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XVIII.

Religion und Natur

Wohl dem, der Religion besitzt! Ein Kind Gottes wandelt er in den immer grünen Gärten, dem Paradies seines Glaubens, nicht fürchtet er und nicht flieht er den stählenden Wettstreit des Lebens, nichts braucht ihm fremd zu bleiben, was menschlich ist, in Lust und Leid, in Forschen und Irren, in Gutem und Bösem; denn er weiß, daß er ringen soll in der Welt, um würdig zu werden, ein Herr der Welt zu sein. Aber er kämpft seinen Kampf nicht mit dem Trotze der Verzweiflung, sondern mit dem tröstlichen Gefühl, daß nicht der Erfolg, sondern der gute Wille ihm angerechnet wird, daß ihm am Tage der Rast die Arme des gütigen Vaters geöffnet sind; selig macht ihn der Glaube.

Wer möchte nicht solchen Lebens sich erfreuen? Und doch sagen viele Tausende: Ich kann es nicht! Sie möchten es wohl, aber die Wegweiser sind ihnen in einer fremden Sprache geschrieben, in einer Sprache, die sie nicht mehr reden, ja die sie für sinnlos halten. Und sie meinen, daß Wege wie Ziel verfallen sind durch die Entwicklung der Menschheit. Wenn es gelänge zu zeigen, daß sie dennoch offen stehen, Wege wie Ziel, und heute mehr als je, weil das Wissen um so viel klarer, der Wille um so viel reiner geworden ist! Sollte es nicht vielen willkommen sein?

Dem Forscher, der den Gesetzen des Universums nachspäht, erscheint wohl in günstigen Stunden das Leben der Menschheit unter dem Gesichtspunkt des Ewigen; weit unter seinem umschauenden Auge brechen sich die Wogen der auf- und abflutenden Endlichkeit. Dem Künstler zeigt die Zauberin Phantasie den Widerstreit der Wirklichkeit gelöst in der Harmonie der Schönheit; ihn trägt seine schaffende Kraft über die Niederungen des Daseins. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß Wissenschaft und Kunst direkt es sind, die solchen Festtag zu schaffen vermögen. Es ist eine Form der Religion, die hier zum Durchbruch kommt, nur daß sie sich der speziellen Mittel bedient, die Wissenschaft oder Kunst darbieten, weil der Geist des Forschers, des Künstlers diese Sprache versteht. Nenn die Erkenntnis vom Zusammenhang der Dinge bei jenem, die künstlerische Phantasie bei diesem wirken hier nicht als solche, theoretisch oder ästhetisch, sondern in der Form des Gefühls selbst; sie haben sich in herrschende Lebensstimmung umgesetzt, in ein Gefühl des Vertrauens auf die Realität der eigenen Ideale, und das ist Religion. Aber diese Formen religiöser Stimmung sind doch nur wenigen Bevorzugten gegeben, und auch diesen nur in seltenen Stunden höherer Erregung. Religion im allgemeinen Sinne dagegen freut sich der Gunst, jedermann zugänglich zu sein jederzeit, weil sie den Kern der Persönlichkeit ergriffen hat. Von dieser Religion betrachten sich soviele abgesperrt durch das Bekenntnis. Nun kann man freilich Religion niemand geben; sie will ergriffen sein. Aber das Hindernis, das im Inhalt des Dogmas, im Widerspruch von Erkenntnis und Glauben angeblich liegt, das ist nur ein scheinbares, das kann man, mein' ich, wegräumen. Durch sein Wissen braucht sich niemand im Glauben beirren zu lassen.

Fragt man einen derer, die sich nach ernsthafter Überlegung, vielleicht nach schweren inneren Kämpfen, vom Glauben losgesagt haben und dem religiösen Leben fernstehen, so hört man in der Regel die Antwort: »Ich kann es nicht glauben, daß außer und über der Naturnotwendigkeit eine unendliche Macht mit solchen Eigenschaften existiere^ wie gerade ich als Mensch sie voraussetzen müßte, um ihrem Walten zu vertrauen.« Und fragt man weiter »Warum nicht?«, so hört man wohl, die Existenz einer solchen Macht sei mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung nicht in Einklang zu bringen; und zwar ebensowenig im positiven wie im negativen Sinne. Man finde Gott nicht in der Erkenntnis (sie bedürfe dieser »Hypothese« nicht), und man könne seine Existenz nicht beweisen; ja die Existenz einer solchen Macht widerspräche sogar den Forderungen der Wissenschaft, weil sie die Geschlossenheit der Naturgesetzlichkeit aufhebe.

