Reise durch das Biedermeier
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Jena

Wir kamen gegen Abend in Jena an. Die Luft war kühl, und ich ging von der Poststation sofort in mein Hotelzimmer, das ich mir hatte vorbestellen lassen. Das Gasthaus war wenig besucht. Nachgedacht hatte ich auf dem Wege genug, Bücher hatte ich nicht zur Hand, und so suchte ich Menschen und Unterhaltung. Der Wirt, der seine Gesprächsstoffe über Handel, Verkehr und Ackerbau bald erschöpft sah, zuckte die Achseln. »Versuchen Sie«, meinte er nach einer langen Pause, »ob Sie die Dame empfängt, die im gegenüberliegenden Zimmer wohnt. Sie weiß sehr viel zu sprechen, und die Einsamkeit ist ihr auch lästig.« Das Kammermädchen ward zitiert, sie war sehr hübsch. Man durfte viel Schönheit von einer Herrin erwarten, die solche Reize neben sich duldete.

Ich durfte vorsprechen, aber die Dame ließ bedauern, sie könne mich nicht bei Licht empfangen, sie habe ein Augenleiden. So trat ich denn in ein dunkles Zimmer, ich konnte nur den stattlichen Wuchs der Dame bemerken, eine breite Spitzenhaube setzte ihr Gesicht tief in Schatten. Die Stimme klang nicht ganz jung, doch sehr lebhaft. Die hübsche Zofe setzte sich in einen Winkel, und das Gespräch mit der Herrin kam rasch in Schwung. Bald kamen wir auf das frühere Jena zu sprechen.

»Ich habe eine Freundin«, sagte die Dame, »die in jener Zeit in Jena lebte, als man fast täglich berühmten Männern begegnete.« Ich bat sie, mir davon zu erzählen – wenn es ihr nichts ausmachte, so als ob sie selbst diese Freundin sei. Die Illusion sei so viel stärker und die großen Leute kämen einem dabei viel näher.

»Sehr gerne, mein Herr, das kann ich wohl. Ich habe von diesen Dingen sehr oft erzählen gehört. Erwarten Sie aber nichts als Äußerlichkeiten, weder meine Freundin noch ich sind Philosophen.

Fichte kam täglich zu uns; wenn es sich nicht anders schickte, eine Viertelstunde, bevor er in sein Kollegium ging. Er ließ sich nicht sehr durch die Form beschränken, trat ohne weiteres mit dem Mantel ein, setzte sich auf das Sofa, warf hastig den Mantel von den Schultern und legte die Uhr auf den Tisch, um noch zur rechten Zeit nach seinem Auditorium aufbrechen zu können. Er war von kurzer, gedrungener Gestalt, vielleicht sogar noch kleiner als Napoleon. Seine Augen waren dunkel, herausfordernd wie seine Adlernase. Er besaß wie alle genialen Leute das beneidenswerte Talent, auf eine unglaublich schnelle Weise Geld auszugeben.

Ich hatte das Glück, von ihm wohlgelitten zu sein, und da er überhaupt sehr mitteilsam war, zog er wohl zuweilen sein Heft aus der Tasche und las mir von seiner Ich-Philosophie etwas vor. Es waren mir böhmische Dörfer, aber weil er voraussetzte, ich verstünde kein Wort, so bemühte er sich, jedes Komma zu erklären. Eines Tages kam er echauffiert und noch stürmischer als gewöhnlich ins Zimmer gestürzt und konnte zuerst nur ›abscheulich, abscheulich‹ rufen. Endlich erklärte er: ›Madame, Sie sind eine einfache Frau und haben verstanden, was ich Ihnen gestern aus meinem Hefte vorlas. Heute finde ich diesen Zettel auf dem Katheder. Die Studenten ersuchten mich, meinen gestrigen Vortrag noch einmal zu erklären, auch die Klügsten wüßten nicht, wovon eigentlich die Rede gewesen sei.‹ Fichte trank gern Champagner und unterhielt sich in Gesellschaft liebenswürdig über die harmlosesten Dinge. Indessen, man erkannte den spielenden Löwen, der zuweilen mitten in seinen Scherzen das majestätische Haupt schüttelt. Die Studenten verehrten ihn sehr als energischen Feind der fremden Eroberer und als den stolzen Gründer einer neuen Moral und Religion. Wenn er aus der Vorlesung kam, ward er gewöhnlich wie ein römischer Triumphator von seinem Auditorium begleitet.

