwar unbesehn und auf Leben und Sterben.

»Schon möglich,« versetzte die Lange, als sie Wisserin wurde und sich über die, ihrer Freundin aufs neue zuteil gewordene Gnade des Himmels höchlichst erstaunte.

Die Babbeltjes-Lena hingegen faßte das Erzählte von einem ganz anderen Gesichtspunkt ins Auge. Die Alte war überhaupt sehr egoistisch veranlagt, ließ sonstige Propheten und Hellseher, vornehmlich die modernen, nur schwer zu ihrem Rechte gelangen, hielt dabei mit ihren kleinen, aber gepfefferten Bosheiten nicht hinter dem Berge und meinte unter Berücksichtigung des vorliegenden Falles: »Da hast Du mir, meine teuerste Sophie! So 'ne Bowle hat's in sich, un wer nich die richtige Forsche besitzt, so'n Pünschchen, ohne übersinnig zu werden, estimieren zu können, soll die Nase davon lassen. Un die Appelsinen, die unsere liebwerte Freundin in die Terrine gestippt hat, hat sie wohl für die heiligen drei Könige aus Mohrland gehalten, un was das große Kamel anbetrifft, so is Madam Mömmes wohl selber das Tier mit die zwei Puckels gewesen. Un damit will ich mir empfohlen halten – adjüskes.«

Mit leisem Gekicher schlurfte sie heimwärts. Ein wasserheller Tropfen fiel ihr von der geröteten Nasenspitze herunter. Und der Schnee zu ihren Füßen hatte das Ansehn von blendendem Zucker, und er hielt seine Weiße noch auf Wochen hinaus und zerfloß erst zu länglichen Streifen, als die Märzglöckchen mit ihren grünen Fingern das Erdreich durchstießen, um sich zu vergewissern, ob sie sich schon mit ihren zarten Nickeköpfchen herauswagen konnten. Um Okuli kamen die Vögel mit den langen Gesichtern ins Land, murksten und fielen ins Holz ein. Mit einem gleichmäßig trüben und düsteren Licht hatte das Frühjahr seinen Einzug gehalten. Dunstig lag es über der weiten Ebene, die nicht die geringste Hügelung aufwies und sich am Horizont wie eine schnurgrade Linie erstreckte. Nur von Deichen durchquert, schluckte sie unermüdlich die belebende Feuchte ein, die an lauwarmen Tagen in einem feinen Geriesel aus den niedrigen Floren sich löste. Grau in grau lag die Landschaft. Nur vereinzelt fiel ein Stück des entschleierten Himmels zur Erde. Und wenn es geschah, schälte sich so ein kleines Bild von Hoffnung und Frühlingsfreude aus der umdüsterten Fläche. Dann begannen auch die jungen Wintersaaten zu leuchten, sonnige Lichter gingen darüber hin, und die Weidenbäume streckten ihre Kätzchen hervor und hatten das Aussehn, als seien sie mit hellgrünen Tupfen über und über besprenkelt. Aber dem farbenfrohen Bilde war keine lange Dauer beschieden. Wie gekommen, so rasch zerging es auch wieder, dämmerte ein und ließ sich von grauen Regenfäden schraffieren. Dampfende Ackerpferde, mit klingelnden Kummetgeschirren angetan, zogen über die endlosen Furchen. Die Pflugschar blinzelte trüben Auges gen Himmel. Pathetischen Ganges wackelten die Krähen ihr nach, bohrten ihren grindigen Schnabel nach Engerlingen ins fettige Erdreich, bäumten dann auf und krahaten von hier aus über das niederrheinische Land fort. Allwärts Mühe und Sorge und Arbeit um das spätere Keimen. Die jungfräuliche Erde schickte sich an, in das Stadium des Empfangens zu treten. Sie erschauerte unter dem Hauch des befruchtenden Geistes und sah verschleierten Blickes nach aufwärts. –

Es war an einem Tag in der Woche, die Palmarum voranging. Über das Werden und Treiben hatte bislang die Ruhe des Todes gelegen. Senkrecht waren die Wölkchen aus allen Schloten gestiegen; auf den stillen Wasserkolken zeigte sich keine kräuselnde Furche. An diesem Tage aber tat sich der Sturm auf. Im grauen Regenmantel kam er gezogen und blies die schweren Pappelkronen, die eben einen zartgrünen Schimmer angesetzt hatten, gegen den östlichen Himmel.

