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Motto: |
Mein Hügel ist sanft und mein Berg ist grün, Mein Kuchen schmeckt süß, meine Linden blüh'n, Die Peitsche knallt Laut durch den Wald. |
Es wurde dunkel als wir den Berg nach Weißenfels hinunterfuhren; das Schloß am Berge leuchtete noch matt herüber in seiner stolzen Ruhe, lichtgelb mit blaugrauem Dache, ein stattlich Gebäude, bei dessen Anblick mir immer der dreißigjährige Krieg einfällt, dieser wüste Krieg, der mich oft an die Burschenschaften und Landsmannschaften in Deutschland gemahnt. Die einen schwärmen sich mühsam eine ideal nüchterne Tendenz in Sitten und Wünschen, die andern laufen roh dem herkömmlich materiellen nach, und beiden ist eine wechselnde, wilde Wirthschaft nach Wunsche. Mit solchem wirren 4 Studentenverkehr, wo beim Einzelnen oft kalt fanatischer Ernst zu Grunde liegt, und wo doch eigentlich Alles auf einen nie abreißenden Krieg, auf eine jeweilige Schlacht gestellt ist, hat jener ewige Krieg wirklich Aehnlichkeit.
Auf dem Schlosse zu Weißenfels hat Wallenstein in der letzten Nacht vor dem Lützner Schlachttage gewohnt, und die Sterne, welche jetzt über mir aufgingen, sie haben ihm damals Rede und Antwort gebracht auf seine Lebens- und Todesfragen; auf diesem Schlosse lag die Nacht darauf todeswund der wilde katholische Reiterführer Graf Pappenheim, welcher mit seinen Kürassieren noch am Abende der Schlacht von Halle herüber auf den Kampfplatz gallopirt kam, um einen donnernden Angriff zu machen, und den Todesstreich zu empfangen; in dieses Schloß brachte man den Tag darauf Gustav Adolph's Leiche, die mühsam unter dem Haufen Gefallener hervorgezogen, in deren Entstellung kaum der große Schwedenkönig erkannt worden war.
5 Solch eine Warte, ein Sterbehaus, eine Leichenkammer war dies Schloß damals zwischen zwei Sonnenaufgängen.
Hier bei Weißenfels fällt die große welthistorische Schlachtebene, die sich zwischen Halle, Merseburg, Leipzig und Lützen ausbreitet, die nur einmal in der Nähe von Schkeuditz ihre einförmige Fläche durch einen Abhang unterbricht, an dessen Fuße sie etwas tiefer, aber eben so gleichmäßig, Meilen weit fortläuft; hier fällt sie in Abhänge und Gründe, die Thüringer Hügel beginnen, und wachsen nach Süden hinauf zu Bergen. Schon von der großen Ungarschlacht an, welche Heinrich der Finkler auf der Ebene von Merseburg schlug, bis zu Napoleons Todestage in Deutschland sammelten sich hier immer die Heerhaufen zur Entscheidungsschlacht. Diese hier beginnende Hügelstraße über Naumburg, Kösen, Eckartsberga nach Thüringen hinein war auch besonders im letzten Kriege das wichtige Defilée, wo die Franzosen mit dem eigentlichen Norddeutschland zuerst in Waffenberührung kamen, wo 6 man sie oft in Gefahr brachte, und wo sie ihr gutes Glück niemals verließ. Einige Meilen weiter auf dieser Straße werden wir auf das Schlachtfeld von Auerstädt kommen, wo Davoust bei glücklicheren Dispositionen vernichtet werden konnte. Ferner: zu Anfangs des Feldzugs 1813, wo Napoleon mit der jungen Armee über Erfurt herunterkam, erhielt hier, am Ausgange dieses Defilées, die französische Avantgarde eine Schlappe, kehrte eiligst um, und floh durch Weißenfels und Naumburg zurück, hastig fragend: où est le chemin pour Paris? Das Hauptkorps drückte indessen die Zersprengten unablässig wieder vor, die Alliirten wehrten nicht mit Nachdruck den Zugang auf die Ebene, Bessières erschien mit den Garden eben auf der Fläche, leitete die Schlacht bei Lützen ein, und fiel. Zu Ende des Feldzugs 13 hatte die bei Leipzig geschlagene große Armee den Rückzug vor sich durch diese Passagen, der von einigen Abtheilungen der Alliirten bedroht wurde. Napoleon, um mehr Raum zu gewinnen, leitete einen Theil des Rückzugs eine nördlichere, 7 kleinere Straße entlang über Freiberg, der Hauptweg blieb aber diese Straße, und hier hindurch hat sich also die letzte französische Armee rückwärts gewälzt, welche auf deutschem Boden gewesen ist. Auffallenderweise ebenfalls weit glücklicher und unangefochtener, als man bei solchem Terrain und einer hinten und seitwärts drängenden Armee erwarten sollte.
