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Wie lange war es her, daß ich von meiner Heimat ausgezogen, um das Glück zu suchen! Das Ziel hatte sich fortwährend in meinen Augen verschoben. Aber der Trieb nach vorwärts und immer weiter war der gleiche geblieben. Ich hatte manches gesehen, viele meiner Ansichten waren verändert, ich hatte gelernt, daß ich vordem die Grenzen meiner Heimat zu enge gezogen, überall, wo ich auch gewesen, hatte man Deutsch gesprochen, war es auch nicht so schwer gewesen, sich daheim zu fühlen. Nun fuhr ich wieder über Berlin nach Hause. Aber ich wußte nicht recht zu sagen, was ich eigentlich fühlte.
Bei Frankfurt sah ich die Oder wieder, meinen alten schlesischen Genossen, er kam von Breslau herab, hatte die alten Häuser gesehen und war auch an der stillen Wohnung vorübergezogen, von der aus ich manchmal traurig zu ihm herabgeblickt, traurig vor Liebe und Ahnung größerer Welten. Es sind immer neue Wellen, die solch ein Fluß mit sich führt. Das Wasser, das mir jetzt bei Frankfurt begegnete, hatte ich nie gesehen, und dennoch war es mir befreundet. Der Mensch braucht wenig Anregung, um zu lieben.
Hier treibt der Fluß Bäume und Grün aus dem Boden der Mark. Sand, Kiefern- und Birkenwäldchen laden euch auf dieser Straße zu beschaulichem Verweilen.
Ich kam nach Grünberg, der ersten schlesischen Stadt, wo, Gott sei es geklagt, unsere Rebe wächst.
Es wurde Abend, als midi die Postkalesche den Feld- und Waldwegen der Vaterstadt immer näher brachte. Ich kannte schon alle großen Bauerngehöfte, wußte, wieviel Pferde und Rinder sie hielten. Alle kleinen Interessen dieser Landbesitzer kamen mir wieder in die Erinnerung. Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich ihnen aufmerksam zugehört, und ich entsinne mich noch, welch eine Traurigkeit sie stets in mir weckten, obwohl ich nicht wußte, warum.
Jetzt sahen die ungastlichen Wohnungen so ausgestorben aus, daß ich mich dessen kaum freuen konnte, wie reicher an Wünschen und Gedanken ich jetzt heimkehrte, als ich je hatte ahnen dürfen. Der Mond schien in die nahe Waldstrecke, die Frühlingsluft strich um mich. Selten guckte ein faules Gesicht aus einem Fenster, aufgeweckt vom ungewohnten Rasseln des Wagens.
Es schlug neun aus der Ferne. Wie wohl kannte ich diese Glocke, wie oft hatte ich sie selbst gezogen. Sie war mein patriotischer Stolz. Christian, der mit gegen die Franzosen gefochten hatte, hatte mich oft durch die Versicherung beglückt, auch im großen Paris klängen die Glocken nur dünn und jämmerlich neben der von Sprottau.
Der Pappelweg und das Kirchlein erschienen. Es war ein merkwürdiges Kirchchen, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte, der Inbegriff des ersten mystischen Katholizismus. Weit abgesondert von der Stadt liegt es auf einem Hügel, an dessen Fuße schwarz und langsam die kleine Sprotte fließt. Es ist immer verschlossen, nur einmal des Jahres zieht die Geistlichkeit in weißen Spitzenkleidern und mit dampfendem Weihrauch hinaus, um Gottesdienst darin zu halten.
Dort hat auch der »schöne Gottlieb« gehaust. Erst neulich soll wieder ein Menschenantlitz oben am Glockenfensterchen gesehen worden sein, obwohl der Propst allein den Schlüssel habe und nur alle Jahre einmal hinauskomme.
Der schöne Gottlieb sollte der Anführer einer Räuberbande sein, der unter die Spitzbuben gegangen sei, weil man ihm seine Geliebte verweigert habe. Im Kirchlein habe er sich mit ihr getroffen. Oben am Glockenfensterchen habe er oft gesessen und auf das Treiben der Leute unter ihm herabgesehen. Ja, man erzählt, es gebe im Kirchlein ein so vortreffliches Versteck, daß der schöne Gottlieb stets am Kirchtage die Messe mitgefeiert und sogar mit seiner Geliebten geliebäugelt habe. Irgendein solider Bürger sei jedesmal an einem solchen Tage mit einer Ohrfeige überrascht worden, von der er nicht hätte sagen können, woher sie komme.
