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XII.

Die Persönlichkeit

Persönlichkeit! Man denke bei diesem Worte nicht an das Individuum, an einen Menschen, mit Kopf und Gliedern, an ein endlich begrenztes Einzelwesen. Arme, Beine, Nervensysteme, so gut wie körperliche Grenzen, gibt es nur in Raum und Zeit, und jeder Persönlichkeit, sofern sie menschlicher Geist ist, kommt ein solcher Leib zu. Die Persönlichkeit selbst aber ist eine reine Selbstbestimmung, daß überhaupt Gesetze sein sollen, ein Selbstzweck, zu dem sich ein Inhalt gestalte. Die Persönlichkeit ist daher auch wie die Idee niemals in der Erfahrung anzutreffen, sondern sie ist die Einheit der Gesetzgebung, unter der alle Erfahrung sich vollzieht. Ein schönes theologisches Bild drückt dies mit den Worten aus: Jeder Mensch ist ein besonderer Gedanke Gottes. In jedem Menschen soll sich ein besonderer Charakter realisieren. Daß eine solche Einheit besteht, ist aber gewiß aus unserm Selbstgefühl, denn in diesem wird das Bestehen unseres Ich als eines Selbstzwecks gefordert, während in der Erfahrung unser Ich immer von anderen Dingen abhängig erscheint.

In der Erfahrung finden wir unsere Persönlichkeit stets nur als den Hinweis auf die Einheit, zu der die Dinge und Vorgänge der Natur verbunden werden sollen – sollen, ohne es doch jemals ganz zu sein. Das eben ist das Wesen des Weltprozesses, nirgends fertig zu sein, sondern sich erst zu erzeugen in der Gestaltung zu Einheiten als Systeme der Natur und als Persönlichkeiten. Und weil sich diese Bestimmungen erst zum Zwecke der Persönlichkeit in ihr vollziehen, können sie zusammen bestehen.

So entwickelt sich gemäß der Idee der Freiheit der Mensch zur sittlichen Persönlichkeit räumlich und zeitlich unter dem Naturgesetz durch die unübersehbare Reihe der immer vollkommener sich gestaltenden Organismen, durch die zur Lebenserhaltung notwendigen Einwirkungen der Individuen auf einander in ihrem sozialen Verkehr. Man kann deswegen ganz mit Recht, wie es die empiristische Ethik will, die Gesetze des sittlichen Handelns biologisch und historisch aus der Natur des gemeinschaftlichen Lebens der bewußten Wesen ableiten. Man erkennt sie dann naturwissenschaftlich als die Regeln, die beobachtet werden müssen, wenn sich der einzelne im Kampfe ums Dasein erhalten und sein Leben dem allgemeinen Interesse anpassen will. Daher finden wir den Inhalt der sittlichen Gesetze auch verschieden bei den verschiedenen Zeiten und Völkern. Was wir heute als unsittlich betrachten, ist zu andern Zeiten und unter andern Umständen von der Gemeinschaft gefordert und als sittlich erkannt worden, wie Menschenopfer, Sklaverei, Zweikampf u. s. w. Der ganze Inhalt der sittlichen Vorschriften, das Wie des sittlichen Handelns, ist ein Produkt der notwendigen Entwicklung und daher veränderlich, und dies eben ist Natur.

