Reise durch das Biedermeier
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Berliner Berühmtheiten

Die Humboldt sind die modernen Dalberg, untadelige Kulturritter, denen bei allen Staatsaktionen der Ritterschlag geboten sein sollte. In jeder höheren Schule müßte monatlich einmal gerufen werden: »Ist kein Humboldt da?«

Es sind ihrer zwei. Sie stammen beide aus Berlin. Wilhelm von Humboldt, Schillers Herzensfreund, ist vorzugsweise als Denker und als Staatsmann bekannt. Er schrieb über Poesie und Sprachen. Das Herz und die Zunge der Menschheit waren seine Sorgen. Er besaß jene olympische Ruhe, tage- und jahrelang still auf ein Wort, auf eine Fiber der Sprache oder des Gedankens zu blicken, um zu erlauschen, ob und wie sie sich bewegten. Er verfolgte eine Präposition durch jahrhundertelange Haltung und Umbildung bis in den Samenkern. Er stand Schildwache an den Wegscheiden aller Sprachen der Welt, um das Geheimnis der schöpferischen Kultur, der menschlichen Gemeinsamkeiten und Möglichkeiten zu ertappen. Ein Torso seines großen Gedankens, die Gottheit und den Menschen da zu finden, wo sie sich zuerst und leider für uns auch zuletzt begegnen, in der Sprache, ist in seinem Buche »Über die Kawi-Sprache« zurückgeblieben.

Der großen Welt, die über alles mitspricht, sind nur die Namen Humboldt bekannt, ohne daß man eben weiß, was sie geschrieben haben. Die politische Welt indessen, obwohl sie wenig Interesse für die Kawi-Sprache hat und nicht mit Bestimmtheit weiß, in welchem Erdteile sie gesprochen wird, kennt Wilhelm von Humboldt, weil er viele politische Ämter bekleidet hat. Er war Gesandter in Rom, eine Zeitlang Kultusminister und auch sonst als Staatsminister sehr tätig und bedeutend. Auf dem kurzen Kongresse in Prag, auf dem versuchten in Châtillon, beim Frieden zu Paris, beim Kongresse in Wien war er überall einer der ersten preußischen Vertreter. Die Befreiung vom französischen Joche lag ihm nahe am Herzen. Er soll der erste gewesen sein, der mit einem Widerstand Spaniens und dessen Folgen gerechnet hat. Man erzählt ein Abenteuer, das er unternommen, um gegen Napoleon zu werben: Eine Dame besaß große Macht über einen wichtigen Staatsmann. Humboldt und ein anderer berühmter Mann hatten es eingeleitet, die Dame und durch sie den Staatsmann zu werben. In Mäntel gehüllt, warteten sie auf der Straße den Erfolg ab. Sie gingen auf und nieder und sahen besorgt nach den lichten Fenstern und fragten sich, ob die Liebenswürdigkeit des Weibes siegen werde.

Man hat die Brüder Humboldt die Dioskuren Preußens genannt, wie man immer geneigt ist, das Ungewöhnliche durch Übertreibung gelegentlich dem Spotte auszusetzen. Ein schönes Bild gegenseitiger Ergänzung bieten sie aber in Wahrheit. Wilhelm konzentrierte sich oft jahrelang auf einen einzigen, scheinbar ganz unwichtigen Punkt, auf ein Wort oder eine Partikel. Alexander fuhr über alle Interessen der Erde hin, gleichzeitig mit hundert Augen nach rechts und links blickend. Wenn er sich dem einzelnen zuwandte, so bewies er allerdings auch darin die größte Fertigkeit. Er hat weitläufig über die Steppen geschrieben, über Steppen, wo man weit und breit nichts sieht als unergiebigste Eintönigkeit, und er hat dabei soviel Reichtum und Schönheit entwickelt, daß man einen farbigen Roman zu lesen glaubt. War Wilhelm durch eherne Festigkeit ausgezeichnet, so ist es Alexander durch sein elastisches Schaffen. Forschte Wilhelm nach dem Herzen der Welt, so erkundete Alexander alle Muskel des Weltkörpers und die Gesetze des Lebens.