In der Heide sei es nun später dem schönen Gottlieb doch mißlungen. Man habe ihn gefaßt und unweit des Kirchleins, wo ein großer steinerner Galgen stand, in Ketten aufgehangen. Bis auf den heutigen Tag aber sieht man scheu nach dem Glockenfenster hin. Viele wollen den einen Laden schon an manchem Morgen offen gesehen und ein Gesicht erblickt haben. Das soll der schöne Gottlieb sein, der sich wieder den Fluß, die Wiesen, Gebüsche und das Städtchen betrachtet, solange der düstere Morgennebel darauf ruht.
Man kann also denken, daß ich nicht ohne lebhaften Anteil jetzt bei hellem Mondschein vorüberfuhr. Das Kirchlein stand wie sonst mit festgeschlossenem Fenster da, die Gebüsche und Bäume waren höher gewachsen, der Putz von der Mauer und vom Türmchen war stärker abgefallen.
Wie lange hast du schon gelebt, dachte ich, und doch nimmst du noch Interesse an deinen jugendlichen Erinnerungen, an all den unsichtbaren Geistern, die aus dem dämmernden Himmel hinein in dein jetziges Leben treten. Kommst mit den gleichen, nach unbekannten Dingen verlangenden Träumen wieder in die Heimat zurück, wie du ausgezogen. Und ist es nicht am Ende so: wem die Heimat nicht Sehnsucht nach dem Himmel weckt, der hat keinen Himmel zu hoffen.
Wahrlich, in der Vorstadt saßen die Leute, so, wie sie einst gesessen hatten, noch abends um neun vor ihren Türen. Die Männer in Hemdsärmeln und mit langen Pfeifen, die Frauen mit Strickstrümpfen. Der Mond ließ ihre Gesichter erblassen, aber ich erkannte alle. Sie waren etwas älter geworden, aber nicht sehr verändert. Man altert langsam in einer kleinen Stadt. Man vertrocknet von innen heraus, und das wird spät bemerkt.
Noch wie sonst fragte sich alles: »Wer mag in der Kalesche sitzen?« Noch wie sonst war eine Kalesche ein Ereignis, das die Leute nicht schlafen ließ, bevor es von Haus zu Haus aufgeklärt war.
Als man sich am anderen Morgen dareingefunden hatte, daß Laubes Heinrich in der Kalesche gekommen, als der erste Anlauf der Begrüßungen von Vettern und Muhmen durchgefochten war, da ging ich zum Pfingstschießen.
Die Signale schrien, die Jungen rannten mit verspäteten Bandelieren und gelben Nankinghosen, die Trommeln wirbelten. Die große Armee schien wieder im Anzuge zu sein – die Schützengarde rüstete sich zum Ausmarsch.
Vielleicht sind in wenigen Jahren die alten Sitten vergessen. Mit Recht war die alte Garde schon sehr erbittert gegen die uniforme Tracht der jungen Leute. Es kann ein archäologisches Verdienst begründen, wenn ich diesen Auszug der Kinder und Väter Sprottaus beschreibe. Vielleicht sticken die Enkel einst deshalb meinen Namen auf eine der Fahnen.
Der erste Held des Tages ist ein Trompeter, genannt Hóraz. Er fängt bereits am frühen Morgen an zu blasen. Die Wichtigkeit seines Amtes – dunkelgrün und ockergelb sind seine Farben – erlaubt ihm übrigens kein triviales Gespräch. Offiziell zürnt sein Gesicht. Von der Würde dieses festlichen Tages lebt Hóraz den übrigen Rest des Jahres. Wo er gefoppt wird, wo er anbetet und keine Erhörung findet, da erinnert er an seine gelbgoldenen Epauletten.
Dann treten die Tamboure auf, die sich zum Ärger ihrer Ehehälften seit mehreren Wochen stachelige Bärte wachsen ließen. Sie tragen rote Hahnenfedern auf den Hüten und trommeln ohne Erbarmen. Die Jugend begleitet sie mit patriotischen Gefühlen in hellen Haufen.