Wollten wir aber hierbei stehen bleiben, so würde uns stets nur die Frage beantwortet werden, warum dieses oder jenes als sittlich gefordert wird, nicht aber, warum überhaupt die Forderung des sittlichen Handelns aufgestellt wird und aufgestellt werden kann. Wir erführen nicht, wieso es überhaupt möglich ist, den Unterschied von gut und böse zu machen, da ja doch alles so sein muß, wie es ist. Man kann dagegen nicht einwenden: Weil sich sonst die Menschheit nicht hätte zur Kultur, zur Gemeinschaft vernünftiger Wesen entwickeln können, weil sie sonst untergegangen wäre. Denn darauf entgegnet man vom Standpunkt der Natur ganz einfach; Ja, warum denn nicht? Wer sagt uns denn, daß es Menschen, daß es vernünftige Wesen, daß es eine Kultur geben soll? Im notwendigen Geschehen der Natur liegt ja gar kein Bedürfnis vor, daß es so etwas wie Kultur und Vernunft gebe. Sagt man darauf: Die Kultur soll aber sein, so haben wir eben mit unserer Behauptung recht, es gibt also ein Gesetz des Sollens, das der Natur übergeordnet ist. Oder sagt man: Das Gute wird vom Bösen unterschieden, weil doch der Mensch wie jedes bewußte Wesen, sein will, sich erhalten will, so sagen wir erst recht: Also gibt es eine Bestimmung, daß etwas sein soll, nämlich die Bestimmung des Bewußtseins: Ich will sein. Oder sagt man endlich: Nun, weil es eben so ist, weil einmal die Natur da ist; so sagen wir ja, warum ist denn die Natur da? Wenn es keine Bestimmung gibt, warum die Natur da ist, so ist die ganze Natur lediglich ein Zufall. Und so ist es auch, so lange man innerhalb der Natur bleibt; jede Erkenntnis setzt eine andre, jedes Gesetz ein anderes voraus, und die ganze Erkenntnis wie die ganze Naturgesetzlichkeit ist ein Zufall, unsere Erfahrung überhaupt, als Ganzes genommen, ist bloßer Zufall. Vielleicht gibt es Leute die sich hierbei beruhigen; aber doch wohl nur dann, wenn sie ihre Überlegung absichtlich einschränken. Denn jener Zufälligkeit der Natur und der Erkenntnis widerspricht eine Tatsache, das ist die Tatsache unseres Selbstgefühls, es ist das Bewußtsein unserer eigenen Würde und unseres Gewissens; es ist der Glaube, daß ich meine sittliche Bestimmung erfüllen soll. Das ist keine Erkenntnis, sondern es ist ein Gefühl und als solches kann es weder bewiesen noch widerlegt werden, sondern eben dadurch, daß ich es habe, besitzt es absolute Gewißheit. Und in dieser Gewißheit gehöre ich nicht mehr zur Natur, sondern damit ist bestimmt, daß etwas sein soll, dem die Natur als Mittel dient.

Also nur diese Bestimmung, das Sittengesetz selbst, steht über der Natur; das »Wie« seiner Vollziehung, die Art der Verwirklichung des Sittlichen, erleben wir nicht mehr durch unser Gefühl als eine unmittelbare Selbstgewißheit, sondern wir erfahren es durch unsere Wahrnehmung und unser Denken, wir erkennen es als den Inhalt des tatsächlichen Geschehens in Raum und Zeit, es ist ein Gegenstand der räumlich-zeitlichen Entwicklung unseres Daseins unter Gesetzen, kurzum, es ist Natur. Aber das »Daß«,daß überhaupt die Möglichkeit des sittlichen Urteils besteht, daß die Dinge überhaupt darauf hin angesehen werden, ob sie sein sollen oder nicht, das ist etwas, was sich in der ganzen Natur nicht befindet. Wenn der Blitz herniederfährt und das Gehirn des kühnen Entdeckers oder des genialen Künstlers zerstört, so geschieht es, weil dieser Zellenkomplex auf der Bahn lag, in der die Summe der elektrischen Leitungswiderstände ein Minimum war. In der Natur finden wir nur die Ursachen, und es mußte so sein. Ob es auch so sein sollte? Daß wir diese Frage zu stellen vermögen, dazu muß uns ein Recht außer der Natur gegeben sein; dazu muß die Idee existieren, daß es überhaupt anders sein konnte, dazu müssen die Erlebnisse unter der Idee der Freiheit stehen. Diese Form der Beurteilung vermag nichts an der Natur zu ändern. Der Stärkere erschlägt den Schwachen und beraubt ihn. Wir sagen, das soll nicht sein; aber es ist doch. Und es gab Zeiten, in denen man auch sagte, es soll so sein, es ist das Recht des Stärkeren. Der Inhalt der einzelnen Forderung ist ganz gleichgültig für ihren Charakter als Gebot. Gleichgültig natürlich nicht für die Folgen. Insofern die Vernichtung des Schwächeren stattfindet oder nicht, treten andere Ursachen im sozialen Leben auf, und eine andere Entwicklung der Menschengeschichte knüpft sich daran. Dies eben ist der Inhalt der Natur. Gleichgültig aber für die Tatsache, daß überhaupt etwas für Recht oder Unrecht gehalten wird. Daß eine solche Beurteilung stattfindet, unabhängig von der Wirklichkeit des Geschehens, erkennt man schon daran, daß selbst, wenn die Entscheidung über das Recht schwankt, doch immer eine Meinung für und dawider vorhanden ist. Der Leidende zum mindesten sagt: Es soll nicht sein! Daß dieselbe Handlung vom Wilden gebilligt, vom Christen verworfen wird, ist zunächst eine Folge der Naturentwicklung: daß sie aber überhaupt gebilligt oder verworfen werden kann, daß das Seiende auch als ein Seinsollendes gefaßt werden kann, das ist die neue Form der Bestimmung, wodurch im Wesen des Sittlichen ein Gesetz für sich erkannt wird. Und diese sittliche Bestimmung, ist nicht eine Folge der Natur, sondern setzt die Natur voraus als ein Mittel zur Verwirklichung. Erst dann, wenn etwas ist, durch Naturgesetze bestimmt, erst dann ist etwas vorhanden, worauf sich das sittliche Urteil, ob jenes sein soll, beziehen kann. Aber ein Recht zu sein gewinnt die Natur ihrerseits durch die Bestimmung, daß das Gute sein soll. Wenn wir diese Bestimmung mit hinein in die Natur verlegen wollten, so würden wir sie selbst aufheben und unmöglich machen, die Natur wie die Sittlichkeit zerstören. Denn die Natur würde durch Freiheit gesetzlos und unbestimmbar werden, und die Sittlichkeit hätte keinen Gegenstand mehr, in dem sie sich verwirklicht. Wir retten die Freiheit der sittlichen Bestimmung, indem wir die Natur in ihrer vollen Notwendigkeit anerkennen.