Dennoch kann ich mich immer des Gedankens nicht erwehren, daß einmal ein Feind unsers Vaterlandes hier seine caudinischen Pässe, eine vernichtende Niederlage finden werde, und ich sehe den Feind besonders in dem großen Naumburger Kessel eingesperrt und erdrückt.
Hier bei Weißenfels begegnet man der Saale, diesem schwarzen schwermüthigen Flusse Thüringens, der aus der Frankenscheide über Saalfeld, Rudolstadt, der Leuchtenburg und Jena vorüber herunterkommt. Er durchschlängelt alle die Pässe, welche von hier aus den direkten Zugang zum südlichen Deutschland bilden, und tritt hier hinter Weißenfels 8 in die Ebene hinaus nach Halle und der Elbe zu. Auch er hat, wie alles Sächsische, kein Glück gehabt und seine Passagen nicht vertheidigt gegen die Franzosen, welche 1806 die beschwerliche Saalstraße heraus bis Jena und mit dem Seitenkorps über Zeitz und Naumburg kamen zur Doppelschlacht von Jena und Auerstädt.
Dies Mittelstück zwischen Süd- und Norddeutschland, Thüringen, das gehügelte und bergige, beginnt geographisch eigentlich hier. Die alte Grenze ist zwei Meilen weiter, eine halbe Viertelstunde hinter Naumburg: dort auf der großen Heerstraße nach Kösen ist ein kleines Brücklein, genannt die Schweinsbrücke, dies gilt für die alte officielle Grenze Thüringens. Es ist ein lieblich, freundlich Land, was mir stets sonnenbeschienen im Sinne liegt mit grünen Bergen, weichen Hügeln und freundlichen Bewohnern, die täglich Pflaumen- oder Apfelkuchen oder sonst eine Kuchengattung verspeisen. Weil der Kuchen in meiner Heimath etwas Sonn- und Feiertägliches ist, so hat mir Sachsen und Thüringen 9 stets etwas Geputztes: Sachsen leistet in der Kuchenbäckerei nur etwas weniger als Thüringen, wobei ich blos an zwei Vergnügungsorte bei Leipzig erinnern darf, welche ohne weitere Umstände der große und kleine Kuchengarten genannt sind. Die ärmste Frau bäckt mit dem Brode einen Kuchen, die Nationalleidenschaft heißt Kuchen, an der Heerstraße steht an den Gasthausschildern obenauf »Kuchenbäckerei«. Ich hatte eine lange Zeit das Glück, mitten im Schooße dieses nationalen Appetits zu wohnen, und alle Nüancen desselben alle Tage zu beobachten: in Kösen nämlich steht hoch am Wege das berühmte Hämmerlingsche Kuchenhaus, wo der leichtgeschürzte Pilger, der schwere Kärrner, welcher das Saumroß treibt, der muntre Handelsmann und das ernste Edelfräulein anhält, und einen Wink ausgehen läßt mit der respektiven Hand. Darauf erscheint ohne weitere Frage Bertha, die schalkhafte, mit demjenigen Kuchen, welcher eben an der Jahreszeit ist. Zu Fuß, zu Roß, zu Wagen wird er pausirend 10 genossen; das Haus liegt an der Straße nach Paris, der Postillon, welcher den Russen oder Franzosen vorüberfährt, hält still als Thüringer, und erwartet Bertha für sich und für die fremde Herrschaft, die oft mit Verwunderung den ohne Weiteres präsentirten Kuchenteller betrachtet. Wenn das Novellenschreiben träge ging, habe ich oft stundenlang den Reisenden zugeschaut, und ich wußte am Ende den Thüringer wohl zu unterscheiden, welcher mit größerer Sicherheit und vertrauterem Genusse das heimathliche Labsal verzehrte.
