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Aus soundso vielen Gründen hielt ich mich diesmal in Breslau gar nicht auf. Es war noch alles in Ordnung: die einen lobten das Theater, die anderen tadelten es. Man nahm sich den Kaffee noch in Papier gewickelt mit, wenn man den Kaffeegarten besuchte, man beklagte sich wie sonst und wunderte sich darüber, daß kein ordentliches Journal bestehen könne. Man sagte noch immer, Breslau sei doch viel schöner als Berlin, und es werde wohl wieder regnen, wenn im Tempelgarten Illumination sein solle. Kurz, es war noch Breslau, eine große Stadt mit tüchtigen Lebenskräften.
Über Ohlau nach Neiße führte mein Weg. Ohlau steht wegen seines Tabaks, der von schlesischen Bauern verbraucht wird, in sehr schlechtem Gerüche. Übrigens gehört das hiesige Blatt noch zur Aristokratie unserer Tabakblätter. Der eigentliche jakobinische Knaster gedeiht in Wansen. Dieser Name reicht hin, eine Dame in Ohnmacht zu werfen.
Es ist eine stille, uninteressante Fläche bis Neiße. In einem kleinen Städtchen, das man passiert, war ein großer Brand gewesen. Ein umfangreicher Transport Pulver begegnete mir noch. Schwarze Fähnchen auf dem Wagen, vorreitende Soldaten, die Kutscher ohne Tabakspfeifen, ein bleicher Sonnenschein, in dem ein trockener, kalter Wind einherschlich, alles machte einen bleiernen Eindruck. Die Post schlich langsam im Sande dahin, und Neiße wollte immer noch nicht kommen. Endlich gewannen wir eine Anhöhe, die alte Festung und dahinter die Gebirgsanfänge zeigten sich. Die Luft erwärmte sich zum Regen, und wir gelangten durch viele Außenwerke in die Stadt.
Es war ein warmer, wolkiger Tag, als ich sie am andern Morgen in einer leichten Kalesche verließ. Nebel und Wolken machten das Gebirge vor mir unsicher und unromantisch. Aber es lag Elastizität in der Atmosphäre, und ich begrüßte mit Heiterkeit die österreichische Grenze. Dort warteten meine alten Bekannten von der Linie, die Herren Mautbeamten. Wir kannten uns auf der Stelle an den hübschen Zwanzigkreuzern, drückten uns die Hände und schieden in Eintracht.
Ich befand mich jetzt in dem Stückchen Land, das man in der Geographie »Österreichisches Schlesien« nennt. Das kleine Terrain, für das der Siebenjährige Krieg nicht hinreichte, ist zwischen Schlesien, Ungarn, Mähren und Böhmen in hohe Berge und tiefe Täler eingekeilt.
Die Berge rückten immer näher und enger zusammen. Und als ich nach einigen Stunden in das Städtchen Freiwaldau kam – eine andere Lesart ist Freienwalde –, da waren ringsum steile Berge und die Welt, wie man so sagt, mit Brettern vernagelt. Die Himmelsgegenden waren durch die mannigfachen Windungen des Weges wie verrückt, die Wolken fielen in sanftem Regen herab.
Ich hatte gelesen, daß man da oben in einem ganz abgelegenen Bergwinkel alles mit kaltem Wasser kuriere. Das lockte mich. Die Gesundheit, das Geld und die gesellschaftliche Stellung sind heutzutage das Ziel der menschlichen Bestrebungen geworden. Man will gesund, reich und frei sein, wie man zu anderen Zeiten genial, vornehm oder geliebt sein wollte.
Der Herr Professor Oertel in Ansbach schrieb jahrelang über die Vortrefflichkeit des Wassers, man sprach nicht mehr vom Wasser, ohne seiner zu gedenken. Aber er drang nicht tief genug in die ungläubigen Herzen und man verketzerte ihn spöttisch. Da trat nun da oben, wo die letzten Berge der Sudeten ihre steinernen Arme nach den Karpathen hinüberstrecken, ein schlichter Landmann auf, errichtete eine vollständige Heilanstalt und setzte das Wasser in alle Majestätsrechte der legitimen Medizin ein. Vinzenz Prießnitz ist sein Name, und zu Gräfenberg nimmt er seine Heilungen vor.