Unsere Frage soll jetzt nicht dahin gehen, ob Freiheit und Zweckmäßigkeit als Realitäten bestehen, sondern wie es möglich ist, daß Gesetze dieser Art, als zielweisende Ideen, neben dem Gesetz der Naturnotwendigkeit Geltung haben. Daher setze ich hier voraus, daß Freiheit und Zweckmäßigkeit als Realitäten anerkannt sind, oder mit anderen Worten, daß die Sätze »das Gute soll sein« und »das Schöne soll sein« als Bestimmungen für die Weltentwickelung nicht bezweifelt werden. Denn wer diese Ideen überhaupt leugnet und nur die Naturnotwendigkeit als das Weltgesetz anerkennt, für den bedarf es keiner weiteren Darlegungen. Er muß sich aber folgerichtig damit begnügen, ein bloß erkanntes Wesen zu sein, das unter dem Naturgesetz entsteht und vergeht. Die Welt der Werte, das Gefühl seiner Menschenwürde, Sittlichkeit, Schönheit, religiöser Glaube, sind dann für ihn nur zufällige Nebenerzeugnisse der Natur, die ebensogut nicht sein könnten.

Für den jedoch, der Freiheit, Schönheit und Glaube, d. h. Sittlichkeit, Kunst und Religion als eine Welt der Werte anerkennt, an deren Realität nicht zu zweifeln ist, weil sie als absolute Forderungen des Bewußtseins in seinem Selbstgefühl gegeben sind, tritt die Frage auf, wie die Naturnotwendigkeit mit den Ideen zusammen bestehen kann.