Manchmal hat mich der frevelhafte Gedanke überrascht, welchen kein Thüringer vergeben wird, ob diese weiche Kuchenleidenschaft schuld sei, daß dieses schöne, so wohl gelegene Land niemals einen herrschenden Moment in der Geschichte errungen habe; die Perser aßen Brod und Brunnenkresse, die Spartaner schwarze Suppe, die Russen lieben das Sauerkraut, und haben mit diesen strengen Nahrungsmitteln große Reiche und große Macht 11 gewonnen; Erfolge des Kuchens kennt die Weltgeschichte nicht, der süßeste Aepfelkuchen hat nichts ausgerichtet.
Es ist aber allen Ernstes auffallend, daß dies zur Herrschaft im deutschen Reiche so wohl gelegene Land nie eine derartige Bedeutung errungen hat. Es sieht aus seinem schönen Walde von Eisenach bis Coburg nach Süddeutschland hinab, und die Höhen seiner reizenden güldnen Aue winken lockend nach Norddeutschland hinein: es ist die Mitte unseres Vaterlandes, und außer dem unbedeutenden Pfaffenkönige Raspe, wenn der noch flüchtiger auftauchende Günther von Schwarzburg übergangen wird, hat es nicht einmal einen deutschen Kaiser geboren, noch weniger einen nachdrücklichen, oder gar ein Kaisergeschlecht.
Die Beziehung zum alten deutschen Reiche wird aber hier rege, wo man aus der nordöstlichen Ebene an die Berge und Thäler kommt, welche den Uebergang bilden zum alten, sogenannten Reiche. Jenseits, östlich und nordöstlich von diesen 12 Bergen, gab es nur Marken, Grenzländer, und wenn man hier von einer Höhe nach Norden hin die blauen Vorberge des Harzes sieht, da wird man an ein Kaisergeschlecht erinnert, was dort seine Burgen baute, die Bären jagte, die Wälder lichtete. Dies altsächsische Geschlecht hat allerdings viel herübergereicht in's thüringische Land, die Ottonen haben Naumburg, die Nauenburg, geschaffen, und in einer Ecke der güldnen Aue, hinter den Bergen von Bibra, in Memleben, viel verkehrt und gelebt, und sind auch dort gestorben; aber was wir dort Thüringen und Sachsen, oder mit dem gemeinschaftlichen Worte Sächsisch nennen, das hat in unsrer Reichsgeschichte keine herrschende Rolle gespielt. Was die Geschichte Sachsen nennt, und was manchmal heute noch mit dem Worte Niedersachsen bezeichnet wird, das war der Norden, das, was sich eine Zeit lang specieller über den Harz westlich hinüber bis an den Rhein zog. Was später Sachsen hieß, als das deutsche Reich mehr in Staaten überging aus Stämmen, war allerdings 13 ein abgezweigter Theil des alten Sachsen, der aber theils mehr und mehr ein abgesondertes eignes Wesen eines Mittelstaats zwischen Nord- und Süddeutschland erhielt, theils auch aus den Marken sich arrondirte. Seine Hauptstadt zum Beispiele, Dresden, bildete sich in dem Meißnischen Grenzlande, und stützte sich schon auf die mit Slaven vermischteren Lausitztheile. Aus dem allen bildete sich ein vermittelter und vermittelnder Staat, der sich in Sprache und Sitten vom alten Sachsen absonderte, und von Hause aus auf eine andere Existenz angewiesen war, als die ist, welche man eine in sich abgeschlossene und ruhende nennt.