Zu seinem und Schillers täglichem Umgang gehörte der bekannte Orientalist Ilgen, ein klarer, tüchtiger Mann, der viel Tabak rauchte. Schiller selbst rauchte niemals. Schillers Frau gehörte zu meinen Bekannten. Aber man konnte mit ihr ein ganzes Jahr verkehren, ohne Schiller ein einziges Mal zu sehen. Es war nicht leicht, ihn kennenzulernen. Er führte die wunderlichste Lebensart. Gewöhnlich stand er erst nachmittags um vier Uhr auf, weil er in der Nacht arbeitete. Gesellschaften besuchte er fast gar nicht, zum Teil auch deshalb, weil seine Garderobe in sehr schlechtem Zustande war. Seine Frau hatte er lieb, aber er war nicht galant, nicht aufmerksam und zärtlich zu ihr. Sie war ein stilles, anspruchsloses Wesen mit einer recht guten Bildung, war aber nicht sehr lebhaft.

Als ich Schiller einmal in direkter Form zu uns einlud, entschuldigte er sich mit einem liebenswürdigen Brief wegen seiner vernachlässigten Kleidung. Wenn ich ihm aber gestatte, im Negligé zu erscheinen, so bitte er mich für den folgenden Abend zum Tee.

Als ich darauf wirklich bei Schiller erschien, fand ich Madame etwas verlegen. Es ergab sich bald, daß sie von der Einladung ihres Mannes nichts wußte. Sie war aber sehr liebenswürdig, und wir unterhielten uns bis zur Ankunft ihres Mannes auf das angenehmste. Schiller erschien wirklich im Negligé. Er trug einen langen alten Tuchrock, an dem viele Knöpfe fehlten, und Schlafschuhe. Das Hemd war offen und von weißer Farbe, aber nicht eben fein. Er sprach sehr viel, und wenn man darauf geriet, auch von den kleinsten Trivialitäten. Sein großes, mageres Gesicht war mit Sommersprossen bedeckt und namentlich bei Tage sehr garstig. Er hatte struppige rötliche Haare. Am Abend aber wurde der ganze Mann lebendig: die scharfen Formen seines Antlitzes traten bedeutsamer und einnehmender hervor. Er sprach ganz anders als er schrieb. In seinen Manuskripten konnte niemand als er selbst eine Zeile lesen. Jedes Wort war zwei- oder dreimal ausgestrichen, wieder punktiert, überschrieben und ausgestrichen.

Bei seinen späteren Einladungen setzte er uns stets schwäbische Gerichte vor. Das sogenannte Hozelbrot, ein höchst ordinäres, mir gar nicht zusagendes Gebäck, durfte in seinem Hause an Feiertagen nicht fehlen. Ich erhielt dann stets eines zugeschickt und mußte mich von dem Wohlgeschmack begeistert zeigen.

Auch Goethe kam häufig nach Jena. Namentlich nach Tische fabrizierten dann er und Schiller in großer Gesellschaft die stachlichsten Xenien. Der Schlimmere war dabei Schiller. Goethe lächelte oft bei seinem Zorne, ließ ihn aber lächelnd gewähren. In der ersten Hälfte des Essens war die Exzellenz gewöhnlich schweigsam und hielt ihre Umgebung in einiger Entfernung. Man tat gut, ihn nicht zu stören. Später, namentlich wenn der Champagner kam, wurde er doch munter und von lieblicher Heiterkeit. Die Damen ließ er auf das reizendste gewähren.

Am nachteiligsten war sein Erscheinen zu Jena für Woltmann, weil dadurch eine Art geselliger Rivalität entstand, die sich sonst nirgends zeigte. Woltmann war nämlich ein sehr hübscher, artiger und feiner Mann, ein Held der Damen und sehr beliebter Redner, dessen sauberer norddeutscher Akzent sehr viel Anklang fand. Es mag sein, daß sich zu allem etwas Ziererei in sein Wesen drängte, kurz, Goethe fühlte sich darob veranlaßt, ihn aufzuziehen.