Danach erkundigte ich mich im Gasthofe in Freiwaldau. Die blasse, lange Wirtstochter lächelte mitleidig und beschied mich kurz. Das Örtchen sei auf dem Gräfenberge hinter der Stadt gelegen. Man fahre eine halbe Stunde hinauf. Übrigens seien schon so viele Gäste da, daß ich keinen Platz mehr finden werde. Überhaupt scheine es ihr kurios, daß ich nach dem Wasser hergefahren komme. Man trinke es in Freiwaldau schon seit undenklicher Zeit und kein Mensch habe etwas darin gefunden.
So geht es allen Propheten in ihrem Vaterlande. Die lange, blasse Dame mit den sehnsüchtigen Locken hinter dem Ohre war obendrein selbst krank. Sie litt an jenem Erwartungsübel, dem so viele Mädchen verfallen, wenn sie zu reiferer Erkenntnis kommen und das Heiraten zu hassen anfangen. Natürlich schlug ich ihr die Wasserkur vor, aber sie fragte mich schneidend, ob ich wirklich glauben könne, daß ihr Wasser helfen werde.
Es regnete immer fleißig weiter, aber so durchsichtig und leise, daß ich die Gegend wie durch einen dünnen Flor betrachten konnte. Es war ein tiefes Bergtal, in das ich aufwärts fuhr. Der Wagen keuchte durch einen schmalen Weg, und als uns ein herabkommender Bauernwagen begegnete, war die Not groß.
Links vom Wege kamen allmählich einzelne Bauernhäuser zum Vorschein, die zerstreut an der Berglehne lagen. Nach einer Wendung des Weges erblickte ich einige größere Wohnhäuser. Es war Gräfenberg, das ersehnte Bad. Hinter den Häusern lief ein reich bebuschter Berg noch weit in die Höhe. Rückwärts und seitlich standen blanke Berge. Auf ihnen lagen Wolken, tief unten aber flog über grüne und gelbe Hügel ein Strichregen.
Der Weg wurde immer steiler. Als wir vor dem kleinsten der massiven Häuser hielten, mußten wir Steine vorlegen, damit der Wagen nicht eigenmächtig zurückrenne. In diesem Hause wohnte Prießnitz, ich war an Ort und Stelle.
Zwei Leute gingen im Zimmer auf und ab. Sie sahen sehr abgewaschen und etwas armselig, rot und bläulich im Gesichte aus. Auf dem Tische standen zwei Flaschen Wasser, daraus schenkten sich die ohnehin schon frierenden Leute ohne Unterlaß ein. Ich, kaum beachteter Novize, erlaubte mir einige bescheidene Fragen nach der Lebensweise in Gräfenberg. Zum Beispiel: »Sie entschuldigen, meine Herren, was genießen Sie hier wohl zum Frühstück?«
Antwort: »Wasser!« »Also bekommt man wohl erst zum zweiten Frühstück ...?« »Wasser!« Es fing mir an, kühl zu werden. Das eine der vor mir herumspazierenden Schlachtopfer, ein kleiner Mann ohne Taille, in einem abgeschabten grünen Röckchen, schenkte sich zitternd ein neues Glas ein und stürzte es hinunter. »Aber zu Mittag, meine Herren, erhält man doch ...?« »Wasser!« war die einstimmige Antwort. Sie schien mir wie Unkenruf aus einem Teiche zu kommen.
Der Kleine im grünen Röckchen seufzte und strich mit der Hand über sein unwirsches, spärliches blondes Haar. »Pfui doch, Herr Leutnant«, sprach der andere und trank ein großes Glas, »ohne Wanken und Seufzen ins Feuer, Leutnant! Noch eines, Leutnant!« Es war eine alte, ausgegurgelte Kommandeurstimme. An seinem Gesichte blieb nicht viel zu unterscheiden, es war durch dunkle Röte und altes Fleisch verwischt. Weiße, starre Härchen wuchsen auf seinem Kopfe, ein alter, pensionierter blauer Sommerrock schlotterte um seinen Leib und seine breiten Glieder. Ich behielt kaum den Mut, weiter zu fragen: »Aber, meine Herren, nachmittags oder abends wird es wohl etwas anderes geben als ...?« »Wasser, wieder Wasser«, kam es seufzend aus der einen, heroisch aus der anderen Kehle.
