Heinrich Laube
Reisenovellen - Band 6
Heinrich Laube

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Weimar.

Die deutschen Städte sind zum Theil so familienmäßig geschlossen und eitel, daß es immer ein Risiko bleibt, über sie zu schreiben; alle kokettiren die Jungfräulichkeit, halten es für unredlich, aus der Schule zu schwatzen, halten sich für beleidigt, wenn sie besprochen, das heißt, wenn sie nicht blos gelobt werden.

Es ist dies ein Rest unsrer keuschen Nationalität, dem viel Achtbares zum Grunde liegt, aber er ist heutiges Tages übel dran: wir wollen nicht hoffen, daß mit dem Geheimnisse, was von den Zuständen herabgerissen ist, auch alle Diskretion 109 verloren gehen werde, aber es ist wahr – man braucht heut viel mehr Dreistigkeit, um erträglich und ohne häufigen Aerger zu existiren.

So ist Weimar noch immer sehr blöde, obwohl es so lange Zeit der Hof unserer Literatur war. Vielleicht kommt aber just die Blödigkeit daher: von jenen Notabilitäten, die in Weimar wohnten, sprach man nur mit abgezogenem Hute, und ein Theil des Complimentes kam immer an Weimar mit; so ist's an Courtoisie gewöhnt, und der einfache Historiker fällt ihm schon auf. Weimar war aber immer unschuldig, auch unschuldig an unsrer Literatur.

Ich bin immer sehr gern dort angekommen: es ist mir stets ein so reinliches, saubres, friedliches, zur süßen Beschaulichkeit aufforderndes Städtchen erschienen, wie nicht leicht ein anderes.

Auf der großen Straße von Leipzig her sieht man Weimar nicht eher, als bis man gegenseitig das Weiße im Auge erkennt, auf den Höhen vor der Stadt lagert sich nämlich laubgrünes Gehölze, das sogenannte Webicht. Dieser frische, junge Wald 110 ist von Alleen durchschnitten, durch ihn und an seinem Saume laufen Wege für Karossen, Reiter und Fußgänger, die Heerstraße bildet den äußersten Rand. Die Stadt ist dicht in der Nähe, man vermuthet sie aber nur der Spazirenden wegen; das duftige grüne Waldleben hängt wie ein grüner Schleier vor den kleinen, begierig gesuchten Büchern der Cotta'schen Buchhandlung, dem Don Carlos und Faust, denn unter Weimar denkt man sich zunächst Schiller und Goethe, etwas Anderes nur nebenher. Ich war indeß schon vernünftiger – ein rother Leibhusar reitet am Waldesrande, ein Hofwagen, welchen die renommirten Isabellenpferde ziehn, schaukelt vorüber, man kommt in die Illusion des Arthusschen Hofes, wie sie mir in Tiefurt genaht war, es öffnet sich der Blick nach dem Thale, und dicht vor uns wie ein lieber, blauer Friede liegt die Stadt.

Hier kann nur Glück und stille Freude wohnen, denke ich stets bei der Ankunft; solch einen behaglichen Eindruck macht mir immer der blaugedeckte, thüringische Thurm, das Durcheinander der 111 Häuserdecken, das anspruchslose Schloß, von Wasser und hängenden Baumzweigen auf der einen Seite begränzt. An einer klappernden Mühle führt der Weg in die Stadt vorüber, und die klappert so Hermann- und Dorotheisch!

Noch reizender, wenn auch nicht eben anders ist der Anblick, wenn man vom Ettersberge herunterkommt, wo Napoleon einst eine große Jagd gehalten. Er liegt nach der güldnen Aue zu, der Ettersberg nämlich, das heißt der Richtung nach in jenes auf- und abwiegende gedeihliche Hügelland, aber nur eine Stunde von Weimar entfernt, einer der kecksten dieser Hügel. Wenn man von dort Weimar im hellen Sonnenscheine liegen sieht, so gesammelt, blau und freundlich, gehoben durch die heitere Berglehne, so findet man wohl, daß sich die Literatur hier in der Mitte von Thüringen zwar nicht pittoresk oder verführerisch, aber doch ganz artig angesiedelt hat. Eine neue Chaussée läuft schnell hinunter, und erhöht den Eindruck bequemer und doch genügend romantischer Lage.

112 Will man sich diese Romantik erhalten, so fahre man gleich wieder auf der andern Seite aus der Stadt, die Allee nach Belvedere entlang, da gibt es Landhäuser von Dichtern, man kann weiterhin Busch und Wald suchen, und braucht nicht wieder umzukehren.