Die erste Behauptung ist in gewissem Sinne richtig, die zweite ist durchaus falsch; und beide zusammen sind für die Frage nach dem Rechte der Religion vollständig belanglos. Denn die Sache verhält sich so, daß Religion mit der theoretischen Erkenntnis direkt überhaupt nichts zu tun hat. Mit aller Genauigkeit der Beobachtung, mit aller Fülle des Wissens, mit aller Schärfe des Denkens kann man im Inhalt der Naturerkenntnis jene unendliche Macht nicht theoretisch nachweisen, an die wir glauben; aber ganz ebenso unmöglich ist es, auf diese Weise das Geringste gegen die Möglichkeit dessen zu beweisen, was unser Glaube verlangt. Denn die Begründung der Religion ist durchweg unabhängig von den Mitteln, den Zielen und dem Erfolg unsres Erkennens durch den Verstand. Fragt man zweifelnd: Warum sollen gerade die Menschen auf dieser kleinen Erde begnadet sein, einen Gott zu haben, der auf sie hört, der ihnen so merklich ähnlich ist, – so ist zu entgegnen: Was ist groß und was ist klein gegenüber dem Unendlichen? Gilt doch im Größten wie im Kleinsten dasselbe Gesetz. Nicht Raum und Zeit und Natur verbinden uns mit Gott, sondern das Gefühl des Vertrauens. So, wie wir, werden auch alle andern vernünftigen Wesen in anderen Weltsystemen sich mit ihrem Gott zusammengehörig fühlen. (Vergl. darüber ausführlicher den Vortrag des Verfassers »Religion und Naturwissenschaft«, Leipzig 1904.)

Man hört es häufig von den Gegnern der Religion triumphierend betonen, daß Kant die Beweise für das Dasein Gottes endgültig widerlegt habe. Sehr richtig, nämlich die theoretischen Beweise; sagen wir auch schlechthin die Beweise, indem wir das Wort »beweisen« nur im theoretischen Sinne, d. h. durch die Mittel des Denkens, im Gegensatz zur wollenden und fühlenden Tätigkeit des Bewußtseins, verstehen. Aber man darf nicht vergessen hinzuzusetzen, was Kant selber betont, daß er damit nicht beweisen wolle, es gebe keinen Gott, sondern daß er im Gegenteil zugleich alle Beweise widerlegt habe, durch die man die Leugnung Gottes stützen zu können meint. Er zeigte nur, daß der Verstand über die Existenz Gottes überhaupt nichts ausmachen könne, nichts dafür, aber auch nichts dawider, und daß damit den praktischen Forderungen des Glaubens einfürallemal freies Feld geschaffen sei.

Die Natur ist eine Realität. Sie besteht darin, daß es in Raum und Zeit eine Ordnung des Geschehens gibt, welche undurchbrechlichen Gesetzen unterliegt. Dies anerkannt zu haben und als Grundsatz festzuhalten ist der Vorzug und eine unerläßliche Bedingung des modernen Kulturlebens. Auf einem Mißverständnis über die Bedeutung dieses Grundsatzes beruht es dagegen, wenn die naturalistische Weltanschauung ihn dahin erweitert: »Die Realität der Naturgesetzlichkeit ist die einzige Realität, die es gibt.« Die Gegnerschaft sowohl gegen die dogmatische Einkleidung des Glaubens als gegen die Religion selbst beruht vornehmlich auf dem weit verbreiteten Irrtum, daß die Naturgesetzlichkeit alle andern Realitäten ausschlösse, daß ihr eine absolute Geltung zukäme. Das Interesse des modernen Menschen richtet sich heute ebenso einseitig auf die Natur, wie sich das Interesse des christlichen Mittelalters einseitig auf den religiösen Glauben konzentrierte. »Gott und die Seele will ich erkennen.« »Und nichts weiter?« »Gar nichts weiter.« So redet die Vernunft zur Seele in den Selbstgesprächen des Augustinus. »Die Natur und ihre Gesetze will ich erkennen und anerkennen, und nichts weiter,« so sagt der glaubensfremde Naturalist.