Die Natur besteht aus einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Systemen, die sich nach dauernden Gesetzen gegenseitig abgrenzen und beeinflussen, von den unsichtbaren Schwingungen der Atome bis zur Unermeßlichkeit der Fixsternbahnen. Diese Systeme bilden dadurch Einheiten von längerer oder kürzerer Dauer, und hier interessieren uns zunächst diejenigen Systeme, die wir Organismen nennen. Denn in ihnen finden wir, soweit sie bewußt sind (und vielleicht sind sie es alle), Gefühle der Lust und Unlust. Nützliches und Schädliches wird unterschieden, das sinnlich Angenehme erstrebt, unter Umständen sogar gemieden, wenn es mit Hilfe einer vorgeschrittenen Erfahrung als in den Folgen schädlich erkannt wird. Aber die Ideen finden sich hier nicht. Die Wertbestimmungen, die das individuelle Gefühl vollzieht, beleuchten die Natur nur von unserem menschlichen Standpunkte aus, aber für die wissenschaftliche Erklärung der Natur bleiben sie lediglich subjektive Erscheinungen. Die Urteile über gut oder böse, über schön und häßlich, über zweckmäßig und verfehlt, sind vom theoretischen Standpunkte aus nur zu verstehen als Einbildungen der Einzelwesen über ihre zufällige Lage im Universum, nicht als zielsetzende Forderungen für die Weltgestaltung. Sie sind daher für die naturwissenschaftliche Betrachtung nicht verbindlich. Die Erkenntnis hat auf sie keine Rücksicht zu nehmen und kann es auch nicht; denn für sie ist das Naturgesetz das Bestimmende, nicht der Wert, den die Bestimmung für das Gefühl haben könnte. Die Natur kennt keine Schönheit, keine Güte, keinen Zweck. Und weil die Natur keinen Zweck kennt, ist auch der Mensch in der Natur kein Endzweck. Der Mensch ist als Gegenstand der naturwissenschaftlichen, d. h. theoretischen Erkenntnis ebenso ein bloßer Durchgangspunkt der Entwicklung wie jedes andere Naturwesen. Die Würde der Menschheit ist auf diesem Standpunkt ein selbstgefälliger Traum.

Aber was ein Traum ist für den Menschen als Naturwesen, das ist Wahrheit für den Menschen als Persönlichkeit. Aller Inhalt des individuellen Lebens, alle Lust des Daseins, aller Zwang des Gesetzes, alles Geschehen in Raum und Zeit, was uns das bunte Füllhorn der Natur auch bieten mag, es schwindet dahin vor dem Gefühle der Würde unseres Selbst, das in uns spricht: Du darfst nicht! Du sollst! Die Entscheidung über die sittliche Tat trifft nicht der Verstand, sondern das Achtungsgefühl vor der Würde des Sittengesetzes in uns, das ist die Persönlichkeit. Das Sittengesetz ist nur verbindlich für Persönlichkeiten, um durch den individuellen Geist in der Würde der Persönlichkeit einen Selbstzweck zu schaffen. Und es ist nichts anderes als der Ausdruck für die Tatsache dieses Willens, sich frei zu bestimmen, Gesetze zu setzen, damit das Gute werde. Freiheit der Persönlichkeit, Würde der Menschheit, Sittengesetz sind nur verschiedene Bezeichnungen für denselben Gedanken, daß die Persönlichkeit ihr eigener Gesetzgeber ist und sich dieser ihrer Gesetzgebung im Selbstgefühl des Menschen bewußt wird.

Die Persönlichkeit ist der Gesetzgeber des Sittengesetzes, d. h. sie ist die Einheit, in der sich die Idee des Guten zum Selbstzweck bestimmt. Das wird nun nicht mehr dahin mißverstanden werden, daß das Sittengesetz eine Bestimmung individueller Willkür sei. Gerade das Gegenteil wird damit gesagt. Als Individuum ist der eine ein Bettler, der andere ein König, je nach dem Inhalt seines Erlebnisses; dadurch unterscheiden sie sich. Aber gemeinsam ist ihnen der Anspruch des Gefühls, einen Lebensinhalt für sich, zum Zwecke des eigenen Daseins, zu besitzen. Dieses Ich, das sich in der Persönlichkeit als Selbstzweck fordert, ist nicht der Inhalt, durch den sich ein Individuum vom andern unterscheidet; es ist vielmehr die Einheit, die allem individuellen Inhalt gemeinsam ist, der Charakter, ein Ich zu sein. Und daraus ist klar, warum die Forderung, daß das Ich sein soll, das Sittengesetz selbst ist; nämlich die Forderung, daß jedes Ich mit jedem andern gleiche Würde habe, daß ein jedes Ich von gleichem Werte sein soll. Deswegen kann der Mensch eine Persönlichkeit nur sein im gleichwertigen Zusammenhang mit anderen vernünftigen Wesen. Deswegen besteht das Sittengesetz in der Forderung: Achte in jedem Menschen seine Persönlichkeit als Selbstzweck. Deswegen ist Persönlichkeit niemals beschlossen oder gesetzt in unserm individuellen Ich, in diesem räumlich-zeitlichen Einzelwesen und seinen egoistischen Interessen, sondern sie besteht in der gemeinsamen Bedingung, daß alle diese Einzelwesen sein sollen, also in der Aufnahme ihrer Existenz in die unsere. Deswegen haben wir Persönlichkeit nicht als Individuum, sondern nur in der Gemeinschaft mit Personen, in denen derselbe Zweck gesetzt ist, die gemeinsame Arbeit zur Verwirklichung des Guten. Und deshalb endlich ist es nicht der individuelle Geist, der über das entscheidet, was sittlich ist, sondern die allgemeine Selbstbestimmung der Persönlichkeit, das ist die Idee der Menschheit.