Die Ankunft ist die Hauptsache; es wird bald eine kleine Stadt, wo man in's Kasino, auf die Jagd gehen muß, um Abwechselung zu haben, und die Literaturgeschichte ist ihr größter Feind, weil sie Ansprüche weckt, für die Weimar selbst nicht kann, denn Weimar ist Weimar an sich, wie das Ding an sich, ohne Weiteres, ein offner Ort mit 8000 und einigen Einwohnern, worunter jetzt keine Dichter mehr sind, mit einem Gymnasium, mit einem Waisenhause, einem Theater, einem Hospitale, mit krummen Straßen und sonstigem Zubehör. Das is Weimer, wie die Leute sagen. Daß der große Weimaraner Karl August aus Nord und Süd die berühmtesten Deutschen hierher gerufen, daß diese so und so lange hier gewohnt und schöne Sachen 113 geschrieben haben, dafür kann man billigerweise Weimar nicht verantwortlich machen, der Ort selbst ist keine Fabrik berühmter Leute, der sein Geschäft sorglos betriebe.

Aber wer kann dem Gedanken und mit ihm der Anforderung und Atmosphäre unsrer letzten Literatur entgehn, wenn er in diesen klassisch gewordnen Ort tritt! Um jede Straßenecke sieht man Schiller und Göthe, Wieland und Herder biegen, Fußtapfen heiligen allerdings einen Ort, wenn das Gras des Ortes auch Gras bleibt. –

Mag es auch thöricht und unbillig sein, Weimar's Vergangenheit, die ihm noch dazu geschenkt, nicht selbst erzeugt war, seiner Gegenwart zum Vorwurfe zu machen, wenn sich auch historische Zustände nicht gewaltsam wiederholen lassen, es ist doch eine gerechte historische Forderung, ein verhältnißmäßiges Streben zu verlangen, sobald die Anregung so groß und so herrisch gewesen ist, das Erbe und Gedächtniß des Genies, was sich nicht nachmachen und ersetzen läßt, in angemessenem Schwunge und Stile 114 zu erhalten – dies ist die höchste historische Pietät, aus welcher hervor oft die prächtigste Befruchtung überrascht, und welche jedenfalls einen würdigen, hohen Luftkreis begünstigter Kultur rein und frisch erhält. Weimar sollte nicht seit dem Tode seiner Herren ganz und gar aus der Welt dieser Herren verschwinden: da die Kaiserkronen seiner literarischen Herrn, da alle die Reichs- und Herrschkleinodien unter die große schriftstellernde Zahl vertheilt, und nicht mehr an wenig größte Einzelne vererbt worden sind, so mußte just Weimar den Beruf fühlen, eine literarische Akademie Deutschlands in sich zu gründen, literarische Kongresse in sich zu versammeln. Der Tod geschichtlicher Größe soll keine Leichen machen, sondern Götter, deren Bilder nachwirken.

Wo sind Deine Bildsäulen Schiller's und Göthe's, du anspruchvolles Weimar, was mit geehrt sein will um Schiller's und Göthe's willen, wo sind sie? Zeige sie uns!

Du hast keine! Die Sonne und der Frühling und der fernher kommende Wanderer, den die Bücher 115 von der Ilm berauscht haben, sie alle finden sie nicht, die Göttergestalten; man muß die Lohndiener fragen, ob man hier recht sei am geheiligten Orte Deutschlands, an der Wohnstätte der Männer, um derentwillen das deutsche Wort gesucht wird von Petersburg bis Philadelphia.

Wenn ihr, wie jüngst, auf diesen Vorwurf erwidert, Weimar selbst sei das Denkmal, so ist dies eine hochtrabende Abgeschmacktheit, welche leerer Dünkel und dreister Unsinn geboren hat, und welche wir nicht gern dem Herrn Kanzler von Müller zurechnen möchten, der aus den Brief- und Lebensmittheilungen über Göthe höflicher Convenienz halber schon so viel gestrichen und unterdrückt hat, der einen just interessanten Theil des Knedel'schen Nachlasses kurz vor dessen sonstiger Publikation aufgekauft und den Druck desselben bis jetzt vergessen hat. Höfliche Rücksicht, für die eine Höflichkeit gewonnen wird, ist nicht die Hauptsache und würdigste Beziehung, wenn man über die Verlassenschaft von Heroen zu verfügen hat.