Frühlingssturm in der niederrheinischen Landschaft . . .! – Und es war Abend geworden.

Vom nahegelegenen Wissel her bewegte sich eine hohe Gestalt über den Deich fort. Über ihr ging flatternd Gewölk, das fast den ganzen Himmel bedeckte; nur am tiefen Horizont ruhte noch eine zitrongelbe Fläche. Der Schattenriß des langgestreckten Ortes, von wannen der Mann kam, lag wie ausgeschnitten auf der seltsamen Färbung, in deren Folie sich schwarze Punkte auf und nieder bewegten. Es waren Dohlenvögel, die verspätet durch den stürmischen Abend revierten.

Der einsame Mensch war stehn geblieben und sah hochaufatmend in das gelbe Licht des ersterbenden Tages. Noch einmal blitzte es wie ein verheißungsvolles Leuchten dort auf, dann hatte der Sturmwind seinen Mantel darüber gezogen. Auch im Westen war es düster und florig geworden.

Der Deichgräf ging weiter.

Zu seiner Rechten gurgelten die rückgestauten Wasser des Rheines im Kalkflack. Sie hatten ihren Höhepunkt erreicht und stiegen nicht weiter. Für die Niederungen bestand in diesem Jahr keine Gefahr mehr. – Aber wäre es anders gekommen, hätte die zeitige Hochflut ihr tückisches Auge aufgesetzt und wäre nicht so lammfromm und friedlich gewesen – kein Zweifel, die Karte hätte eine verteufelte Volte geschlagen, die vielen die Augen geöffnet und manchen ohne Federlesens an die Wand gedrückt hätte. – Gewiß, der Fingerhutshof stand schon seit Menschengedenken auf der nämlichen Stelle und, abgesehen von etlichen Unzuträglichkeiten, war es ihm bei Hochwasserzeiten noch immer so leidlich ergangen. Allein, was sich früher als praktisch erwiesen und seinen Zwecken vollauf gedient hatte – eine veränderte Sachlage war berechtigt, das Bestehende aus den Angeln zu heben und es zum alten Gerümpel zu werfen. Und so hatte sich auch hier die Situation völlig geändert und erheischte, hervorgerufen durch die Durchschleusung des Kalkflacks, durch Verschiebung des Stromlaufs und die infolgedessen gezeitigten unvorhergesehenen Nebenumstände, eine einschneidende Deichregulierung, die, wenn sie damals als unbedingt nötig erkannt worden wäre, vornehmlich in Höhe des Fingerhutshofes hätte einsetzen müssen. Warnende Stimmen verhallten, und als der neue Deichgräf erschien, die schlummernde Gefahr aufdeckte, in sachlicher Weise seine Forderungen stellte und Vorschläge machte, da stieß er gleichfalls auf niederrheinische Köpfe, die nicht so ohne weiteres Hals geben wollten. Auch heute noch, bei Gelegenheit einer Geschworenensitzung im benachbarten Wissel hatte er vor tauben Ohren gepredigt und es nicht fertig gebracht, die Mehrheit der Stimmen gefügig zu machen und auf seine Seite zu bringen – und als nach Schluß der Sitzung noch der Donnerjü in die Wirtschaft hineinprotzte und zur Feier des unter den Tisch gefallenen Antrags 'ne Batterie langhalsiger Pullen bestellte und großmäulig entkorkte, da waren auch dem Deichgräfen Geduld und Langmut in die Wicken gegangen.