Die alte und junge Garde versammelt sich einzeln. Man wundert sich alle Jahre, daß die Bürger nicht pünktlich kommen. Man kann nicht antreten, weil noch die wichtigsten Mitglieder fehlen, man spricht über die Witterung, über Getreide- und Wollpreise und ob der Hauptmann reiten werde oder nicht. Das war von jeher der wunde Punkt. Durchschnittlich existiert gar kein Reitpferd im Städtchen. Dann ist der Hauptmann jeder Sorge enthoben und geht stolz in den blanken Reitstiefeln zu Fuße. Im anderen Falle, wenn ein Gaul zu haben ist, treten größere Übelstände ein. Die edle Reitkunst wird aus vielen Gründen in meiner Vaterstadt nicht kultiviert. Die etwaigen Reitpferde bezeigen gewöhnlich eine unangenehme Aversion gegen die kriegerische Janitscharenmusik. Sie sind Kinder des Friedens und protestieren meist energisch gegen den Schlachtenlärm. Oft verschwand schon der Hauptmann vor der Front und erschien wieder im dichtesten Haufen der Garde. Die fühlte sich bei solcher Gelegenheit gar nicht berufen standzuhalten und patriotische Äußerungen von sich zu geben. Es hat sich einmal zugetragen, daß der Hauptmann in der Nähe des Schießhauses, als das Heer über die Brücke zog, ganz allein unten mit seinem Rosse durch den Fluß schwamm. Erstarrt hat der Zug stillgehalten, die rasende Musik wurde mit Mühe gedämpft. Tüchtig, wenn auch naß, kam der absichtslos kühne Schwimmer wieder ans Land und stellte mit einer zweideutigen Bewegung Mut und Vertrauen wieder her. Im nächsten Jahre hat indessen die Frau Hauptmännin ein besonnenes Veto eingelegt, und es wurde von mehreren Seiten unverhohlen geäußert, daß die würdigsten Leiber der Stadt nicht fürderhin gefährdet sein dürften. Der Schimmel erschien nie wieder vor der Front.
Dieses Jahr fand sich ein besonnener brauner Engländer vor, der die stürmische Zeit der Jugend hinter sich hatte und von dem sich ehrbare, solide Bewegungen erwarten ließen. Er hatte die Proben mit schöner Ruhe bestanden, sogar Hórazens Trompete hatte ihn nicht alteriert. Der Herr Hauptmann erschien zu Roß, die Garde trat an und setzte sich stattlich in Marsch. Nachzügler stürzten zwar noch aus manchen Häusern, und beflissene Gattinnen eilten hie und da in ihren Hauskleidern herbei, um dem Gemahl das vergessene baumwollene Schneuztuch oder die grüne Fourierbinde zuzutragen, oder auch mit drei hastigen Stichen die lockere Kokarde an das schlanke schwarze Schiff des Hutes festzunähen. Aber nichts hielt mehr wesentlich den kriegerischen Ungestüm auf, sobald der alte klassische Marsch, das weltbekannte »Radabum«, begonnen hatte.
Dieser Sprottauer Marsch ist Musik des Friedens und der Heiterkeit. Ich glaube nicht, daß ihn Patrunke, der Stadtpfeifer, erfunden hat, aber er spielt ihn seit Menschengedenken. Mein Vetter erfand den berühmten Text, »Radabum, radabum, tschin, tschin«, als wir einst heimfuhren zum Pfingstschießen in der goldenen Ferienzeit. Davon blieb ihm auf allen Universitäten sein Name. Er wurde Studentenmarsch und machte die Runde durch ganz Deutschland.
Mit dem »Radabum« beginnt das eigentliche Pfingstschießen, es ist das deutsche »Evan evoe« der Griechen. Mit dem ersten Trommelschlage werden die Fahnen aufgerollt, der spanische Paradeschritt lenkt sich zum Bürgermeister, und es wird ihm ein Walzer aufgespielt. Der Bürgermeister traktiert dann die Ratsherren und die Herren Fouriere mit Wein und kaltem Braten. Der Tausendsappermenter des Städtchens tritt auf, der Fahnenschwenker, und zeigt seine Künste. Alles schweigt und staunt. Herr Ritter ist der einzige seiner Kunst, und weitsichtige, sorgliche Bürger fürchten, sie werde mit ihm aussterben. Er trägt einen kleinen, niedlich runden Hut, einen braunen, würdigen Frack mit talergroßen Stahlknöpfen, ein kurzes dunkelseidenes Unterkleid und Strümpfe, gemischt aus Seide und Baumwolle. Alle seine Bewegungen sind kurz und leicht und stets von einem gemessenen Neigen des Kopfes begleitet. Eines seiner graziösen Beine pflegt vorgestreckt zu weilen und leicht und anmutig in seiner Kraft zu spielen. Im Arme ruht die Fahne, und sein würdevolles Lächeln beweist, wie er der großen Trommel und den schreienden Klarinetten gerne den Spektakel gönnt. Er hat sich durch lange Erfahrungen überzeugt, daß seine eigenen Leistungen, sobald die Reihe an sie kommt, alles übrige vergessen machen.