Betrachtet man Sachsen von diesem Standpunkte, so findet man leicht die Gründe seines historischen Unglücks auf: Um zu gedeihen mußte es ein schöpferischer Staat werden, dahinaus ging aber nur das Wesen und die Tendenz eines einzigen Regenten dieses Hauses, des zu früh sterbenden Moritz; alle übrigen hatten ihre Existenz auf 14 ein Begnügtsein gestellt. Die Theilung in zwei Linien war ein zweites Unglück, welches die Kraft gebrochen hielt, und diesem prächtigen Lande, was von der schlesischen Grenze durch lauter gesegnete Gegend bis jenseits Langensalza mit entsprechender Breite hinausging, die Zukunft nahm. Die Eroberung von Schlesien, und alles Folgende, was einen mächtigen norddeutschen Staat bildete, wäre Sachsens Bestimmung gewesen, es versäumte und verlor sie, und Preußen, mit viel weniger Ausrüstung, übernahm sie energisch; alle Wechselfälle, welche eintraten, und denen der Sachse die Resultate des jetzigen Zustandes zuschreibt, sind zwar unwesentlich, ihr Ausbleiben hätte den damaligen sächsischen Staat vielleicht noch etwas länger gerettet, aber weiter nichts geholfen; nicht das Ereigniß entscheidet dauernd für einen Staat, sondern die Position, welche er gewinnt oder verliert. Die Position eines neuen Staatslebens, was aus dem verfallenden alten Reiche und in ein noch vielfach vereinzeltes Ländergebiet 15 eingehen sollte, ließ sich Sachsen entgleiten, und so verlor es sich selbst, denn der Staat, welcher nicht gewinnt, geht dem Tode entgegen.
Der allgemeine Charakter des Menschenschlages hat nun sicher auch auf das Schicksal des Landes eingewirkt, und ist auch umgekehrt vom Schicksale des Landes gebildet worden, wie beim Staatsleben Alles Gegenseitigkeit wird. Von dem Hauptstamme im Norden war man abgezweigt; und ein starker, ungeschwächter Ursprung konnte nicht fortwirken oder neu erzeugen; mitten im Binnenlande, was die Arbeit freundlich, aber nirgends luxuriös, lohnte, war man eingedrängt, ohne daß eine höhere, bewegende Staatsperspektive irgend welchen Schwung verliehen hätte: so entstand eine betriebsame, artige Nation, welche nirgends zu einer genialen Kraftentwickelung aufgefordert wurde, solchergestalt in eine achtungswerthe Gewöhnlichkeit hineinwuchs, und das Opfer größerer Kombinationen der Geschichte werden mußte. Das Vorgefühl dieses Bedrohtseins machte den von Natur freundlichen und höflichen 16 Sachsen listiger, weshalb man seine Höflichkeit oft für weniger aufrichtig hält, weshalb er auch wirklich zum Diplomatisiren, zu feinen, vorsichtigen Schritten im Welt- und Staatsleben am geeignetsten ist; daneben hat sich übrigens so viel herzliche Güte fortgepflanzt und ausgebildet, das Element des Fleißes und der Betriebsamkeit in Wissenschaft und Industrie hat sich so regsam, so fein und sauber in ihm fortgeschaffen, daß man des behaglichsten, besten Eindrucks gewiß sein kann, sobald man in den Bereich der jetzigen und früheren sächsischen Staaten kommt. Bis in das kleinste Städtchen findet man die heiterste Reinlichkeit, und das Behagliche eines wohlhäbigen Mittelstaates sieht man noch jetzt darin ausgedrückt, daß die Ortschaften gefegt, zierlich und lachend wie große Stuben aussehn; dies und die Nähe des Reichs kündigt sich damit an, daß man links und rechts in geringen Entfernungen eine Menge Städte, Städtchen und Ortschaften antrifft, und die kleine Existenz überall sauber und gerundet ist.