Die Versöhnung der mittelalterlichen und der modernen Einseitigkeit ist die neue Kulturabgabe, und zur Möglichkeit ihrer Lösung den Weg gezeigt zu haben ist das unsterbliche Verdienst Kants. Die Versöhnung aber kann nicht dadurch geschehen, daß man die eine Realität der andern aufopfert, wie der Materialismus den Glauben, der Supernaturalismus die Erkenntnis, oder daß man zwischen beiden äußerlich ein Kompromiß zustande zu bringen sucht, wie es der Rationalismus anstrebt. Es hieße die Wissenschaft und damit das Hauptmittel menschlichen Kulturfortschritts aufheben, wenn man ihr auf Grund religiöser Motive Vorschriften über ihre Ziele und Ergebnisse machen wollte; und es hieße die Religion schädigen, wenn man sie auf Grund der naturwissenschaftlichen Erkenntnis in das neue Zwangsgewand einer Vernunftreligion stecken wollte. Die Versöhnung ist vielmehr nur zu erreichen, indem man beiden ihre volle Freiheit zusichert und durch allmähliche Steigerung der allgemeinen Volksbildung das Verständnis dafür erweckt, daß beide Realitäten, der Inhalt der Naturerkenntnis und der Inhalt des religiösen Glaubens, niemals in Widerstreit stehen können, weil sie sich auf gänzlich verschiedene Gebiete des Daseins beziehen. Man muß das gegenseitige Verhältnis der beiden Wirklichkeiten klarzulegen versuchen, und dann wird sich zeigen, daß der Religion von der Freiheit der Wissenschaft keine Gefahr droht, daß sie vielmehr diese Freiheit verlangt um ihrer eigenen Freiheit willen. Nur muß man überhaupt die Freiheit des Glaubens anerkennen und nicht ein bestimmtes Dogma als maßgebend betrachten.

Es würde niemand einfallen, einen Widerspruch zwischen der Realität der Natur und dem Glauben an ein allgütiges und allmächtiges Wesen zu sehen, wenn Natur nur den Verlauf der Erscheinungen in Raum und Zeit bedeutete, wie sie ohne unser Zutun als unser Erlebnis aufsteigen, verschwinden und unser eigenes Dasein tragen. Und niemand hat hierin einen Widerspruch gefunden, solange die Natur nur als dieser Erscheinungskomplex galt, dessen Dasein und Gestaltung in jedem Augenblick vom Willen Gottes abhängig gedacht werden konnte. Erst als man dazu gelangte, in der Natur eine selbständige Gesetzlichkeit, eine Notwendigkeit des Geschehens zu sehen, erst dann entstand der Konflikt mit den Glaubensansichten. Es ist also eine Tat der Erkenntnis, die aus dem wechselvollen Inhalt des Lebens die Natur herausgehoben und abgetrennt hat als ein Gebiet, das sich durch seine selbständige Gesetzlichkeit als eine Realität für sich erweist. (Vgl. S. 87 ff.) In der Notwendigkeit des Geschehens besteht die Realität der Natur, diese Notwendigkeit aber beruht auf dem Wesen des erkennenden (theoretischen) Bewußtseins. Für das erkennende Bewußtsein besteht nur dasjenige als real, was sich nicht widerspricht. Was in dieser Weise als real erklärt ist, nennen wir wahr; was widersprechende Eigenschaften besitzt, dem sprechen wir die Realität ab. Es ist für das erkennende Bewußtsein nicht vorhanden. Deswegen kann es aber sehr wohl Realität für das Bewußtsein überhaupt, auch für unser individuelles Bewußtsein haben, denn wir sind ja nicht bloß erkennende Wesen, sondern auch fühlende. Wir sehen einen Menschen in hellem Mantel und meinen daher, es sei unser Freund; aber unser Freund trägt einen Bart, und beim Näherkommen sehen wir, daß dies hier nicht zutrifft. So sprechen wir der Erscheinung die Realität ab, der Freund X zu sein. Vielleicht würde uns eine nähere Untersuchung zeigen, daß er es doch ist; gleichviel, seine Realität wird erst dann anerkannt, wenn sich keine widersprechenden Merkmale mehr ergeben. Sie besteht in dieser Widerspruchslosigkeit. Deswegen aber hört die Erscheinung nicht auf, real in anderer Weise zu sein; was wir sehen und hören ist nicht aufgehoben, ebensowenig was wir etwa dabei fühlten und wollten. In gleicher Weise erzeugt das Erkennen aus unserm realen Erlebnis eine neue Realität, die der Natur, als einer widerspruchslosen Gesetzlichkeit. Alles was wir erleben, fühlen, wollen, behält seine Realität als Empfindung, Gefühl und Wille; aber als reale Natur, insofern sie gesetzlich ist, erkennen wir nur das an, was unsere Erkenntnis widerspruchslos zusammenfügt. Deswegen ist Natur im Sinne der Wissenschaft nie fertig; sie wird fortwährend geschaffen durch die Erkenntnis als ein gesetzmäßiger Zusammenhang, dessen Inhalt durch neue Beobachtungen immer wieder korrigiert wird. Wenn eine neue Erfahrung zeigt, daß Widersprüche mit Gesetzen entstehen, die wir für real hielten, wird solange an den Erfahrungen oder an den Gesetzen korrigiert, bis der Widerspruch verschwindet. Und allein aus dieser Widerspruchslosigkeit begründet sich der Anspruch auf Realität der Natur als einer allgemeingültigen Gesetzlichkeit. Was wir die Notwendigkeit des Naturgeschehens nennen, ist nichts anderes als das Gesetz des erkennenden Bewußtseins; beide bedeuten dieselbe objektive Weise, wodurch Gegenstände in Raum und Zeit gesetzlich bestimmt werden. Denken wir an die gesetzlichen Veränderungen dieser Gegenstände im Räume, so gebrauchen wir den Ausdruck »Natur«; denken wir an dieselben Veränderungen, wie sie sich im mathematischen Gesetz und Begriff darstellen, so sprechen wir von Naturerkenntnis. Immer aber handelt es sich um dieselbe Realität, die Erzeugung von Objekten durch die Bestimmungen des Erkennens, die nur möglich sind durch den theoretischen Grundsatz; alle Veränderungen der Dinge unterliegen einer allgemeingültigen Gesetzlichkeit.