Es war eine große Gesellschaft, in der Alexander von Humboldt erwartet wurde. Man hatte sich in mehrere Zimmer verteilt, betrachtete die geschmackvolle Einrichtung, wandelte umher, unterhielt sich in Gruppen oder einzeln, wie es sich fügte. Ich stand mit Mundt im ersten Zimmer, und wir beschauten einen Marmortisch, der aus Karthago geschickt worden war. Da trat ein Mann ein, machte uns mehrere feierliche Komplimente und schritt unter vielfach wiederholter, respektvollster Begrüßung in die anderen Zimmer. Er war von kleinster Mittelgröße, abgetragen schwarz gekleidet, mit altmodischer Busenkrause, und da sein Haupt sich vielfach tief neigte, konnte ich mich in dem grau-rötlichen Kopfe nicht orientieren. Mundt kannte ihn auch nicht, so hielten wir ihn für einen höflichen Hofrat, der sich's zur besonderen Ehre schätze, auch eingeladen zu sein. Wir achteten nicht auf ihn und besahen wieder die karthagischen Mosaikbilder.

Später trat ich in ein anderes Zimmer und fand alle Anwesenden aufmerksam in einem Kreise horchend vor dem Hofrat, als ob ein Bulletin mitgeteilt würde. Ist ein Kurier aus Paris gekommen? Nichts da, von den Pferden in Amerika war die Rede, daß sie in großen Herden existiert hätten, ehe die Spanier gelandet wären. Von China, daß man im ganzen himmlischen Reiche keine Milch trinke. Von Hegel, daß er gesagt habe, ein Berliner Witz sei mehr wert als eine schöne Gegend. Von der Pest in Konstantinopel. Von der Naturbetrachtung, daß in den Schriftstellern des Altertums keine einzige spezielle Schilderung der Natur und des Genusses bei ihrem Anblick vorkomme. Und alles sprach der eine Mann im abgeschabten schwarzen Leibrocke. Er sprach wie ein aufgezogenes Uhrwerk, kein »Ei ja!«, kein »Wahrhaftig?«, kein Staubatom konnte dazwischen. Leute, von denen ich wußte, sie schwiegen nicht leicht bei einer Nachricht und bei einer fremden Meinungsäußerung, schwiegen völlig und hörten zu. Und alles hörte mit jener Beflissenheit, die ausdrückt: »Sprechen Sie, sprechen Sie, ich höre mit Hand und Fuß!« Der Bediente, der ankünden wollte, daß serviert sei, verstummte, da er über die Schwelle trat und schnelle Pantomimen seine profane Zunge in Fesseln warfen.

»Mein Gott, wer ist der Mann?« »Pst!« »Aber sagen Sie doch –« »Pst!« »Humboldt!« flüsterte mir endlich eine Dame zu. »Nicht möglich! Der veritable Humboldt, was man so unter gebildeten Leuten Humboldt nennt?« »Freilich, aber hören Sie doch!«

Humboldts Redefluß war nicht behindert worden. Es ist nicht zu sagen, mit welcher Volubilität dieser Mann produziert. Er spricht zu Hause, wenn man ihn besucht, genauso wie bei Hofe. Man begreift nicht, wann er sich sein großes Wissen erwirbt. Wenn jemand ein Geschäft bei ihm hat, so muß er's um Gottes willen gleich beim Eintritte anbringen, ehe alle Maschinen dieses Kopfes in Bewegung kommen, in die sich kein Lüftchen unzermalmt hineindrängen darf. Wie er Neuigkeiten erfährt? Wie dem Propheten in der Wüste kommen ihm die Raben aus aller Welt zugeflogen und bringen ihm Speise und Trank. Er lebt so sehr in seiner geistigen Welt, daß ein Wort, ein Komma hinreicht, ihn über Neues zu orientieren.