»So seid Ihr Bauern,« hatte er mit hallender Stimme gerufen, »und so seid Ihr von jeher gewesen! – Wenn's an der Zeit ist, dem Wasser für späterhin den Weg zu verlegen, dann habt Ihr keinen Pfennig im Beutel – aber zeigt's Euch die Zähne, rüttelt's an Scheunen und Pfosten, und steigt Euch die Not bis zum Kragen, dann freilich, dann wollt Ihr. Aber was hilft's noch?! – Euer Rindvieh: versoffen! – Eure Äcker und Wiesen: verschlickt und versandet! – und Mordio schreit Ihr. Treibt's weiter – und es kommt, wie ich sagte, – Wasser und Feuer treiben kein Späßchen, lassen sich nicht beschwatzen und durch Bordeauxflaschen halten. – Nur Auge um Auge, Zahn um Zahn heißt's bei diesen. – In Fesseln und Ketten mit ihnen, sonst sind sie wie reißende Tiere. – Kenn's aus Erfahrung, aber, Ihr Bauern, Ihr wollt nicht – und somit: ich verlasse die Sitzung.«

Und er war hinausgegangen. Und der Sturmwind war bei ihm und wehte ihm pfeifend den Mantel über den Deich hin.

Verfluchte Bestimmung: gegen Dummheit, Bosheit und Dünkel seine beste Lebenskraft in die Schanze schlagen zu müssen. Er hätte denen, die ihn gewählt, die Bestallung vor die Füße werfen, den Kampf aufgeben und die Gegend verlassen sollen, wo ihm die Erinnerung auf Schritt und Tritt die Kehle verschnürte. Hier hatte ihm die Sorge von Kind an eine treue Geleitschaft gegeben, hier hatte er gedarbt und gehungert und seine Mutter begraben, und als wirklich nach langer Entbehrung sonnige Tage kamen, die ihm ein Glücksreis aus der Erdkruste trieben, da wurde es noch vor seiner Entfaltung verhagelt und elend niedergeschleudert. Alles, was er zu besitzen geglaubt, was er ersehnt mit durstender Seele – war nichts mehr. Nichts mehr – denn er hatte sich und seine Liebe verloren. Und nun . . .?! – Sie war ihm von der Seite, aus seinen Armen, aber nicht aus seinem Herzen gerissen – und das war ein Unglück. Sie webte um ihn, sie lebte in ihm und machte ihm die Nächte zur Qual und die Tage zur Trübnis – und in dieser Verfassung noch ringen müssen, arbeiten müssen und an eine Sache seine Kraft legen müssen, die er als richtig erkannt, aber nicht durchbringen konnte, grenzte an Wahnsinn, und dennoch, weil die Geschworenen ihm zu ungunst gesprochen, den Kampf aufzugeben – das wäre Fahnenflucht von Wasser und Deichen und der ehrlichen Sache gewesen. Und die Deiche waren ihm ans Herz gewachsen und die Wasser desgleichen – und Fahnenflucht hatte nicht in seinem Militärpaß gestanden, und somit . . .

»Weiter kämpfen, weiter kämpfen!« sagte Gert Liffers und ging gehobenen Sinnes über den Damm fort.

Und seine Brust weitete sich. Der Frühlingssturm paßte so recht in die Gegend. Über das einsame Land ging seine majestätische Orgel; seine herrische Faust drückte die Wolken fetzenartig zu Boden, Und der Regen saß drin, und ab und zu begrüßte ein Schauer die verlangende Erde. Gert Liffers sah, wie die Pappeln sich duckten; er hörte ihr Ächzen und Stöhnen, aber er sah auch, wie sie sich nicht unterkriegen ließen, sich reckten und streckten und immer trotziger ihre niedergebeugten Wipfel erhoben. Sie peitschten verzweifelt und doch siegesgewiß gegen den Sturm an; also auch hier Kampf bis aufs Messer. Das gefiel ihm, das machte ihn heiter, denn was so armselige Pappeln vermochten . . .

»Also weiter kämpfen, weiter kämpfen!« rief er noch einmal, riß sich den Hut ab und ließ sich vom Brausewind die heiße Stirn umgreifen.

Es lag etwas Trotziges, Heldenhaftes in seiner Erscheinung, wie er so barhaupt und mit flatternden Haaren über den Damm schritt, den er stärken wollte, den er mit Klammern umgeben und dem er Zähne ins Maul setzen wollte, um besser dem Anprall des gierigen Wassers begegnen zu können. Und er fühlte, daß die wuchtige Erdmasse seine Gedanken erriet und sich mit ihnen einverstanden erklärte. Ein dumpfes Rumoren war in ihr. Es war wie das Pochen eines geängsteten Herzens.