Und es schweigt der Lärm, Patrunke bringt mit Energie den Jungen zur Ruhe, der seine Pikkoloflöte von neuem einsam das »Radabum« schreien läßt und entschuldigt mit einer passenden Geste nach der unreifen Figur des Künstlers die Störung. Dann gibt er das Signal noch einmal, es fliegt von Ellenbogen zu Ellenbogen der Musiker, und ein gedämpfter Zephirwalzer entwickelt sich. Herr Ritter schreitet mit Grazie vor, senkt grüßend die Fahne, und auf seinem sonst ernsthaften Gesichte erscheint süße Zufriedenheit und Genugtuung. Er schwenkt die Fahne rechts, er schwenkt sie links, er bugsiert sie zwischen seinen Zebrastrümpfen hindurch, ja, er wirft sie in die Luft und fängt sie lächelnd wieder auf, während die Jugend staunt und der Zephirwalzer trotz des Stampfens und Dräuens des abgehärteten Patrunke zum Schweigen kommt. Ritter nimmt wieder sein Hütchen ab, zieht sich mit Anmut zurück und genießt das allgemeine Staunen über seine Geschicklichkeit, indes er schweigend und lächelnd sich mit dem blauen Baumwolltuche den Schweiß abtrocknet.
Die große Trommel dröhnt und weiter geht der Zug, lebhafter bereits, aber immer würdig. Im Schießhause sitzen die Honoratioren, spielen l'hombre, rauchen Tabak und trinken Bier. Sie begrüßen Gäste aus der Umgebung und sehen dem Tanze zu, der sich im mittleren Saale entwickelt. Diese Säle sind nämlich durch offene Bogen verbunden und bilden ein stattliches Lokal. Im dritten sitzen die eigentlichen Bürger, schmauchen, spielen Karten und sind in ihren Äußerungen nicht blöde.
Man kann hier artig zuschauen. Mütter und Töchter sitzen dort, die Mütter meist noch in jenem Staate, den sie vor Jahren getragen, die Töchter aber streben schon nach Modernem, sei es nur mit einem Bande oder einem Steinchen von Glas. Die Burschen schweigen und sind über Bequemlichkeit höflich. Im Tanze aber rasen sie, bis sie glühen und dampfen und Heiratspläne mit bescheidenen Vergleichen der Umstände unter ihren Busenkrausen hegen. Mit Wohlgefallen sieht man die dreisteren, frischeren, geschickteren Bürgersöhne sich tiefer in den linken Saal hineinwagen, um manche Honoratiorentochter oder Tochter eines kleinen Landedelmannes zum Tanz zu holen.
Es war auch zu Pfingsten bei den heimatlichen Saturnalien, da ich Weisflog zum ersten Male sah. Zeitgenossen werden sich erinnern, daß in den frühen zwanziger Jahren viel von diesem Schriftsteller gesprochen wurde. Wir Gymnasiasten, die neben Julius Cäsar auch die deutschen Zeitungen lasen, waren sehr stolz auf unseren Landsmann, und wir Sprottauer erst recht. Weisflog war aus Sagan, das war bloß zwei Meilen von uns entfernt. Es war also ein sehr großer Moment, als es hieß, Weisflog sitze in einer Bude und würfle mit unseren Honoratioren. Als Gymnasiast hatte ich ein bestrittenes Recht, mich unserer Noblesse schüchtern anzuschließen. Ich wagte mich also zagenden Schrittes in jene Bude. Da saß er leibhaftig, der Mann der Historien- und Phantasiestücke, der Autor der »treuen Seele von Zwickau«. Er war nicht groß, aber lang. Sein Kopf war vielfach spitz und klug, alle Linien drängten sich nach vornehm zu einem Winkel. Das dünne Haar lag ruhig und still und störte die lange Stirne nicht, die zuweilen zuckte. Spitz und scharf sahen die verlebten Augen auf die Würfel. Es war eine müde Lebhaftigkeit in diesem Auge, das genug von der Welt gesehen hatte. Nur eine schöne Blume, eine Schüssel Austern, ein Haufen Gold oder ein niederländisches Bild konnten es auffrischen, und wenn er Musik hörte, wurde es lebendig.