Auch die Humboldts waren damals in Jena. Alexander, der witzige, der Naturforscher und Diplomat, wohnte indessen nicht ständig dort. Wilhelm verkehrte viel mit Ilgen. Dort habe ich oft mit ihm diniert, und es war nichts spaßhafter, als wenn die Tafel aufgehoben wurde und die Männer sich zum Kaffee in ein anderes Zimmer begaben. Da begann nämlich Humboldts Manöver, einen Augenblick abzukommen, um den Rock zu wechseln, weil er ihn vor Ilgens Tabakrauche retten wollte. Er haßte das Rauchen. Spaßhaft war daran, daß Humboldts Staatsgarderobe ohnedies höchst unscheinbar war und daß er in Ilgens Schlachtendampf mit einem Kleide trat, das ein reputierlicher Barbier verschmäht hätte. Außer bei Goethe und Woltmann war es überhaupt um die äußere Eleganz dieser Heroen schlecht bestellt. Selbst die Brüder Schlegel zeichneten sich damals nicht durch viel äußerliche Zierlichkeit aus.

Um von Wilhelm Humboldt weiter zu berichten: Nie habe ich einen Menschen gesehen, der Gott so liebte wie er. Jahrelang litt er auf das ärgste. Er hatte nur Minuten, in denen er keine Schmerzen verspürte. Wenn eine solche Minute kam, dankte er Gott für die Freude, die er ihm bereitete. Ohne der herrschenden Religion sich anzuschließen, war er voll Religion. Er glaubte nicht nur an die Fortdauer der Seele, sondern auch der Persönlichkeit. Seine größte Freude war es, Schiller und die eigene Gattin bald wiedersehen zu können. Seine Gattin hatte einen verwachsenen Körper, aber einen schönen Kopf und die schönsten Augen voll Lebhaftigkeit und einer raschen Empfänglichkeit ohnegleichen. Humboldt lebte mit ihr in einer Ehe, in der jedes im ungewöhnlichen Sinne des Wortes das Glück des andern suchte. Da beide edle Menschen waren, war es die schönste Verbindung, die ich je sah.

Frau von Staël war bis zur Leidenschaft von Humboldts Geist eingenommen. Sie nannte ihn stets nur: › La plus grande capacité de l'Europe‹. Humboldt hielt viel auf ihr Urteil, doch darf man wohl nicht dem alltäglichen Gedanken Raum geben, er sei von ihrem Lobe bestochen worden.

Jedenfalls waren die meisten der Jenaischen Gesellschaft keine bürgerlichen Tugendspiegel. Die herkömmlichen Formen wurden von den Herren jener Zeit nicht allgemein beachtet. Von den Schlegel hatte jeder eine Dame zur Lebensgefährtin, die von der Kirche nicht eben dazu sanktioniert worden war, und doch waren sie Superintendentensöhne aus dem Hannoverschen. Wenn sie verreisten, gab es oft erbrochene Türen und Schränke. Denn als Privatdozenten konnten sie in Jena natürlich nicht viel verdienen, und die Gläubiger durchsuchten gerne ihre Wohnungen.

Übrigens, weil wir von finanziellen Dingen sprechen: sie müssen es einem Frauenzimmer nachsehen, wenn sie nicht methodisch und ordnungsmäßig erzählt. Wie oft sprang Fichte in der besten Unterhaltung plötzlich auf und eilte fort. ›Was soll das, Fichte?‹ ›Ich habe heute noch keinen Louisdor erschrieben, ich muß noch ein paar Seiten arbeiten. Gute Nacht!‹ Wie liebenswürdig wäre Fichte erschienen, wenn er nicht immer schmutzig herumgelaufen wäre! Es war nicht zum Aushalten mit seinen Vorhemden und seiner Nase. Er schnupfte nicht nur den Tabak, er verspeiste ihn. Dabei wurde er nicht ohne Grund ›der Schmetterling‹ genannt. Bald liebte er Frau von St., bald die kleine, hübsche und gescheite Madame S., bald die Dichterin Moreau.