Der Kopf Alexander von Humboldts gleicht allerdings den Bildern, die man von ihm sieht, nur ist er etwas größer, etwas älter und weniger gefaßt und glatt, als ihn die Kupferstiche zeigen. Humboldt ist bereits ein hoher Sechziger. Sein gedrungener Körper ist bewundernswert fest geblieben. Die kleinen Augen sind noch frisch. Wenn er so dasteht, den Hut unter einem Arme, die andere Hand auf der Busenkrause, unerschöpflich neue Gedanken gebärend, so macht er den Eindruck eines alten, festen, unzerstörbaren Baumes.

Ehe er an jenem Abend eintrat und alle Aufmerksamkeit absorbierte, sah man wechselnde, immer sehr beteiligte Gruppen um einen ebenfalls unscheinbar schwarz gekleideten Mann mittlerer Größe, der in ganz anderer Weise interessierte. Wenn ein Stoff angeregt wurde, so bemächtigte er sich seiner gewaltsam nach allen sich öffnenden Richtungen. Aber er faßte sein Interesse scharf und kurz. Er hörte dazwischen und erwiderte noch schärfer, so daß es allerdings eine lebhafte Unterhaltung gab, wenn auch kein eigentliches Gespräch. Er trug einen blauen Orden am Halse, spielte wie Chateaubriand mit einem kleinen Stöckchen und hatte einen feinen Diplomatenkopf mit kummervollen Zügen. Sogar die ergrauten feinen Haare und die bleiche schmale, blaugeäderte Hand sahen sorgenvoll aus. Um seine Mundwinkel spielten wehmütige Züge. Die blauen Augen blickten oft ermüdet über die Brillengläser hinweg. Sobald das Gespräch indessen eine Spannung brachte, glitt ein lächelnder Sarkasmus, eine spottende Verschlagenheit über Mund und Wange. Und oft, wenn er die Unterhaltung dem allgemeinen Gespräch überlassen und mit schmerzlichem Ausdrucke still gesessen hatte, trat er plötzlich wieder ein und warf kleine Geschichten und Spitzen hierhin und dorthin, wo einer sehr laut und zuversichtlich geworden war. Es war leicht zu sehen, daß er leidend sein mußte, er ist auch selten in großen Gesellschaften zu finden.

Ein Repräsentant der Kunst war in Rauch zugegen, der lächelnd und sicher, eine schlanke Gestalt mit edlem, leise und anmutig alterndem Kopfe, freundlich zuhörte.

Berlin hat fünfhundert Schriftsteller, darunter, wie billig, vierhundertfünfzig bis vierhundertsechzig gemeine Soldaten. Kennt ihr alle die Stübchen einer großen Stadt, wo die schreiendsten Ansprüche auf literarischen Ruhm in Einsamkeit darben, wo dem Vaterlande stille Opfer gebracht werden: stolze Gedichte, humoristische Aufsätze, Abhandlungen von höchster Wichtigkeit für das Wohl der Menschheit, gewaltige Trauerspiele, kurz, alles, was von den schnöden Verlegern nicht gedruckt wird? In jeder Stadt gibt es welche, jede große hat mehrere, Berlin hat Legionen. Alle modernen Literaten könnten eines Abends sterben, am nächsten Morgen stellte Berlin einen großen Messekatalog für die Buchhändler. Und nicht bloß Titel, nein, reelle Bücher. Alles liegt parat, jedes Genre ist wohl versehen, der Beweis kann gratis beigefügt werden, daß alles nichts tauge, was bis jetzt von anderen Autoren gedruckt worden sei.