116 Literarische Größen jetzt an einem Orte zu vereinigen, würde allerdings in diesem Augenblicke von der größten Schwierigkeit sein, wo die Literatur so tief und oft so schmerzlich in's Mark der eigentlichen Gesellschaft eingedrungen ist, wo Neutralität nur unter den feinsten Bedingungen zu wünschen, und so überaus schwer zu finden wäre. Daß Aehnliches nirgends versucht worden ist, bleibt übrigens sehr befremdlich bei dem Vorwurfe, die Literatur habe sich allerwärts mehr oder weniger in republikanische Sympathien eingelassen: die Berührung mit einem Hofe, nur ein näheres oder ferneres Verhältniß zu demselben ist ja der Erfahrung nach ein so spezifisches Mittel bei solchem Zustande, und der Hof mit seiner Form, seinem Reize, seiner leichten und geschmückten Fessel ist ja in Spanien und Frankreich ursprünglich dafür erfunden worden, das in irgend einer Weise Wiberstrebende dadurch zu bannen, daß es in die neutralen Interessen eines glänzenden Mittelpunktes zusammengedrängt wird. Die Granden Spaniens und die Seigneur's Frankreichs, 117 welche von vornherein die hartnäckige Opposition der Monarchie waren, sind durch die Höfe von Madrid und Paris beruhigt und besiegt worden.

Warum versucht man es nicht, die hartnäckige Literatur durch einen Hof zu geschmeidigen?

Wollt Ihr ermessen, was aus dem Genius Göthe's, Schillers, Herders geworden wäre, hätten sie nicht Zugang und Lohn und Reiz und Verpflichtung bei der Macht und Herrschaft und beim Glanze derselben gefunden? Jeder Genius ist von Hause aus revolutionär, weil er erfinderisch und schöpferisch ist; die Aufgabe der Mitwelt ist es eben, diesen Ausdruck in gemessener harmonischer Verbindung mit dem Bestehenden zu erhalten, und dies geschieht eben dadurch, daß man ihn in die Vortheile und Lockungen dessen, was herrscht, hineinzieht, damit er aus ungestörtem Herzen, und somit unstörend das Neue schafft und erfindet. Wessen Geist sich nie hinausgewagt hat, um das bestehende Gesetz, die herrschende Sitte vom isolirten Hügel der ungebundenen Eigenthümlichkeit anzusehen und 118 zu prüfen, die Rechte des Verbotenen mit in die Wagschaale zu werfen, in sich den Versuch einer eigenen Gesetzgebung zu machen, der hat nie einen Genius besessen, und bleibt, bei aller Trefflichkeit, in Bezug auf die große Menschenfrage, bornirt.

Diese Wesenheit des Genius niemals feindselig werden zu lassen, das ist die Aufgabe des Herrschenden, und man muß einräumen, daß sie an den Heroen unsrer letzten Literaturepoche vortrefflich gelöst worden ist. Bedenket nur, daß jede noch so dreiste Frage damals im brennenden Frankreich Stoff und Spielraum fand, und daß außer Forster und einigen Geringeren kein großer Genius zur Rücksichtslosigkeit verleitet wurde.

Aber die literarische Bildung war neu, war überraschend, trat nur in Wenigen gebieterisch heraus, es war leicht, sie auszuzeichnen und zu ehren; man that es, die stolzen Worte, der »Dichter müsse mit dem König gehen« kamen auf, wurden geglaubt, die untergegangene Macht des Priesterthums ward den poetischen Priestern wenigstens titulariter 119 überreicht, und das an vielen Orten; einzelne Herrscher schrieben an's heilige römisch-deutsche Reich um Ehren und Würden und Adelsdiplome für Dichter und Schriftsteller, ein ausgezeichneter Fürst, eben in Weimar Karl August, verkehrte mit ihnen als mit den Erlauchten der Nation, Einzelne, wie Göthe, genossen seiner intimsten Freundschaft –

Das hat jetzt ein ganz anderes Ansehn: man sieht keine literarischen Granden bei Hofe mehr, dafür haben auch die kleineren Geister jetzt Speise und Trank, der Buchhandel ist thätiger geworden, der Buchhändler zahlt mehr, der Schriftsteller ist ein stolzes Mitglied des tiers-parti geworden, während es früher in seiner Klasse nur Seigneurs und Lumpe gab; aber die Schriftstellerei ist nicht mehr vergöttert, sie ist gesucht und gebraucht und gefürchtet und gehaßt, eine Usurpation benannt, und bei Lob und Tadel in ganz anderer Stellung als früher.