Eines Tages kam Fichte sehr mürrisch zu uns. ›Was gibt es?‹ ›Ach, ich komme von Goethe.‹ ›Nun?‹ ›Man sollte es nicht erzählen. Die Studenten haben gestern abend Goethe eine Abendmusik gebracht, und er hat das in seiner vornehmen Manier übelgenommen. Heute sagte ich ihm, er möge bedenken, daß die jungen feurigen Leute das Ständchen nicht dem Minister Goethe, sondern dem Dichter gebracht hätten. Er aber erklärte, er wünsche nicht, daß man den Minister über dem Dichter vergesse.‹

Fichte sagte und riet mancherlei, was dem Hofe in Weimar mißfiel. Er war dort sehr schlecht akkreditiert und Goethe mochte vielfach in ärgerliche Kollisionen kommen, wenn er den Philosophen nicht ganz desavouieren wollte. Das kränkte und häufte ärgerlichen Explosivstoff, aus dem bei der ersten Gelegenheit fatale Worte sprangen.

Ich komme darauf zurück, wenn ich Ihnen von Fichtes plötzlichem Abgang von Jena erzähle, jetzt will ich Ihnen etwas von seiner Heirat sagen. Es wurde lange vorher davon gemunkelt. Niemand wußte was Rechtes, alles war neugierig. Eines Morgens erscheinen Woltmann und Humboldt ganz erhitzt bei uns. Woltmann, den dergleichen höchlichst interessierte, hatte alles ausspioniert. ›Sie kommt, sie kommt.‹ ›Wer denn?‹ ›Fichtes Braut, er ist ihr entgegengefahren.‹

Wir nahmen eiligst zwei Wagen, um ihn auf dem Rückwege zu attrappieren. Alles brannte vor Neugier. Fichte hatte immer so ernsthaft, fast mürrisch geheimnisvoll darüber getan. Was mochte das für eine Frau sein?

Ein ungefälliger Wagen mit kleinen, üblen Pferden schlich auf der Landstraße daher, wir begegneten ihm. Richtig, Fichtes Adlernase kommt zum Vorschein, er ist erkannt und muß halten. Ach, wie tragisch sah der unangenehm überraschte Mann aus. Die Männer gingen an den Wagen, sie kamen zurück und referierten. Nur mit Andeutungen und Pantomimen, man kam nicht recht dahinter.

Später lernte ich die Frau natürlich kennen, und es erklärte sich mir alles. Sie war eine gute, aber völlig reizlose Schweizerin. Alles, aber auch alles war an ihr unschön, ach, und welcher Geschmack! Wie oft kam Fichte zu mir und bat mich, seine Börse zu nehmen und für seine Frau Kleider einzukaufen. Selbst Fichte, dem Harmlosen, war es zu arg. Aber mein Kaufen half nichts, sie ging und wickelte alles durcheinander. Es hat mir oft leid getan, denn es war ein gutes, ehrliches Wesen.

Fichte hatte als Hauslehrer in der Schweiz gelebt, war vielleicht brotlos geworden. Das Mädchen hatte sich seiner angenommen und ihn unterstützt. Einige Zeit darauf schrieb Fichte die berühmte Rezension über Kant in der Literaturzeitung. Alles fragte Schütz, wer der Verfasser sei, man war außer sich, daß solch ein Geist ungekannt existieren solle. Das folgende Buch Fichtes brachte ihm die Berühmtheit. Fichte ward nach Jena berufen und fühlte sich nun auch verpflichtet, seine Wohltäterin nachkommen zu lassen.