Jede Macht wird immer und zu allen Zeiten angegriffen, auch in der Literatur. Wer einen Vers machen kann, will auch seinen Namen haben, und bekanntlich ist beim Zusehen alles leichter. So erinnere ich mich aus Breslau an einen langgewachsenen Mann, der sehr sauber gekleidet umherging. Er hatte einen Backenbart und zwei rote Wangen, die beide nicht echt aussahen, es aber doch wohl waren. Der Mann soll ganz gescheit sein, zuckt aber schon seit fünfzehn Jahren über die Entwicklung der modernen deutschen Literatur die Achseln. Warum? Weil er sagt, es sei eine Leichtigkeit, sie ganz anders und viel besser zu machen. Man glaubt ihm das, man bedauert ihn um der Literatur willen. Er leidet, obwohl er sich bei dem Ärger die roten Wangen und den Backenbart konserviert. Sowie der Mann aber einmal darangeht, selbst etwas zu schreiben, wozu ihn das Mißvergnügen sehr selten kommen läßt, da wird es ein geziertes, kleinschrumpfiges Ding, das nicht den Abdruck lohnt. Ja, entschuldigt man ihn, er versitzt sich, er ist nicht im Zuge. Jawohl, das ist es. Der Strom läuft ganz anders, als es vom Ufer aus den Anschein hat. Die Welt selbst ist eine unbekannte Macht, für jeden Tag und für jeden Menschen eine andere.

Das zweite und dritte Aufgebot der Literatur, das die Druckpraxis nicht recht gewinnen kann, hat sein Hauptquartier in Berlin. Hier sind die Helden ohne Heldentaten scharenweise vertreten, und die natürliche Dreistigkeit hilft ihnen. Auf allen Straßen, in jedem Tabakladen wird über die Literatur gesprochen und über die Kleinigkeit, sie umzuändern. In keinem Winkel des Tiergartens sind wir vor ihren unbegünstigten Prätendenten sicher.

Aber Berlin hat doch so viele wirklich berühmte Männer, daß wir nicht in die Salons zu gehen, sondern nur auf der Straße achtzugeben brauchen. Unter den Linden seht ihr oft einen schlanken Mann mit bleichen Haaren, aber jugendlich lebhaften Augen. Es ist Schinkel, von dem die neuen schönen Bauwerke stammen.

Draußen vor dem Brandenburger Tore richtet ein Mann mit schlichten braunen Haaren seine Zigarrenpfeife zurecht. Alles ist einfach an ihm wie an einem bescheidenen Bürger. Über treuherzigen Augen trägt er eine Brille. Obwohl er sehr harmlos aussieht, hat er einen eisenfesten Charakter und ist ein berühmter Wissenschaftler, dieser Philologe Böckh, dessen Altertumskunde ganz Europa bewundert.

Ihr begegnet täglich einem wunderlichen Paare, einem Manne mit schlechtem grauem Mantel und einem alten, auf dem Hinterhaupt hängenden Hute, der eine ältliche kleine Dame führt. Ihr haltet ihn für einen alten kranken Mann, der nichts von der Welt weiß, als was ihm seine Zeitung am Morgen ins Haus bringt, und den niemand als seine Sippe und der Nachbar kennt. Ihr ahnt nicht, daß eine ganze Bibliothek von Gelehrsamkeit, Kenntnissen und Gemüt an euch vorüberschlürft. Er trägt unter dem Mantel hohe Steifstiefel und schiebt mühsam seine schwachen Beine weiter. Der Kopf reckt sich mühsam und müde in die Luft, die kleinen Augen sind wie abgestumpft zugeblinkt, der Mund ist viertelstundenlang ganz unbewegt, das gelbe Antlitz beugt sich zur Seite und sieht wie abgestorben aus. Alle Physiognomik wird daran zuschanden. Dieser Mann aber ist der berühmte Theologe Neander, der seine Schwester spazierenschleift.

Sein Äußeres hat oft zu den komischesten Szenen Veranlassung gegeben, und es hat nicht leicht einer in Berlin Kirchengeschichte gehört, dem nicht auch die Geschichte von Neanders Hosen erzählt worden wäre. Diese Hosen nämlich bezeichnen ganz und gar sein Verhältnis zur bekleideten Welt, zur Welt der Mode und der Gesellschaft.