Und neben ihm murrte das bleigraue Wasser, und über ihm zog es wie mit Fledermausflügeln, und vor ihm tauchten die dunstigen Riffe der kleinen niederrheinischen Stadt auf. Ihre markante Silhouette schob sich wie eine dunkelblaue Kulisse ins Vorland. Und näher zur Linken, mehr dem Innern zu, lag es wie ein zusammengekauertes Untier zwischen den Wiesen; auf unsichtbaren Tatzen schien es weiterkriechen zu wollen. Zwei schwache Lichtpunkte brannten wie Augen in der dunstigen Masse. Stetig gewannen sie an Helligkeit und gingen ins Weite. Und wo sie brannten . . . Ein breiter Fahrweg, rechts und links von alten Weidenstümpfen flankiert, führte von dort aus dem Deich zu. Der kauernde Schatten war höher gewachsen – und breiter und tiefer,

»Der Fingerhutshof!« stöhnte Gert Liffers.

Hier war es. – Das Untier da hinten hatte ihm sein Liebstes gefressen.

»Hier mußt Du mit blinden Augen vorüber; die Stätte ist tot für Dich, mit allem, was drin ist . . .«

Er preßte die Hände zusammen und drückte sie gegen die hämmernde Stirne.

»Wer klagt da – wer ruft da?!«

Keiner hatte gerufen, niemand, keine menschliche Seele; nur der Sturm, der Frühlingssturm klang ihm brausend, frohlockend und wie eine jubelnde Stimme zu Ohren.

»Das jauchzt noch und lacht noch . . .

Er riß sich die Brust auf, daß der Sturmwind hineinfuhr.

»Frühling im Lande, Frühling für alle! – aber hier ist kalter, frostiger Winter geblieben . . .«

Ein helles Gelächter ging über den Deich fort.

»Weiter kämpfen . . .

Er wollte vorüber.

Aber da stand ja Eine – wie ein Schatten und ohne Bewegung. Da war Eine – da war Eine . . .

Just an der Stelle, wo der Fahrweg an der Böschung emporkletterte und sich mit der Deichkrone vereinte – da stand sie. Und neben ihr war mageres Erlengestrüpp und ihr Gesicht ruhte wie ein weißer Fleck mitten im Dunkel, und der Wind blies ihr etliche Strähnen, die sich gelöst hatten, gegen den Himmel – und vor ihr . . .

Sie wollte sich von der Stelle bewegen – nur einige Schritte; der Sturm aber stieß sie zurück, als müßte er ein Begegnen verhindern. – Da breitete sie dem Manne beide Arme entgegen . . .

Ihre Nasenflügel bewegten sich krampfhaft; er fühlte die Sehnsucht in ihren brennenden Augen.

Er aber war wie gelähmt auf der Stelle und konnte nicht vorwärts.

»Du kennst mich nicht wieder,« sagte sie tonlos.

»Aleit . . .

Mit einem wilden Satz war er bei ihr. Er hatte seine Arme um ihren Körper geschlungen. Sein Gesicht stand über dem ihren. »Aleit, Aleit, Aleit!« rief er mit verzehrender Stimme. Kein Erinnern mehr, kein Bedenken und nicht das Bewußtsein, daß sie sündig geworden! Ihr Körper zitterte unter der jähen Umarmung. Der Taumel ging über sie hin; die Zukunft losch vor ihnen aus, wie ein erbärmliches Licht, das unter dem Einfluß eines plötzlichen Hauches veratmet. Kaum, daß sie sich im Dunkel mit ihren Blicken erkannten, kaum, daß sie wußten, wie alles gekommen . . . Keine Reue, kein Nichts mehr! – Endlich, endlich . . .! – Nur die Stunde beherrschte sie und brachte ihre Lippen mit glühender Inbrunst zusammen. Und im verzehrenden Kusse standen beide: zwei Menschen, zwei glückliche Menschen, um niemals glücklich zu werden.

»Gert . . .

»Aleit . . .