Für dieses erkennende Bewußtsein gibt es keine Bestimmungen darüber, welchen Wert die gesetzlichen Vorgänge etwa an und für sich haben; als Naturgeschehen ist das eine genau so berechtigt wie das andere, ob die Molekeln sich zersetzen im verwitternden Fels der Wüste, oder im Gehirn des Machthabers über Millionen; ob Welten entstehen, oder vergehen; ob Mörder geboren werden, oder Heilige; es ist eben beides notwendig bedingt. Aber als Menschen wissen wir, daß es neben dieser Realität des Naturgeschehens eine andere Art der Bestimmung gibt, die uns ungleich wichtiger ist, das ist die Bestimmung des Wertes, den die Vorgänge für unser Gefühl haben. In dieser Bewertung wird eine neue Realität gesetzt, die zugleich unabhängig ist von dem theoretischen Gesetze, und hierauf beruht die Unabhängigkeit der Religion von allen Aussagen der Erkenntnis.

Für das erkennende Bewußtsein ist, wie gesagt, nur das real, was sich beweisen läßt; zu diesem Zwecke müssen Voraussetzungen gemacht werden, die wieder andre Voraussetzungen erfordern, und so fort bis ins Unendliche. Alle Naturerkenntnis ist daher relativ; jedes Ereignis ist allerdings notwendig, aber immer nur inbezug auf ein anderes, wodurch es bedingt ist. Daß jedoch überhaupt solche Ereignisse existieren, daß Natur und Erfahrung vorhanden sind, das ist als Ganzes genommen nicht notwendig, sondern zufällig. Wären wir also allein durch die Natur bestimmt, so wäre unsere eigene Existenz nur zufällig. Es läßt sich auch auf keinerlei Art beweisen, daß es nicht so sei; wer die theoretische Erkenntnis als die einzige Realität anerkennt, muß sich als ein zufälliges Naturprodukt betrachten; ja streng genommen müßte er sogar erst beweisen, daß er existiert, und dies könnte ihm auf theoretischem Wege nie gelingen.