17 Den Sachsen selbst hat es nie an innerem Selbstgefühl und Nachdruck einer nationalen Eigenthümlichkeit gefehlt. Wie stark ihr sächsisches Bewußtsein war, hat sich beim Zusammenschmelzen in der letzten historischen Krisis gezeigt, sie waren so ärgerlich, wie eine Mittelnation nur sein kann, und besonders der Preuße war ihnen völlig verhaßt. Dergleichen ist natürlich bei historischen Kollisionen, und ein kräftiger Mensch hat stets das Bedürfniß, seinen Heimathsstaat groß und stark zu wünschen, widerstrebend in einen neuen Verband überzugehen; das Königreich Sachsen schmolz bekanntlich am ärgsten zusammen, aber es blieb doch eine Kompaktheit, und der Bewohner hatte einen ganzen, leicht faßlichen Gegenstand des Zornes; viel ärgerlicher kam das nationale Bewußtsein bei den kleineren sächsischen Staaten in's Gedränge, eben deßhalb wunderlicher und viel wunderlicher, dem Untergehn näher gerückt. Ich hab' es oft gehört, daß sich Bewohner aus den Herzogthümern für Bewohner des Königreichs 18 ausgaben, um in der Wärme des Nationalstreits mit größerem Nachdrucke Sachsen zu sein. Aber wie vielfach hat man seit dem Wiener Kongresse das Entschlummern solcher Pietätsunterschiede beobachten können! Der Vortheil und die Gewohnheit halten das Alte, und binden eben so das Neue, die Liebe verkohlt und der Haß wird Asche, neues Leben wächst über Wunden. Nur die Alten denken noch manchmal daran in Naumburg, daß ihre Stadt einst sächsisch gewesen; die herrschende Generation fragt schon manchmal: ist denn das wahr? Sie hat schon gar keinen lebendigen Bezug mehr darauf; ich ritt von jenem Orte eine Zeitlang täglich auf den nahen Knabenberg, welcher über Schulpforte liegt, weil dort neben der prächtigen Aussicht auch der einzige Reitplatz war. Er ist mit Bäumen eingefaßt, und man sieht's ihm an, daß er officiell angelegt ist; der erste Referendarius, welchen ich fragte – alle Spaziergänger, denen man dort begegnet, sind nämlich Referendarien – war ein geborner Sachse, er wußte nichts von dem Reitplatze; der zweite 19 Referendarius, ein Pommer, erzählte mir ausführlich, daß die sächsische Kavallerie da oben ihre Reitexercitien vorgenommen habe; ihn hatte es interessirt, weil er von draußen kam, und vielleicht noch ein nationalsächsisches Interesse voraussetzte; für den Sachsen hatte eine solche Erinnerung gar nicht mehr existirt. So steht in Leipzig nach dem Ranstädter Thore hin, unweit der Rosenthal-Brücke, ein verwitterter alter Meilenstein, wo noch die Städte Lützen, Weißenfels, Naumburg &c. als Landesstädte verzeichnet sind. Mich hat dies historische Denkmal oft beschäftigt, wenn ich im Vorübergehn die Städtenamen las; mancher Leipziger, dem dies Blatt vor die Augen kommt, wird sich besinnen, was das für ein Stein sei, er hat ihn nie bemerkt, oder beim Anblick desselben, selbst bei dem der Ortsnamen ist ihm nie eine politische Beziehung eingefallen – so zieht die Geschichte immer einen dünnen Schleier nach dem anderen über das Vergangene, bis die alten Dinge unleserlich und vergessen sind.
20 In Thüringen überhaupt ist alles Sächsische schon sanfter schattirt, der Accent ist nicht so auffallend sächsisch, der Menschenschlag, zwar auch noch wenig über die kleine Mittelgröße hinausreichend, wie sie in Sachsen vorherrscht, ist schon mannigfaltiger; die glatten, zierlichen Mädchen Sachsens sind seltener, das dralle Leipziger Jäckchen hört auf, und der kurze Kattunmantel beginnt, in welchen sich hier auch die ärmlichste Weibsperson hüllt; das Scheibenschießen, was durch ganz Thüringen allsonntäglich knallt, die Lohnkutscherei, die hier in vollem Flore steht, die Einspänner, die saure Milch treten als Eigenthümlichkeiten auf.
Dies muntre, richtige Weißenfels erweckt mir als ein halber Grenzort stets die thüringischen Gedanken, es ist ein kleines Leipzig, und gesellig wie ein Ameisenhäuschen; die sächsische Gesprächigkeit geht nicht unter, so lange die Sonne und der Schnee auf Weißenfels fallen, auf dies fidele, pensionirte Städtchen. Wohlfeil und leicht zugänglich zieht es 21 mit magnetischer Kraft die Pensionirten aller Stände an, man spielt Liebhabers auf Liebhabertheatern, man lies't französische Bücher, man hält Zeitungen, nur die »Allgemeine« nicht; man ist eine luxuriöse kleine Stadt und gar nicht blöde. 22