Man muß ein Mädchen nicht zu lange ignoriren, wenn man ihr Vorwürfe zu machen hat, sie sucht sich einen andern Liebhaber, und man bringt 120 die Verzeihung dann schwer an, und jedenfalls mit Opfern.

Aus all dem ist zu erkennen, daß des Fürsten Metternich Idee einer deutschen Akademie sehr gewaltig, und eines solchen Staatmanns vollkommen würdig ist.

Vereint die Literatur wieder, so weit es angeht, zu geschlossenem gegenseitigem Glanze, und sie wird Euch weniger zu schaffen machen, denn sie wächs't aus der Quelle, die zwischen Blumen sanft rieselt, und über Gestein und Hinderniß schäumend sprützt und braus't, sie wächs't aus Menschen.

Von dem Götheschen Kreise leben jetzt noch in Weimar von Müller, genannt der Kanzler, welcher viel Göthesches erwarten ließ, als der alte Herr starb, was jetzt gerade fünf Jahre her ist, Riemer und Eckermann. Jener hat die Schuld seiner Bekanntschaft durch Herausgabe des Zelterschen Briefwechsels, dieser durch Herausgabe seiner Gespräche mit Göthe abgetragen. So unbedeutend Eckermann's eigene Zugabe dabei ist, die nirgends über den 121 Lehrlingskreis hinausgeht, so dankbar hat das Publikum mit den prächtigen Mittheilungen Göthe's den Namen des kleinen Eckermann aufgenommen, und dies ist ein rührendes Beispiel, wie man als Fährmann einer großen Verlassenschaft auch sein Stückchen Ruhm gewinnen mag.

Ich weiß nicht, ob Stephan Schütz, der ebenfalls hier lebt, auch zum Goethe'schen Kreise klassifizirt sein will; die einfache, naiv-thatsächliche Manier, in welcher er vor Kurzem sein anspruchsloses Leben geschrieben hat, streift allerdings an diese Geschmacksrichtung; er ist aber der Einzige von dort, welcher zuweilen kopfschüttelnd in den Journalen sein Haupt erhebt, wenn von den Ueberschwenglichen Goethisches erzählt wird, und welcher immer wieder behauptet, Goethe sei nur ein Mensch gewesen. Ich habe im Theater eine kleine Figur mit dunklem, scharf markirtem Kopfe gesehen, und man sagte mir, das sei Stephan Schütz, der Herausgeber von »Liebe und Freundschaft,« der unermüdliche 122 Beförderer des Heitern und Komischen, und der Erkenntniß desselben in unser Literatur.

Auch lebt der bekannte Rationalist Röhr in Weimar als Oberhofprediger, und hält sich und seine Predigten sehr in Aufnahme, obwohl der Rationalismus übrigens sehr in's Hintertreffen gerathen ist, der Rationalismus von Paulus, Wegscheider, Röhr und Aehnlichen, der in den zwanziger Jahren blühte, und jetzt mit reicherer Ausstattung durch Strauß wieder einen Aufschwung erlebt hat. Röhr, mit einer handfesten Gesundheit und einem scharf sondernden Geiste begabt, predigt und schreibt noch rüstig. Zum Belege dessen citire ich eine Betrachtung der Schleiermacher'schen »Reden über die Religion,« welche er vor Kurzem in seiner »Kritischen Prediger-Bibliothek« gegeben hat. Diese, schon in vier Auflagen erschienenen Reden, die viel gelesen und bewundert worden sind, haben merkwürdigerweise nie eine gründliche Prüfung erlebt, obwohl sie schon seit mehr als dreißig Jahren im Publikum sind. Es war, als ob die Geistesgewandtheit, die 123 glänzende Stellung und scharfgewaffnete Kampflust des Verfassers einen schützenden Arm über dieses und sein anderes Jugend-Produkt, die lobpreisenden Briefe über Schlegels Lucinde, ausgebreitet habe. Jene sind bekanntlich neuerer Zeit neu abgedruckt und in den Lärm gedrängt worden, als worüber der Buchhändler, Herr Reimer, bei dem sie früher erschienen sind, sein Gutachten auf der Leipziger Börse abgegeben hat, wornach sich die deutsche Literatur erkundigen mag, wenn von der prächtigen Ausstattung Jean Paul's und Ritter's die Rede ist, welche ein Produkt desselbigen Herrn Reimer ist.