Zum Glück aber ist ein solcher Beweis bekanntlich nicht erforderlich; wir sind unsrer Existenz sicher, jedoch nicht darum, weil wir erkannt werden, sondern weil wir uns selbst fühlen. Das Gefühl gibt uns die absolute Gewiß, heit, die weder bewiesen zu werden braucht, noch widerlegt werden kann. Inbezug auf dieses Selbstgefühl erhalten nun sämtliche Erfahrungen einen Wert, und dadurch bekommen sie eine neue Form der Realität. Die Realität, welche die Dinge als Natur durch die Erkenntnis haben, wird davon nicht berührt, ihre gesetzliche Bedingtheit bleibt unangetastet. Aber daß überhaupt Erkenntnis und damit Natur ist, dieses Ganze der Erfahrung empfängt nun erst seine Realität durch die Gewißheit, daß es einen Wert für unsre Existenz hat. Dieser Wert, den der Inbegriff alles Daseins dadurch erhält, daß unser Gefühl diese unendliche Existenzfülle umfaßt und in ein Verhältnis zu unserm Ich setzt, ist der religiöse Wert. Er ist also nicht nur unabhängig von der Erkenntnis, sondern er sichert uns sogar erst ihre Realität, indem er die relative Bedingtheit der Naturobjekte untereinander zu absoluter Geltung erhebt durch den Glauben – eine Gewißheit des Gefühls –, daß die Natur als Ganzes kein Zufall ist. Realität bedeutet eine gesetzliche Beziehung auf die Einheit des Bewußtseins. Geschieht diese Beziehung durch das theoretische Denken, so haben wir Naturnotwendigkeit; geschieht sie durch den Willen, wie etwas sein soll, so haben wir Moral; geschieht sie durch die Phantasie als das Gefühl, wie es die Vorstellung der Übereinstimmung von Sein und Sollen erweckt, so haben wir Kunst; geschieht sie endlich durch das Gefühl dieser Übereinstimmung als einer Gewißheit, in der unser Ich lebt, so haben wir Religion.

Man meine nicht, daß diese Realitäten nur subjektive Vorstellungen sind. Da wir einmal denkende, wollende, dichtende, fühlende Individuen sind, so werden sie natürlich als die psychischen Funktionen unseres Ich, die wir Verstand, Wille, Phantasie, Gefühl nennen, uns bewußt; aber darum bestehen sie nicht bloß in diesen subjektiven psychologischen Akten, sondern sind Ordnungen aller Arten des Seins, Bestimmungsweisen, in denen der Inhalt des Bewußtseins reale Einheiten erzeugt und wirklich ist. Sie sind nicht Produkte des individuellen Beliebens. Und so ist auch der Inhalt des Glaubens eine objektive Realität, nur nicht wie die Natur, indem er Objekte in Raum und Zeit schafft, sondern indem er das Verhältnis dieser Objekte zur Persönlichkeit feststellt. Diese Realität unterscheidet sich von der Natur dadurch, daß sie nicht, wie diese, für alle Objekte allgemeingültig ist, sondern daß sie, entsprechend dem Wesen des Persönlichen, als Wert eine eigenartige Beziehung für jede religiöse Persönlichkeit darstellt. Inbezug auf die Natur gibt es nur eine Möglichkeit zu sein, das notwendige Sein; im Verhältnis zu Gott aber gibt es, weil es auf dem Gefühl beruht, unendlich viele Möglichkeiten zu sein, ein jeder muß auf seine eigene Weise zu seinem Glauben kommen. Die verschiedenen konfessionellen Formen, welche die Religion annimmt, bedeuten gewiß verschiedene Stufen der Vollkommenheit, sowie ja auch die verschiedenen Persönlichkeiten verschiedene Stufen der Entwicklung zum Ideal darstellen, aber für jede einzelne gilt die volle Realität der religiösen Wirkung. Die mannigfachen Bekenntnis- und Kultusformen widersprechen sich nur dann, wenn man ihren Inhalt – irrtümlich – als Naturerscheinungen in Raum und Zeit auffaßt, denn für das theoretische Denken sind widersprechende Aussagen nicht real; aber ihre wahre Realität als Werte beruht ja auf dem durch das Gefühl gegebenen Glauben, und in dieser Hinsicht ist kein Widerspruch vorhanden, die unendliche Macht Gottes ist in jedem Gläubigen in seiner eigenen Art wirksam und lebendig.