Ich sank erschöpft auf einen Stuhl, es war mir, als sei ich unter Sarastros Leute in der »Zauberflöte« geraten.
Da erschien ein schlanker Mann in einem gebrauchten schwarzen Frack. Sein pockennarbiges Gesicht war gutmütig und seine Begrüßung zutraulich, obwohl er wenig sprach. Es war Prießnitz.
Die Wohnung war der sorgliche Gegenstand unseres Gesprächs. Er stand lange schweigsam vor mir, sein Auge sah sinnend auf einen Fleck, und ich erhielt keinen Bescheid. Schon sah ich mich in einer Kartoffelhütte, denn sein radikales Verfahren löste mir unter Schrecken doch lebhafte Zuversicht auf Erfolg ein.
Er ging hinweg, kam zurück, ging wieder, aber ich erfuhr nichts. Die Herren von Sarastros Gefolge tranken unterdessen fortwährend Wasser, der kleine Leutnant stöhnte, der große Bramarbas pfiff das Mantellied.
Endlich kam Prießnitz und erklärte mir, ich könne in einer Bauernstube eine Ecke bekommen. Alles andere sei besetzt.
Da saß ich denn abends in einer Ecke auf dem harten Brett und sah in die Dämmerung hinein. Drüben im andern Winkel verzehrten meine Wirtsleute im Dunkeln ihr kümmerliches Abendessen. Sie sprachen kein Wort und verzehrten dumpf die vorjährigen Kartoffeln mit gutem Salze. Als sie fertig waren, knieten sie auf die Bank, das Gesicht nach der hölzernen Mauer richtend, beteten ihren Rosenkranz und krochen dann still zu Bett.
Es war totenstill in der niedrigen Stube. Die Mäuse kamen aus ihren Schlupfwinkeln, der Mond brach draußen durch die Wolken, und es schien mir in dem farbigen, unsicheren Lichte, das durch die kleinen, schlechten Scheiben brach, als sitze die Wasserkur persönlich wie ein blaßblaues Gespenst auf der Ofenbank.
Ich eilte hinaus, schob den hölzernen Riegel von der Haustür und wollte in die Nacht hineinlaufen, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber das geht in Gräfenberg nicht, am wenigsten des Abends. Das Terrain ist so abschüssig und ungleich, daß es nur einen einzigen Weg gibt, der fünfzig Schritte lang eine ebene Fläche gewährt. Alles andere ist Berg und Tal, und ich wäre in meiner nächtlichen Wanderung unzweifelhaft gestürzt. Resigniert setzte ich mich neben meine Wohnung auf ein Stück Bauholz.
Die Wolken waren auseinandergedrängt, der Mond schien hell. Im Hause gegenüber lag eine Scheune, und diese beiden Gebäude bildeten einen vortrefflichen Rahmen, der durch einige Bäume unterstrichen wurde, die sich an die Häuser lehnten. Mitten drin findet der Blick einen Talkessel, aus dem sich ein mäßiger fichtenbewachsener Hügel erhebt. Dahinter stehen wie schwarze Ewigkeiten ungeheure Berge, die nur wenige hundert Fuß niedriger sind als die Schneekoppe im Riesengebirge. Es ist besonders der Altvater, der mit seinem runden, kahlen Haupte nach Galizien und Ungarn hinübersieht, und die Hochschaar, die über Mähren hinweg nach Wien grüßt. Man findet selten so weite, tiefe Täler, unmittelbar von den höchsten Bergen eingeschlossen. Die vornehmen Leute kommen nicht leicht in nahe Berührung mit der untersten Klasse.
Und über diese dunkelgrünen, blauen und schwarzen Flecken zog der Mond mit lächelndem Lichte. Von Prießnitz' Hause her klang ein dünner Chor von Männerstimmen, die in Ermangelung des Wasserliedes ein altes Weinlied sangen. In ganz Gräfenberg war aber nicht ein Tropfen Wein zu finden. – Verworrene Zustände von menschlicher Nüchternheit und ersungener Romantik in Gräfenberg. Wie lächerlich war ich moderner Exulant mitten darin. Als ob ich eine neue Welt entdecken wollte, war ich in eine wässerige Langeweile entflohen.