Und zu ihren Füßen lag das eingedunkelte Land, die niederrheinische Heimat, die weite Fläche mit ihren geworfenen Schollen und den dampfenden Wiesen, das Land ihrer Jugend, mit all seinen Träumen, mit all seinem Leid und all seinem Zauber. Und neben ihnen, da unten im Tief: der Fingerhutshof – der unersättliche Moloch, der alles verschlungen: ihre Jugend, ihr Lieben und all ihre Hoffnung. Aber die Stunde war wiedergekommen – noch einmal. In ihren Seelen war nichts mehr, als der Genuß des Augenblicks, der sie wieder vereinigt. Und um sie war Sturm, der Frühlingssturm der niederrheinischen Erde. Der riß ihr das Haar auf und warf es mit herrischer Faust auseinander und umstrickte ihn und sie wie mit schimmernden Netzen.

Und der Duft des Haares und der Hauch des Weibes war bei ihm.

»Und Du liebst mich noch immer?«

»Noch immer, noch immer,« sagte sie schaudernd und grub ihre Finger ihm tief in den Nacken. »Da siehst Du – warum bin ich denn hier? – Warum trieb's mich hier hin? – Und ich habe Jahre gedürstet – und Du bist wieder gekommen – und die Quelle lag vor mir – und ich durfte nicht trinken – durfte die heiße Zunge nicht kühlen und meine Sehnsucht nicht stillen – eine eiserne Kette lag um mich – die hielt mich bis heute – da mußte sie springen – und wie sie entzweisprang . . . Gert!« rief sie ängstlich, »Du verstehst das doch alles?«

»Alles . . .«

Sie sah ihn mit toten Augen an.

»Mich dürstet,« sagte sie leise. »Noch einmal an Deinem Herzen vergehn, das möcht' ich – noch einmal wie früher, dann nie mehr – nie mehr.«

Sie drängte sich an ihn; er fühlte ihren zitternden Körper. Sie hatte ihren Kopf nach hinten geworfen und die Lippen geöffnet. Ihre Augen dehnten sich maßlos. Ein grünliches Feuer spielte in den verschleierten Tiefen. Das brannte wie verhaltene Flammen, die losbrechen wollten.

»Glücklich werden . . .«

»Das sollst Du, das sollst Du . . .!« kam es von seinen zuckenden Lippen. »Mit Dir durch den Sturm gehn, über den Deich fort – das will ich. Immer weiter und weiter und ohne Ermüden. Sturmweib, hörst Du das Wasser?! – So hat es schon früher gegurgelt, so hat es schon früher geplaudert, da wir noch Kinder waren, da Du noch in Deinem Flechtenkrönchen umhergingst und in Deinen Holzpantoffeln geklappert. Sturmweib, nun sind wir älter geworden, ein Riß ist durch unsere Herzen gegangen; der kuriert sich nicht wieder, für den ist kein Kräutlein gewachsen, dem kann auch der niederrheinische Sturmwind nicht helfen, der doch alles heilt und den Flieder weckt und den kräftigen Hauch der heimatlichen Erde in die Nasen hineinbläst Aber noch eins kann er nicht – und soll er nicht können! Die Erinnerung kann er nicht aus unseren zerrissenen Herzen wehen und nicht das alte Lied verwischen und forttreiben, das wir einstmals als Kinder gesungen. Das nicht – das nicht . . .«

Er hatte mit hastigen und sich überstürzenden Worten gesprochen.

»Aleit, weißt Du von früher – aber das ist schon lange gewesen . . .«

Er schlug plötzlich einen sanften und ruhigen Ton an: »Und auf der Deichkrone sind wir gestanden, gerade wie heute, aber damals zwei Kinder – Du und ich, und die Erde hatte sich versteckt unter Kuckucksblumen und Primeln – und das alte Lied kam gezogen – hörst Du: gerade wie heute . . .

Helder op den Telder,
Botter bei den Feß;
Moder, maak de Döhr ens op
En kiek es, we dor es . . .«

Die letzten Worte wurden unter Tränen begraben.

»Damals,« schluchzte sie leise, umschlang ihn noch fester und inniger und barg ihren Kopf an seine Brust, als müßte sie dort den Herzschlag aus der Kindheit vernehmen.