Fichte war ein trotziger, eigensinniger Geselle, das läßt sich nicht bestreiten. Über eine Menge kleiner Dinge hatte er sich schon mit Weimar herumgehaspelt, jetzt verbot man ihm, des Sonntags Vorlesungen zu halten. Er bezeigte sich widerspenstig nach gewöhnlicher Art. ›Niemand ist schuld an diesem einfältigen Verbote‹, rief er, ›als der Pfaffe, der Semler! Die Leute sollen in seine Predigten kommen, statt meine Vorlesungen zu besuchen, ich will aber lesen!‹ Bald darauf erhielt er ein neues Reskript, worin man ihm mit einem Verweise drohte, wenn er wieder Sonntags lese. ›Mir einen Verweis? Bin ich ein Schulknabe?‹ Und er las wieder, der Verweis kam, Fichte war außer sich und in der nächsten Stunde war ein Entlassungsgesuch geschrieben, gesiegelt und auf die Post gegeben. Am zweiten Tage darauf, nachmittags, meldete mir mein Mädchen Professor Fichte. Er ist bleich und ich ahne, was vorgefallen: ›Sie kommen, Professor ...?‹ ›Um Abschied zu nehmen, ich reise heute abend nach Berlin, meine Zeit in Jena ist zu Ende.‹

So fuhr er denn in die Nacht hinein, ich habe ihn nicht wiedergesehen. Er blieb in Preußen. In Berlin starb er. Sie liegen dort nebeneinander begraben: Fichte, Hegel und Ilgen. Auf dem Kirchhofe haben sich die Jenenser Freunde wiedergefunden.«

»Ihre Freundin hat auch Hegel gekannt?«

»Jawohl, er war damals Privatdozent in Jena und schwäbelte so gut wie die anderen. Ich habe ihn immer als einen lieben, gemütlichen Menschen gerne gehabt. Er war einfach, natürlich, voll Heiterkeit und Mut. Seine Habilitierung bezahlte er, komisch genug, mit schlechten Louisdors, die ihm Fichte gegeben hatte. Die Philosophie war immer bei schlechtem Gelde. Hegel aber war keck genug, die Fakultät noch spottenderweise herauszufordern. Er war ein gemütlicher junger Mann voll guter Laune. Als er uns verließ, ging er nach Bamberg und redigierte eine politische Zeitung. Dann ward er Direktor des Nürnberger Gymnasiums und verheiratete sich mit Fräulein von Tucher. Es war dies eine Neigungsehe, sie wurde sehr glücklich.«

Die Zofe, die an der Geschichte Jenas weniger Interesse zu nehmen schien, als sie es vielleicht an der Geschichte von Versailles genommen hätte, fragte verschlafen, ob sie uns Tee bringen solle. Dann wankte sie halb schlaftrunken zu einem Tische, auf dem ein Platinfeuerzeug stand, und wollte Licht machen.

»Nicht doch, Therese, du brauchst dazu nicht Licht machen.« »Aber gnädige Frau, die Wirtsleute merken ja dann ...« »Was? Verschlafenes Mädchen, träum nicht von deinen Liebhabern und kümmere dich lieber um deine Arbeit!« – Die Magd ging nach der Kammer-, statt nach der Stubentür. Ich sprang auf, nahm sie bei der Hand, brachte sie auf den rechten Weg und, mich auf das schlechte Gesicht der Dame verlassend, stahl ich ihr einen Kuß. Sie gab ihn ganz ehrlich zurück und sagte: »Ich weiß gar nicht, gestern war ich doch nicht so müde, nicht wahr?«

»Mädchen, was hast du denn? Nun, mein Herr, ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon gesagt habe, daß Hegel in Tübingen zusammen mit Schelling auf einer kleinen Stube in seinem achtzehnten Jahre zu studieren begann. Er erzählte mir oft von dieser Zeit, wie sie zusammen philosophiert hätten. In Tübingen hat er auch promoviert. Dann war er wie Fichte Hauslehrer in der Schweiz und später in Frankfurt am Main. Dort verkehrte er mit dem unglücklichen Hölderlin. Um jene Zeit starb sein Vater, er erbte ein weniges und kam zu uns nach Jena. Gabler und Troxler sind seine Schüler aus der jenaischen Zeit. Er hatte einen großen Bekanntenkreis. Er bekümmerte sich um alles und nahm alles auf. Auch Novalis ...«