Als Patrunke, der Stadtmusikus, in der Nähe dieser Bude plötzlich das vaterländische »Radabum« entfesselte, da erschien ein Zug um Weisflogs Mund, der bezeugte, es sei noch ein reicher Fonds humoristischer Laune im Verfasser des »Zwiebelkönig Eps«. Er fragte leutselig, wie der Stadtpfeifer heiße. Der Herr Registrator hielt ein mit dem Wurfe, neigte sich in vorbildlicher Weise ein wenig schief und ließ sich vernehmen: »Die Leute nennen ihn Patrunke, er schreibt sich aber Palrunki und führt die Klarinette, verehrter Herr Prokonsul.« »Schnöde Welt«, sagte lächelnd Weisflog, und der Herr Registrator lächelte gefällig mit, obwohl er den Ausdruck nicht verstand.
Auch in den Momenten, da er schnupfte, war immer Laune in Weisflogs Gesicht und Augen. Er führte eine lange, spitze Nase, die unzufrieden aussah. Zuweilen beruhigte er sie mit Schnupftabak, diesem Sinnbilde pikanter Versprechungen.
Wurde plötzlich eine große Summe im Spiele frei, da fuhren seine langen, mageren Finger wie Raubvögel auf das Geld los: »Das ist mein Spiel, werfen Sie zu, Wertgeschätzter, ich halte, ich halte es dreimal hintereinander.« Ehern, leblos, furchtlos, hoffnungslos war sein Gesicht, wenn der Wurf fiel, keine Freude, kein Leid äußerte sich, wenn er gewann oder verlor. Die dürren Finger strichen ein oder zahlten aus wie Kommis, die nichts von dem höheren Sinn des Geschäftes ahnen. So saß er da, stets hinter dem Tische an der Wand, ein blauer langer Rock verhüllte die magere, weitläufige Figur.
Der Gymnasiast empfand damals nichts als Scheu und Respekt. Aber die Bilder bleiben im Gedächtnis, und wenn wir sie im späteren Alter hervorholen, so sprechen sie plötzlich alles aus, was früher nur als unsichtbare Eindrücke in ihnen schlummerte. Es war alles verlebt an Weisflog, der Geist, das Herz, die Kunst, das Leben. Seine Schriften waren nur Gras von seinen Gräbern. Er schrieb erst in den letzten Jahren seines Lebens für die Öffentlichkeit, da er schon ruiniert war. Wie viele Dinge sind erst als Ruinen interessant!
Seine unheimliche Erscheinung hatte aber etwas dämonisch Anziehendes. Ich suchte ihn in Sagan auf, als die Leute sagten, er sei mit dem Sterben beschäftigt. Was zischelte und raunte man sich damals alles zu! Er könne nicht leben und nicht sterben, die juristischen Streiche eines harten Herzens, die Gewissenlosigkeit eines dissoluten Lebens zerrten ihn auf dem Lager umher. Ich mochte nie daran glauben. Aber als er gestorben sein sollte, da war es Spiegelfechterei, da existierte er noch. Sein Haus war verschlossen, nachts ging ich mit ihm in seinem Garten spazieren. Dann begleitete mich Weisflog noch ein Stück auf meinem Heimweg nach Sprottau, und daher kam das Gerücht, der Prokonsul ginge um. Unsere Unterhaltung war vernünftig und bürgerlich. Wurde er dabei unbürgerlich tragisch, wenn er seiner Schulden gedachte, so wies ich ihm das im Mondschein schlummernde Städtchen. Sagan ist durch Vandervelde und Wallenstein bekannt geworden, es hat ein Schloß und eine mediatisierte Fürstin. Sie soll sehr schön gewesen sein und viel geistigen Geschmack besessen haben. Man erzählt, sie habe im Freiheitskriege eine Rolle gespielt und Metternich lebhaft und erfolgreich zugeredet, sich von Napoleon entschieden abzuwenden.