So standen sie lange, aber sie sprachen nicht mehr. Sie waren Kinder geworden, die durch einen Märchengarten irrten. Und die Holztauben riefen von ferne herüber – und der Willewal wiegte sich wie ein schwefelgelber Federball von Weide zu Weide – und sie standen wie zwei verwunschene Königskinder mitten im Flachland – und sie hatten in ihrem Zaubergarten alles vergessen: die Welt da draußen, und daß sie älter geworden, und den Frühlingssturm, der über sie hinfuhr – und sie sahen auch nicht, wie sich unmittelbar neben dem Deich, aber weiter stromaufwärts, ein Licht aufgesteckt hatte. Trüb und dunstig flämmerte es aus der Ferne herüber. Es konnte nur zu einem bestimmten Giebelfenster gehören, denn sonst war kein anderes Haus in der Gegend. Gewiß saß Josias daheim und las in der Bibel. Aber plötzlich verschwand es, tauchte dann nochmals auf, um kaum wahrnehmbar über die Erde zu kriechen. Langsam bewegte es sich neben der Deichflucht. Es war noch weit entfernt, zitterte unstet hierhin und dorthin, als wenn es gälte, etwas Verlorenes wieder zu finden; dann haftete es für längere Zeit auf der nämlichen Stelle.

Jetzt sah es der Deichgräf.

»Du, Aleit . . .«

»Was denn?«

»Da hinten . . .«

»Wo denn?«

»Ah – Du! – Der Deichvogel ist lebendig geworden . . .«

Es schrie in ihm auf. Die ganze Wucht seiner Leidensgeschichte drückte ihn nieder. Mit einem dumpf abgebrochenen Laut befreite er sich aus der Umarmung des Weibes, das stöhnend zurückwich. Er wußte es ja: die kurze Spanne, wo er sie in seinen Armen gehalten, war eine sündige Spanne gewesen. Um dieses Weib war eine Hegung gezogen, und vor dieser Hegung stand ein Cherub mit flammendem Schwert . . .

Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib . . .!

Im Frühlingssturm waren sie zusammengekommen, im Frühlingssturm mußten sie scheiden für immer. Heulend fegte er die Fetzen ihres kurzen Liebesglückes durch die Sturmnacht und über den Deich fort.

»Hier sitzt was und ringt was,« knirschte er zwischen den Zähnen, »und das muß sterben in mir – und will doch nicht sterben . . .«

Mit einem häßlichen Lachen war er wieder an ihre Seite gesprungen. Wütend küßte er ihr Augen und Stirne. Hilflos war sie ihm preisgegeben.

Er tastete an ihrem Körper herunter.

Das Kleid klebte an ihrem fröstelnden Leibe.

Er fuhr ihr über die gelösten Haare.

»Und die sind mein einst gewesen . . .

Er hörte, wie ihr Herz gegen das seine hämmerte und pochte.

»Und das ist mein einst gewesen . . .

Er gewahrte ihre heißen Lippen, wie sie brannten und küßten.

»Mein einst gewesen – alles ist mein einst gewesen! – Und das soll ich lassen für immer?! Herr, Du großer Gott im Himmel da droben . . .

Der Ärmste hatte die Herrschaft über seine Sinne verloren.

»Entreißen will ich Dich dem Untier dahinten,« keuchte er mit verhaltenem Atem. »Die Kleider Dir vom Leibe reißen, das will ich, in die Kammer will ich Dich tragen, wo wir allein sind – allein sind, besitzen will ich Dich mit Leib und Seele und allem, was Dein ist, denn Du warst mir gegeben vor Gott und den Menschen . . . Aber, das ist ja alles ein Frevel, eine himmelschreiende Sünde . . .! – O, Du, Du, Du . . .

Und der Frühlingssturm preßte ihre Herzen zusammen, und durch sein Brausen lief eine warnende Stimme.

Sie hörte sie nicht – aber der Deichgräf hörte sie.

»Aleit . . .

»Was hast Du?«

»Nie mehr, nie mehr . . .«

Es war ihr so, als würde ihr der letzte Halt, das letzte Stückchen glücklicher Erde unter den Füßen genommen.

»Nie mehr,« hauchte sie schmerzlich. Machtlos, haltlos sanken ihr die Arme am Leibe herunter.

Jetzt riß sie die Augen auf.

»Wer ruft da?!«

Langgezogen, gespenstisch klang es aus der Ferne herüber.