Neander würde nur sehr schwer begreifen, wie ein Mensch sein Leben darauf verwenden kann, Leibröcke und Beinkleider zu erfinden. Was des Morgens durch die Fürsorge seiner Schwester an Kleidungsstücken auf seinem Stuhle zu finden ist, das zieht er an, weil er sich das so allmählich angewöhnt hat. Einen Gedanken verwendet er nicht daran. Nun besaß er einmal jahrelang nur ein Beinkleid, und es ist heute noch unerklärt, wie ohne Vorwissen der Schwester ein zweites, neues entstehen konnte. Kurz, eines Morgens findet sie die alte würdige Modeste unberührt auf dem Stuhle, der Bruder aber ist bereits in der Universität auf dem Katheder. Man denke sich das Erschrecken! Offenbar ist das treue Beinkleid vergessen. Zwar trägt er auch auf dem Katheder den grauen Mantel, aber ein Mantel verkehrt direkter mit der leichtsinnigen äußeren Welt, er kann zurückgeschlagen werden, und dann sähe man das Unglück. Die Magd wird gerufen, das vergessene Schicksalspaar ihr eingehändigt, sie keucht damit in die Universität – man male sich den seltenen Anblick aus! – sie klopft ans Auditorium und bittet einen der über das schüchtern herabhängende Beinkleid staunenden Studenten, den Herrn Professor herauszurufen. Der kommt. »O Gott, Herr Professor, Sie haben ja Ihre Hosen vergessen!« »Oh, da soll doch der ...« Verzagte Öffnung des Mantels – »Herr Jesses, der Herr Professor haben ein paar neue!« »So?« Der Herr Professor ist ebenso erstaunt darüber und rudert voll unsicheren Triumphes nach dem Katheder zurück.

In einem anderen Auditorium doziert ein großer, stark ausgearbeiteter Mann mit einem kräftigen Gesicht und einer hohen Stirne in geübter Rede. Er hat die Geographie erfunden. Es ist Karl Ritter. Vor ihm war sie eine Tabellenkenntnis, durch ihn ist sie eine Wissenschaft geworden, und zwar vielleicht die interessanteste der Welt. Die Erde hat in seinen Händen tausendfaches geistiges Leben gewonnen. Der Baum spricht, das Blatt lehrt, der Stein, das fremde Tier, das Meer und die fremden Völkerschaften erwecken Gedanken und helfen der Forschung.

Jeder, der just nachmittags über den Opernplatz geht, kann den hochgewachsenen Mann mit schwarzem Frack in die Universität schreiten sehen. Ritter belebt die Erde vor seinem Auditorium so interessant, wie es die üppigste Idealistik nicht vermöchte. Er handhabt sie wie eine leichte Kugel auf dem Katheder. Mit einem Stückchen Kreide zeichnet er ferne Länderstriche rasch und charakteristisch an die Tafel, während die Quellen aus der ältesten und der neuesten Literatur, aus indischen, griechischen und englischen Schriftstellern zitiert werden. Die Kriegs- und Völkerzüge, die den Landstrich hier belebten, hört man vorüberrauschen, man sieht die Tiere jener Gegenden vorüberschreiten, die Menschen treten in ihrer Besonderheit auf, die Sternenwelt, Nebel und Winde geben der Landschaft ihr Gepräge, eine farbige, lebendige, schattierte Welt wird innerhalb einer Viertelstunde neu geboren. Ein Schwamm fährt darüber hin, der Weg geht weiter, ein neuer Erdteil zieht an unseren Augen vorüber.

Da spaziert aber ein kleiner Mann an den Linden hinab, das ist der Historiker Leopold Ranke. Er führt ein Junggesellenleben in Berlin, verkehrt viel mit Staatsmännern, besonders war er oft bei dem verstorbenen Ancillon zu finden. Sein Kopf ist klein und wird rasch herumbewegt, seine Gesichtsfarbe ist zart. Der Akzent seiner Rede erinnert noch ein wenig an Thüringen, und weil er die Schwäche seiner Landsleute mit dem harten und weichen P, T und B, D wohl kennt, nicht aber die wunderliche Bezeichnung brauchen will »hartes P und weiches B«, so hat er die griechischen Bezeichnungen auf dem Munde und sagt: man schreibt es mit Pi oder mit Beta, mit Tau oder Delta. Er stammt aus Wihe, das in der Güldenen Aue liegt.