Übrigens ist Sagan die Grenzstadt zwischen Schlesien und dem alten Sachsen, der Lausitz, und hatte daher früher für die Schmuggler eine große Bedeutung. Die schönsten Westen zur Tanzstunde kamen von Sagan. Sagan liegt wie ein indianischer Flecken. Seine wenig hervorragenden Türmchen sehen primitiv und anfänglich aus, man merkt ihnen keine Kultur an. Weisflog mußte immer lachen, wenn ich sie ihm zeigte.
Von Sagan nach Sprottau sind, wie gesagt, nur zwei kleine Meilen. Weisflog begleitete mich eine kleine Meile, und dann ging ich ebensoweit mit ihm. So kam ich oft wieder nach Sagan zurück, und wir hatten Zeit, über seine Gläubiger und seine künftigen Pläne zu sprechen. Sterben mußte er in kurzem, dies stand fest. Seine Schulden waren höher, als was er sich durch seine Schriften je erwerben konnte, seine Justizgeschäfte florierten auch nicht besonders. Auch hatte er gar zu viele poetische Gelüste. Heute verschrieb er sich eine Straßburger Gänseleberpastete, morgen die teuersten Blumen aus Haarlem oder Brüssel, übermorgen die ersten Austern und zu gleicher Zeit die neueste Partitur aus Mailand. Wenn ich dies Weisflog vorwarf, so begriff er mich nicht und fand die Jugend mit ihren Forderungen kindisch, die das Genie in Alltagsgrenzen schmieden wollten. Aber seine Entgegnungen wurden doch mit der Zeit kleinlaut, und er meinte am Ende auch, das Beste sei zu sterben.
Nach seinem Tode reisten wir ab und überließen »Zwiebelkönig Eps« alles übrige. Er hat auch alles ganz scharmant gemacht und für das Begräbnis aufs beste gesorgt. Unermüdlich lief er den Leuten unter der Nase herum, und es wurde viel geweint von Gläubigern und Gläubigen, wie ausdrücklich im Wochenblättchen stand.
Wir reisten ins Gebirge. Am letzten Hause von Hermsdorf hielten wir still. Dort wohnt Weisflog bei einem böhmischen Musikanten und kuriert sich durch eine einfache Lebensart. Er trinkt Molken, ißt Brunnenkresse, liest den Gebirgsboten und die Abendzeitung und läßt sich von seinem Wirte einfache alte Volkslieder vorspielen. Anfänglich kam er sehr herunter und klagte bitterlich, es sei gegen seine Natur.
Die Zeit überdeckte mein Weisflogsches Interesse. Ich habe mich nicht mehr um ihn kümmern können, und es läßt sich annehmen, daß er doch noch an Brunnenkresse und Molken gestorben ist.
Der Postillon fuhr mich den alten Schulweg nach Glogau. Wie oft war ich hier gewandert oder auf trägen, schleichenden Wagen gereist, mit einem Kopfe voll Vokabeln und Formeln, mit einem Herzen ohne Mut, das die Schulsorgen zusammengeschrumpft hatten.
Man soll sich der überstandenen Schulleiden mit Freude erinnern. Das könnte ich nicht sagen. Das drückende Alpgefühl des terrorisierten Gymnasiasten überkommt mich noch heute, wenn ich an die langen eingesperrten Vormittage denke. Die Sonne lag fern auf einem hohen Dache und kam nicht zu uns. Wir mußten festsitzen, wenn uns auch ein verirrtes Frühlingslüftchen mit Drang und Sehnsucht erfüllte. Mehr als einmal sind mir die Tränen in die Augen gestiegen, wenn ich morgens um sieben Uhr mit dem Bücherpack durch die Straßen wanderte. Rotgolden fiel die Sonne auf die taubedeckten Gassen, die Kaufmannsladen öffneten sich, Wagen und Reiter bewegten sich nach dem Tore zu, und Soldaten marschierten mit klingendem Spiel auf das Glacis hinaus – und ich mußte in die abgesperrten Zimmer, aus denen kein Entrinnen möglich war.