»Kiwi! – Kiwi! – Kiwi!«

Ein herzzerreißendes Lächeln ging über ihr Antlitz.

Noch ein letztes Umfangen – ein Abschiednehmen für immer . . .

»Küsse mich noch einmal,« sagte sie fiebernd.

Und er küßte ihre Lippen – sanft und still, wie man das Allerheiligste küßt. Frei von jedem Gedanken an Sünde, rein und leidenschaftslos hatte er die Schuld, die er ihr eingeflößt, wieder von ihrem Munde genommen.

»Nie mehr, nie mehr . . .«

Ein scharfer Regen kam nieder; er durchnäßte sie bis auf die Haut und preßte ihr seine kalte Feuchte in die fliegenden Haare. – Und sie stand da noch immer – allein und mit trostlosen Augen. Tränen hatte sie nicht und konnte auch keine Tränen mehr finden. Ihre Gestalt zerflatterte, zerging im Grau der ziehenden Nebel. Sie wußte nicht, was sie hier oben noch sollte – und dennoch blieb sie auf der nämlichen Stelle, So stand sie noch lange. Allmählich kam ihr Erinnern zurück. Sie fühlte wieder, was sich in der letzten Stunde begeben, und wäre ein Licht auf ihre Züge gefallen, die wachsende Erregung des Weibes wäre darauf bemerkbar gewesen. Ihre Fingerspitzen krampften sich ein, ihre Arme hoben sich am zuckenden Körper. Verlangend streckten sie sich dem fernen Geliebten entgegen.

Aber er kam nicht mehr wieder.

Da – ganz in der Nähe das nämliche gespenstische Rufen von eben.

»Kiwi! – Kiwi! – Kiwi!«

Da wußte sie, daß sie vergebens hier weilte. Sie hatte nichts mehr, als das Bewußtsein an das soeben Durchlebte, und das war auch nur ein schönes Träumen gewesen. Jetzt war auch dieses zergangen.

Sie schloß die Lider mit einem unsagbaren Lächeln, das plötzlich auf ihren Lippen erstarrte.

Aber sie hatte Tränen gefunden; dann ging sie.

Im Weitergehen nestelte sie ihre aufgelösten Haare zusammen. Der Frühlingsregen prasselte stärker. Sie hatte den Hof erreicht. Der Hund wedelte ihr mit sanftem Gekläff freudig entgegen. Einzelne Knechte bewegten sich noch geschäftig zwischen den Ställen, Sie hatten der Kommenden nicht acht und gingen eiligst vorüber. Sie fütterten ab, um dann Feierabend zu machen. Einer von ihnen pfiff einen flotten Marsch, den er noch von seiner Militärzeit her kannte.

Im Herrenhaus zur ebenen Erde war Licht.

»Noch immer da,« sagte sie ängstlich, »und sie hat doch noch den weiten Weg nach Hause zu machen – die Ärmste! – Ich will anspannen lassen.«

Sie rief einen vorübergehenden Knecht an.

»Das Schäschen soll parat gemacht werden; Jöffer Boß soll nach Hause kutschieren.«

»Well!« sagte der vierschrötige Mensch und ging zur Remise.

Pfeifend setzte der Sturm über den Fingerhutshof. Die alten Pappeln wankten wie betrunkene Schatten im Nachtwind.

Aleit ging weiter. Als sie die Tür zum erhellten Hausflur geöffnet, trat ihr Sophie Boß bereits reisefertig entgegen. Sie trug ihr Nähkörbchen unterm Arm und hatte über ihr Pelerinchen noch eine warme Mantille gehaspelt. Ihr Gesicht aber hatte das Aussehn, als wäre ein Weißtüncher darüber gefahren.

»Mamsell Boß, was werden Sie denken . . .«

»Ich? – Gar nichts,« versetzte die Lange, sagte aber nicht, daß sie spioniert hatte.

»So spät – und ich hätte beinahe den Nählohn vergessen.«

»Macht nichts,« war die lakonische Antwort. »Sie können's mir schicken; ich will mich doch so wie so verändern.«

Aleit überhörte die versteckte Drohung, die sie aus dem Gesagten doch herausnehmen sollte.