Am andern Morgen begann das neue Leben um vier Uhr und die Wasserkur an meinem eigenen Leibe. Man wickelte mich in wollene Decken, warf noch ein Bett über mich und überließ mich meinem Schicksale. Als ich nach einigen Stunden im Schweiße meines Angesichts lechzte, ward mir kaltes Wasser eingeflößt. Es befördert die Transpiration aufs äußerste, und wenn diese nun den ganzen Körper aufgelöst hat, wird das Deckbett weggehoben, und wie ein weißer Bettelmönch wandelt man in der wollenen Hülle hinaus zu den Bädern. Die sind meist dicht an den Häusern angebracht und werden fortwährend von dem in Rinnen und Röhren herabkommenden Bergwasser angefüllt, sind also stets lieblich eiskalt und frisch. Als ich in jener Decke meinen Gräfenberger Brautgang hielt, flog mir der Schnee ins Gesicht.
Wirklich tritt nach ungefähr einer Minute völlige Erwärmung in dem kalten Wasser ein, die indes bald wieder neuer Kälte weicht. Diese zweite Kälte muß eigentlich abgewartet werden, sie schüttelt innen und außen den Menschen zusammen. Es ist völlig unbegründet, sich dabei vor dem Schlagflusse und dergleichen fatalen Zuständen zu fürchten. Die schwächsten Personen erleiden gefahrlos diesen Wechsel, und man merkt täglich, daß das kalte Bad um so wohltuender wirkt, je gründlicher und heftiger die Transpiration vorher war. Man darf dabei nicht außer acht lassen, daß der vorhergehende Schweiß nicht durch künstliche Mittel erzeugt wird, daß man bei offenen Fenstern liegt und die Lungen vollkommene Ruhe halten.
Nun kleidet man sich an und trinkt Wasser. Der Frost treibt gewöhnlich zum Laufen hinaus, und man sieht frierende Badegäste überall auf den Bergen herumtraben.
Gräfenberg ist das Bad, wo die Kranken am muntersten sind, frisch sind sie immer, das kalte Wasser weckt auf.
Das Wasser spielt zu Mittag wieder eine Hauptrolle – und das ist ein schlechter Ritter, der nicht wenigstens eine Flasche leert. Nachmittags begann wieder die Morgenprozedur mit Schwitzen und Baden, und man war sehr müde, wenn es endlich dunkel wurde. Ehrlich gestanden, es gibt keinen Ort, wo man die Langeweile so wenig gewahr wird als hier.
Die Gräfenberger Anstalt ist aber wirklich sehr wichtig und Prießnitz eine beachtenswerte, historische Erscheinung. Nach allem, was ich von ihm gesehen habe, ist er ein sinnender, aufmerksamer Mann, sehr brav und rechtlich denkend. Keineswegs fanatisch für seine Heilmethode eingenommen, ist er doch der Überzeugung, daß die meisten Übel durch Wasser geheilt werden könnten, wenn man nur geduldig sei. Er gibt sehr viel darauf, daß das Wasser keineswegs abstumpfe. Allerdings ist man nach mehreren Wochen noch ebenso empfindlich dafür als am Anfange der Kur.
Es ist nicht meine Absicht und entspricht nicht meinen Fähigkeiten, ein medizinisches Urteil abzugeben. Soviel ich aber gesehen habe, wirkt die Kur auffallend günstig bei Übeln, die zum Teil äußerlich sind, wie Lähmungen, Geschwülste, Ausschlag, Gicht und andere. Die Heilung von chronischen inneren Krankheiten habe ich weniger beobachtet. Man darf keinen Augenblick vergessen, daß die Wirkung sehr langsam eintritt und daß man viel Zeit braucht. Das Wasser regt alle Übel auf, und es mag wohl geschehen können, wie es in Gräfenberg heißt, daß man sich einen neuen Körper antrinken und anbaden muß.
Dawider freilich mag ich auch nichts einwenden, daß für die Wissenschaft eine so plumpe Heilmethode lächerlich aussehen muß. Es möge nicht vergessen werden, daß jenes Gräfenberger Wasser unschuldiges, alltägliches Bergwasser ist, ohne den geringsten Beisatz von Mineralien und Salzen, klares Wasser, wie man es überall finden kann, unverdorbene Gottesgabe, und überall wohlfeil zu beschaffen.