Chamisso, den langhaarigen, kennt ihr aus dem Musenalmanache. Er hustet langsam nach dem Tode hin, hat aber noch ein lebhaftes Interesse am Leben. Ein neues Buch, das von Chamisso erscheint, wie zum Beispiel seine letzte Sammlung, weckt und gewährt ihm den lebhaftesten und frischesten Anteil. Nehmt euch ein Beispiel an ihm: er ist ein emigrierter Franzose. Als er zu Berlin ankam, konnte er fast nur Französisch, er wurde Page und Offizier, radebrechte Deutsch, ließ seine Familie wieder heimkehren, blieb, radebrechte weiter und ist jetzt, da er sich zum Sterben anschickt, ein deutscher Dichter fast erster Größe! Nehmt ein Beispiel daran und radebrecht ebenso!

Da schlüpft noch ein anderer Dichter durch das Tor, den ihr in Berlin nicht vermutet hättet. Seine Lieder klingen aus grünem Wald und grauer Welt. Wer sucht hinter dem Titel eines Regierungsrates den Dichter Eichendorff. Schlank, von mittlerem Wuchs und Alter, mit zugeknöpftem Rocke und kleiner Mütze, als ginge es zur Jagd, würdig und schnell, verschwindet er zwischen dem Tore hinter den Bäumen.

Soll ich auch Clauren erwähnen? Wenn ich den kleinen Mann nickenden Schrittes ungekannt durch die Menge rudern sehe, mit abgespanntem Gesicht und einer Nase, der man die Schnupftabaksdose ansieht, so ergreift mich ein starkes Gefühl. Clauren kann nichts dafür, er ist die unschuldige Veranlassung. Wie oft betrübt mich der Gedanke, wenn ich mit einem Freunde die Linden entlang unter der bunten, bewegten Menge promeniere, wenn wir in Klage oder Erwartung Ereignisse der Gegenwart besprechen, uns um die geistigen Probleme unserer Tage streiten, der Gedanke, daß die Leute um uns herum nichts von dieser Sorge kennen, sich dafür nicht interessieren und doch auch leben und eigentlich recht haben. Sprecht zum Nächstbesten von der Objektivität der Literatur, von ihren Tendenzen und Perspektiven, er hält euch für verrückt oder er verweist euch in Petitpierres Laden, wo Perspektive zu kaufen sind. Clauren war gerade für diese Leute ein Trost. Leider ist er unserer Kritik zum Opfer gefallen, einer Kritik, die seltsamerweise auch für die Nähmamsells wirksam geworden ist.

Der arme Clauren hat schwere Tage erlebt. Er hat seinen Ruhm und seinen Sohn verloren, den Ruhm ohne große Betrübnis, den Sohn mit schweren Tränen. An »Mimili« denkt er nicht mehr, seit er bei der Post angestellt ist. Sehr schade ist es um sein starkes Erzählertalent, das die übereifrige Kritik gewöhnlich an ihm herauszuheben vergißt. Schade, daß er keine Bildung und keinen Geschmack besaß und nur mit den materiellsten Dingen lockte, mit hunderttausend Talern, mit hübschen Waden, mit Sillery Mousseux und mit Austern – ein Berliner, der aus einer Weinstube kam.

Zwei schwarze Riesen stehen vor dem ehemaligen Kasino auf der Behrenstraße. Dort fanden sich früher zwei Treppen hoch zur Abendzeit die jungen Poeten ein, darunter auch Grabbe und die weniger bekannten Uechtritz und Köchy. Ernste und lustige Torheiten wurden da ausgeheckt. Der ungebärdige Grabbe sprang auf den Tisch und hielt eine Rede an Mamsell Franz Horn, an Heroklot und Gubitz und an den blinden Weinhändler Sisum. Es wurden kleine literarische Bosheiten ausgeheckt und mit Adam Müller korrespondiert. Köchy führte auf einem tragbaren Theater Holberg, Shakespeare und Parodien auf. Zuweilen steckte der feine Wolf den Kopf in die Türe, um eine Visitenkarte abzugeben, oder Ludwig Devrient kam und trug in trunkenem Mute eine Rolle vor. Eine hübsche Brünette aber kredenzte Punsch und wurde mit Küssen und Gedichten belohnt.