»Mamsell Boß,« meinte sie kleinlaut, »ich habe anspannen lassen.«

»Für wen denn?«

»Für Sie.«

»Jesses – warum denn?!«

»Aber ich dächte – da draußen, bei dem Heidenwetter da draußen . . .«

»In 'nem Schäschen fahren, ist bei mir noch nicht Mode geworden,« versetzte die Lange.

»Mamsell Sophie, ich bitte Sie, bei Ihrer zarten Verfassung . . .Sie sollten sich schonen.«

»Ich? – Bei meiner zarten Verfassung – mich schonen? – Wieso denn? – Und Sie?«

Ein giftiger Blick glitt an ihrer Nase talabwärts, sprang von dort aus auf Aleit hinüber und kletterte langsam sondierend an dem durchnäßten Kleide herunter.

»Und Sie?« fragte sie noch einmal, indem sie ihren Hals soweit wie nur möglich aus Pelerinchen und Mantille herausstreckte. »Warum denn? – Wieso denn?«

Ihre gläserne Stimme schlug um.

»Schmeißwetter ist Schmeißwetter!« schrie sie fast kreischend, »und wo Sie gestanden haben, da kann auch ich gehen und stehen, und wo Sie keine Bange gehabt haben, da brauche ich erst recht keine Bange zu haben, denn hier sitzt – Gott sei gedankt! – noch ein reines Gewissen. All mein Lebtagens bin ich 'ne reputierliche Jungfer gewesen – und wer in der Lage ist, das noch als Frau zu behaupten, der kann sich einmachen lassen . . . Das wollte ich sagen und dann noch: in diesem Hause habe ich zum letzten Male geschneidert. Adjüs.«

Und damit ging sie ab, durch den Regen, mit ihrem Nähkörbchen, ihrem Hasse und ihrer Mantille – ließ Schäschen Schäschen sein und nahm einen Schritt an, der sonst nicht zu ihrem Metier und ihren Eigentümlichkeiten gehörte. Ruhig, aber feste und mit aller Bestimmtheit stapfte sie ihren Ärger in die aufgeweichten Geleisespuren hinein, daß ihr die lehmige Matsche und Patsche bis über die Waden – ach, Gott! sie hatte ja keine – bis über die mit blauen und weißen Glasperlen bestickten Strumpfhalter hinaufspritzte. Und auf dem rechten Strumpfband stand ›Gedenke mein‹ geschrieben, und auf dem linken ›Üb' immer Treu und Redlichkeit‹, und über diese sinnigen und schönen Devisen legte sich nun erbarmungslos die ekelhafte und dreckige Feuchte des Fingerhutshofes. Auch egal! – So'n richtiger Ärger muß Ableitung haben – und so stapfte sie weiter, daß ihr die Spritzer immer toller um die Beine hofierten. Dem jedesmaligen Auftritt folgte ein langgezogenes Schnalzen und Schmalzen, ungefähr so, als wenn eine Kuh ihre Hufe aus einem saftigen Modder herauszieht – und als in aller Herrgottsfrühe der Donnerjü von seinen Triumphen und fünfundzwanzig Bordeauxflaschen, die er in Gemeinschaft mit seinen Kumpanen geleert hatte, heimkehrte, als er alsdann übernächtig und stieren Auges die seltsamen Spuren bemerkte, war er des berechtigten Glaubens, sein Leib- und Magenbulle habe über Nacht auf eigene Kappe Leine gezogen und sei feldeinwärts gestiefelt. – Und die Laken-Sophie war voran getrieben – und Aleit war in die Kammer gegangen und von hier aus an das Bett ihres Kindes.

Hastig griff sie in die Kissen hinein und tastete nach der Hand ihrer Kleinen.

»Threschen, hilf mir, schütze mich, erbarme Dich meiner . . .

Wimmernd brach sie in sich zusammen.

»Mutter,« sagte das Kind und legte die Ärmchen um den Hals seiner Mutter.

Dann ward es still in der Kammer.

Draußen gingen inzwischen die Frühlingsstürme ums Haus und weckten mit Brausen und Sausen das schlummernde Leben, aber was tot war, vermochten auch sie nicht mehr ins Leben zu rufen.

 


 << zurück weiter >>