So wenig man die Drehung der Erde als sittlich oder unsittlich bezeichnen, so wenig man die Dankbarkeit nach Metern oder Gramm berechnen kann, ebensowenig besteht ein Schluß von den Objekten des Glaubens auf die Objekte des Wissens, oder umgekehrt. Aus dem sinnlosen Wüten der Natur Gründe gegen die Existenz Gottes entnehmen zu wollen ist eben so unberechtigt, wie sein Dasein aus der scheinbaren Zweckmäßigkeit der Organismen zu beweisen. Nicht minder ist es verkehrt, das Eintreten irgend eines Naturereignisses aus der Allmacht Gottes zu erklären, oder eine bisher nicht erklärliche Erscheinung auf eine mystische Ursache zurückzuführen. Das heißt Gott aus seiner unangreifbaren Höhe über der Natur in die Grenzen der menschlichen Erkenntnis herabziehen und ihn zum Mittel innerhalb der Natur erniedrigen, indem man ihn zu den Gegenständen der Erfahrung in das Verhältnis von Ursache und Wirkung bringt. Ursache und Wirkung aber, d. h. das Kausalgesetz, sind Mittel der Erkenntnis, eine Form der Naturnotwendigkeit, wodurch der Inhalt unsrer Erfahrung in Raum und Zeit geordnet wird. Gott dagegen bezeichnet ein Verhältnis des Vertrauens in unsre Erfahrung, überhaupt. Vertrauen, sich auf etwas verlassen, das heißt nicht auf das notwendige, gesetzliche Eintreten eines Ereignisses rechnen – dann bedarf es keines Vertrauens mehr – sondern Vertrauen ist ein Gefühl auf Grund sittlicher Freiheit, es ist ein Verhältnis zwischen freien Persönlichkeiten. Einem Menschen vertrauen heißt ihm glauben ohne Beweise. Ohne Grund und ohne Zwang muß Vertrauen entspringen im Verkehr sittlicher Personen, und so muß unser religiöses Verhältnis zu Gott aus Freiheit, aus freier Offenbarung hervorgehen. Dieses Verhältnis kann bestehen, ganz gleichgültig, wie das Weltgeschehen als wirklich erkannt wird; es kann bestehen von Person zu Person, von Mensch zu Gott, auch wenn die Beziehungen zwischen den Individuen ganz andere wären, als sie durch die gegenwärtigen Gesetze der Natur bedingt sind. Deswegen ist Religion als ein Gefühlsverhältnis gänzlich unabhängig von allen Resultaten der Naturwissenschaft und von allen etwaigen künftigen Entdeckungen. Wen ich liebe, den werde ich lieben, und wenn ihr zehnmal meint, mir das Gegenteil beweisen zu können.

Aus demselben Gesichtspunkt ist der Einwurf abzuweisen, daß das Übel in der Welt, wodurch Menschen und alle Wesen so viel und schmerzlich zu leiden haben, ein Beweis gegen die Existenz Gottes sei. Das ist die Frage der »Theodicee«, d. h. die Frage, ob unser Vertrauen auf die unendliche Macht Gottes sich rechtfertigen lasse, wenn man erwägt, wieviel Schmerz, Leid und Sünde in der Welt er gestattet. Diese Frage ist aber nicht zulässig, da sie ebenfalls aus Gründen der Erkenntnis einen Schluß ziehen will auf Tatsachen des Gefühls. Es ist das gerade so, als wollte man eine Mutter fragen, ob die Liebe zu ihrem Kinde sich rechtfertigen lasse angesichts all der Sorgen, die ihr der Gedanke an seine physischen und geistigen Unvollkommenheiten mache. Die Frage wäre berechtigt, wenn man das Dasein Gottes aus der Einrichtung der Welt durch den Verstand beweisen müßte. Dann hätten wir zu untersuchen, warum das Übel in der Welt sei und wie die Welt hätte besser konstruiert werden können; und wir würden sehr bald einsehen, daß wir als endliche Wesen in keiner Weise imstande sind, den Gesamtzusammenhang der Dinge zu überblicken und zu begreifen, warum der Kampf mit dem Leiden uns notwendig ist. Aber alles dies gehört ja zu dem Verfahren des erkennenden Bewußtseins, während der Glaube an Gott seine Realität im Gefühl hat. Und gerade aus dem Gefühl des Leidens entsprießt dieser Glaube am reinsten. Gegen dieses Gefühl des Vertrauens auf Gott, worin der Glaube an seine Allmacht und Güte wurzelt, kann kein Beweis aus der Erkenntnis ins Feld gefühlt werden; das Gefühl gibt immer die Gewißheit, daß die Einwürfe des Verstandes auf der Unfähigkeit beruhen, in die unendliche Weisheit und den Weltplan Gottes einzudringen. Wenn also jemand sich darauf beruft, er könne an Gott nicht glauben, weil die Welt zu schlecht sei, so kann dies Bedenken immer nur subjektiv für diesen einzelnen gelten, aber es läßt sich darauf kein allgemeingültiger Beweis gründen. Auch hier kann Erkenntnis weder für noch gegen die Religion entscheiden.


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