»Haben Sie Novalis gekannt?«

»Natürlich. Ich kam eines Sommerabends mit Friedrich Schlegel von der Rosenmühle, als uns ein kleiner, blasser Mann begegnete, der Schlegel umarmte. Seine Stimme klang so weich, sein Auge war so blau, seine Haut weiß, die Stirne hoch, daß es mich gar nicht wunderte, als ihn mir Schlegel als Herrn von Hardenberg vorstellte. Er lebte damals in Weißenfels als stiller Privatmann und bewarb sich um die Liebe – nun, denken Sie – um die Liebe der Louise Brachmann, die auch dort wohnte, oft nach Jena kam und sehr fêtiert wurde. Das kokette Mädchen behandelte ihn spröde. Er hat mir manchmal leid getan.«

»War sie hübsch?«

»Keineswegs: klein, von schlechter, schiefer Haltung, aber mit einem lebhaften Gesichte. Viele fanden ihr Auge schön, aber sie kokettierte damit gar zu arg.«

»War Novalis damals schon krank?«

»Das war er eigentlich immer. Ich glaube, die Auszehrung war erblich in seiner Familie, und er erwartete einen frühen Tod. Das trug viel dazu bei, seine Gedanken fortwährend über die Erde zu erheben. Friedrich Schlegel behandelte ihn sehr liebevoll. Er arbeitete zu jener Zeit schon mit seinem Bruder an dem großen romantischen Feldzuge in unserer Literatur, und Novalis war ihm eine wichtige Macht. Friedrich war überhaupt sehr liebenswürdig, ehe er Gourmand, dick und katholisch wurde. Später war er nicht wiederzuerkennen, er kam mir zerflossen und schwammig vor, als ich ihn kurz vor seinem Tode in Dresden sah. Es läßt sich überhaupt nicht leugnen, daß die Brüder Schlegel sehr angenehme Erscheinungen in Jena waren. Groß und stattlich, voll Schönheitslust, voll kecker Dreistigkeit im Umgang mit Frauen, brachten sie einen kühneren, freieren Ton in die Gesellschaft. Man hat sehr viel skandaliert über jene Luzindenzeit. Aber es kam selten vor, daß August Wilhelm Schlegels Geliebte Ärgernis gab. Sie war eine wilde Dame, die schon viel erlebt hatte und weit in der Welt herumgekommen war. Die Frauen mochten sie natürlich nicht, wie das zu gehen pflegt. Sie überheben sich dann immer mit süßer Genugtuung ihrer Legitimität. Störsam wurde die Angelegenheit erst, als sich Schelling in sie verliebte und sie endlich auch Schlegel abspenstig machte. Schellings Vater duldete aber kein ungewöhnliches Verhältnis, und der Naturphilosoph mußte sie herkömmlich heiraten.«

Der Tee war fertig und die Zofe servierte ihn im Mondscheine. Sie schien jetzt munter zu sein und lachte sehr im stillen, wenn ich sie lange vor mir warten ließ mit der Zuckerdose.

»Madame«, begann ich wieder, »war niemand witzig zu jener Zeit? Man behauptet so oft, man habe damals wenig Humor gehabt. Ist dieser Vorwurf gerecht?«

»Nein, was man heute witzig nennt, war eigentlich niemand.«

Nach einer Pause erklärte mir die Dame, sie sei jetzt müde und wolle aufhören zu erzählen. Ich empfahl mich. Vor der Türe fragte ich die Zofe, wie alt sie sei. – »Siebzehn Jahre.« – »Was? Und vor vierzig Jahren schon in Jena?« Denn es war mir nicht mehr zweifelhaft, daß sie selbst ihre Freundin sei.

»Ach so, die gnädige Frau, die ist sechzig Jahre alt.«

»Wie heißt sie denn?« »Ach, das wissen Sie besser als ich.«

Draußen fiel ein sprühender Frühlingsregen in die knospenden Berge hinein, und ich mußte mich in das Zimmer einsperren. Weil es am anderen Tage noch regnete und die Dame nicht mehr zu sprechen war, schlenderte ich nur einige Stunden in der nassen Stadt umher und belegte dann auf der Post einen Platz.


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