Die Behrenstraße in Berlin gilt für fashionable, sie ist nicht weit von den Linden und führt von der Wilhelmstraße bis zur kleinen, runden katholischen Kirche, die sich als einzige Kirche Berlins durch ihre Bauart auszeichnet. Das heißt, außer ihr zeigt noch die Werdersche Kirche eine sehr hübsche Taschenausgabe des gotischen Stils.

Es gibt selten ordinäres Geräusch auf der Behrenstraße, meist ist nur das Rasseln vornehmer Wagen zu hören oder der Hufschlag eines Pferdes, das vom Roßkamm vorbeigeritten wird. Die Wohnungen sind teuer. Besonders Damen und Fräulein, die in der Liebe resigniert haben, werfen hier ihre ganze Leidenschaft auf die Zimmervermietung. Sie nehmen Stockwerke in Pacht, möblieren sie appetitlich, hängen Zettel über die Haustüren, » Chambres garnies à louer«, welches Französisch sie aus Karlsbad, Wiesbaden oder Baden-Baden erfahren, und verlangen den monatlichen Preis mit wegwerfender lispelnder Stimme in Louisdors. Wer nach einem französisch angekündigten Zimmer fragt, muß immer mehr Geld haben, als wer bloß Deutsch lesen kann. Mancher schüchterne Student, der sich auf Wohnungssuche hierher verirrt, kriegt einen Schreck für seine Lebenszeit und erzählt noch als Pfarrer fünfzig Jahre später, das Quartier der haute-volée in Berlin sei ein gar nicht großes Quadrat in der Friedrichstadt, sechs Straßen breit von den Linden bis an die Leipziger Straße und nur vier von der Markgrafen- bis an die Wilhelmstraße. Ein paar angrenzende Punkte ausgenommen sei alles übrige nicht wählbar. Das alte Berlin, Kölln und die Königsstadt gehöre den Kaufleuten und dem Handel.

Über dem Kasino in der Behrenstraße ist es jetzt still. Wie viele solche Behausungen entstehender Dichterzirkel hat Berlin aufzuweisen! In der Weite der Straßen liegen sie versteckt, wer weiß, wie nahe die Zeit ist, wo aus ihnen die Blüte einer neuen Poesie wächst. Wie groß ist das Erbe, das uns aus dem alten Kasino erwuchs! In jedem Winkel Deutschlands zwitschert jetzt ein Schriftsteller, hinter jeder Ecke ein Dichter, dessen Ideen dort geboren wurden.

Aber wie viele Talente dieser Zeit müssen jetzt noch in allen Ecken unseres Vaterlandes verkrochen sein! Es ist auffallend, wie wenige Leiern und Lorbeeren dieser Generation verliehen wurden.

Das neue »Alte Kasino« auf der Behrenstraße, weiter oben an der Charlottenecke, ist gegen das Vergessenwerden gesicherter als das alte »Alte«, weil sich interessante politische Reminiszenzen daran knüpfen. Zwei Treppen hoch arbeitet Tag und Nacht Zschoppe, ein wichtiger Staatsmann des Konservatismus; im ersten Stocke der bekannte Dichter Stägemann, ein grauer, sanfter Mann, der seit mehreren siebzig Jahren den kleinen, festen Körper auf lahmen Füßen trägt. Er wird immer dichterischen Herzens bleiben und besitzt heute noch seine weiche, schöne Stimme, mit der er seiner Geliebten die ersten Sonette vorsprach.

Still ruht das Haus auf festen Pfeilern. Die verschiedensten Gedanken wirken darin. Wie mag der Weltgeist, der uns auf mannigfachste Weise gebären läßt, über uns lächeln, daß wir stets unsere kleinen Verschiedenheiten für so unerläßlich halten?


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