Jene »Reden« nun sind hier endlich zu einer Beurtheilung gekommen, die sehr scharf gerathen, und bei der zu bedauern ist, daß sie nicht, des Kritikers Absicht gemäß, zu Lebzeiten Schleiermachers bekannt gemacht worden.

Der Recensent will aus Schleiermachers eignen Worten folgern, daß dessen Religionslehre nichts anderes als Epikurischer Naturalismus gewesen sei, ohne persönlichen Gott, ohne Unsterblichkeit, ja ohne 124 Moral. Und das geschieht mit großem Scharfsinn und mit feinster Eindringlichkeit und Dialektik, wie eine Schleiermacher'sche Schrift nur verlangen kann. Und dabei bleibt der Recensent nicht stehen: er geht über das Buch hinaus, und sucht dessen Entstehung und Fortbildung aus der persönlichen Denkart Schleiermachers und aus dessen Geschichte zu erklären. Die Reden über die Religion sind nach ihm, gleich den Briefen über die Lucinde, ein übereiltes Jugendprodukt, bei dem der Autor indeß festgehalten worden, und das zu verwerfen und zu verläugnen er nie Muth und Entschlossenheit gehabt, dem auch vielleicht das dort Ausgesprochene noch in der letzten Zeit das Rechte gewesen sei, dessen Vertretung er nicht mehr habe übernehmen mögen. Mangel an Aufrichtigkeit, an frischem, offnem Sinne, dialektische Künstelei und sophistische Akkommodation sei ihm durchweg in der zweiten Hälfte seines Lebens vorzuwerfen. Dieser Angriff wird damit geschlossen, es sei die Tradition wohl zu glauben, daß Schleiermacher von Niemand eine geringere Meinung 125 gehegt, als von denen, die sich zu seinen Zöglingen zählten.

Wer hätte nun eine so aufrührerische Polemik aus dem stillen Weimar erwartet!

Ferner lebt der Oberkonsistorialrath Peucer hier, der frei und fröhlich an jeder Regung des literarischen Genius Interesse nimmt, und sich neuerdings wieder durch seinen Antheil an dramatischer Literatur hervorgethan hat. Endlich der rastlose Biedenfeld, welcher von der Bidassoa bis an die Beresina überall gelebt hat, von Napoleon bis zum Commissionsrath Cerf alle Notabilitäten gesprochen, unzählige Stücke und Bücher geschrieben, die Literatur aller Nationen gelesen, jedem Bekannten sich freundlich und gefällig bewiesen hat, ein unverwüstlicher Freund und Mann des Lebens, dessen Biographie ich schreibe, sobald er mir's erlaubt. Er hält sich seit einigen Jahren der Jagd wegen in Weimar auf, und ist auf der Durchreise begriffen.

Von Instituten ist das Museum als preiswürdigstes und eins der schönsten in Deutschland zu 126 nennen: die Literaten fehlen; dagegen ist ein Haus für Literatur errichtet; die Geliebte ist todt, begnügt Euch mit der Liebe, die ja noch was Besseres sein soll. Der Frau Großherzogin selbst, von der überhaupt eine sehr thätige und segensreiche Einwirkung ausgeht, verdankt dies Leseinstitut seinen großen Stil und die kostspielige Unterhaltung. Fast wie zu London im großen Lesekabinet, wo man für einen Schilling Entréegeld eine Cigarre und fast alle Journale der Welt bekommt, findet man hier ohne Schilling und Cigarre eine Lektüre, die in alle Länder und Branchen reicht. Daneben sind alle neuen Bücher ausgelegt und die besseren für die Bibliothek gekauft – das hat nun darum seine Schwierigkeit, weil merkwürdig genug in dieser alten Residenz unserer Literatur nur eine Buchhandlung ist, die auf ein ausschließlich Privilegium gestützt, die Bücher an sich kommen läßt, was man sagt: er läßt's an sich kommen. So wie auf unsern Gymnasien früher nur eine oder gar keine Stunde für deutsche Sprache gegeben ward.

127 Wenn man in Weimar neue Bücher kaufen will, so schreibt man nach Jena. So wie man von Merseburg nach Halle fährt, um gutes Merseburger Bier zu trinken; es wird erst gut, wenn es verfahren ist, und die Bücher sind interessanter, wenn sie verschrieben werden. 128

 


 


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