Der Inhalt, der sich in unserm Ich zu einer Einheit gestaltet, unterliegt also einer doppelten Bestimmung, dem Naturgesetz und der Idee. Zunächst stellt er in Folge des Naturgesetzes in jedem Zeitmoment eine bestimmte Stufe der Entwicklung dar, wodurch er unsrer Erfahrung als unser augenblicklicher Zustand gegeben ist. Dieser Zustand aber unterliegt der Beurteilung nach seinem Werte, inwieweit diese zeitliche Entwicklung dem Ziele entspricht, das in der Persönlichkeit als ein richtungweisendes Gesetz des Sollens begründet ist, Das erstere ist die theoretische, das zweite die ethische Beurteilung ein und derselben Entwicklungsstufe (vgl. S. 151). Die ethische Beurteilung kann nicht aus der theoretischen abgeleitet werden, weil das Wesen der theoretischen Beurteilung darin besteht, daß nach den Bedingungen gefragt ist, die den betreffenden Zustand gerade als diesen und keinen andern bestimmen. Unter dieser Beurteilung ist daher der Zustand stets notwendig bestimmt. Die ethische Beurteilung ist aber davon ganz unabhängig; den Zustand am ethischen Ideale messend, verlangt sie, daß er anders sein soll. Und diese Forderung, als die unbedingte Gesetzgebung der Persönlichkeit, ist so mächtig, daß sie unter Umständen die naturnotwendige Existenz jenes Zustandes, die Existenz des betreffenden Individuums überhaupt verwerfen kann. In der Einheit des empirischen Ich erleben wir sie als das Gefühl der Pflicht. Unter diesem Pflichtgefühl beurteilen wir uns selbst. Es ist dann das Bewußtsein der Persönlichkeit, das dem individuellen Bewußtsein gegenübertritt und selbst die Vernichtung dieses Bewußtseins zum Zwecke der Persönlichkeit fordern kann. Wenn Sokrates den Giftbecher trank, so achtete er den Inhalt seines Ich, falls das Bewußtsein der Untreue gegen seine Überzeugung zu diesem Inhalt hinzu gekommen wäre, für unvereinbar mit dem Inhalt, den sein persönliches Bewußtsein verlangte, und er zog es vor seine individuelle Existenz aufzugeben, um nicht das selbstgegebene Gesetz der Persönlichkeit zu verletzen. Er handelte dabei vollkommen frei und bewies damit die Freiheit der Persönlichkeit.

Er konnte sich entschuldigen, er konnte fliehen; aber er starb aus Pflicht gegen sich selbst. Wie ist das zu verstehen, wenn dieses »Selbst« sein individueller Geist wäre, dessen höchste Pflicht doch die Selbsterhaltung gewesen wäre? Der freiwillige Tod aus Pflicht ist nur daraus zu verstehen daß sich die freie Persönlichkeit ihrer Bestimmung, dem Sittengesetze nach erhält, sogar unter Aufgabe des individuellen Inhalts, den wir als Leben kennen. Freilich, auch der freiwillige Tod des Sokrates steht, theoretisch betrachtet, unter dem Naturgesetz; dann mußte den Umständen nach eben jene Vorstellungsgruppe überwiegen, derzufolge die Muskeln und Gelenke des Armes und der Hand den Becher ergriffen. Aber dies ändert nichts an der ethischen Beurteilung der Tat als einer freien durch die Persönlichkeit selbst. Diese Beurteilung ist eine unbedingte Bestimmung, sie besteht, ob die Tat geschah oder nicht. Die Tat dagegen ist erst in den Augenblicke bestimmt, in dem sie sich als ein Teil der Zeitreihe, als eine Entwicklungsstufe des Individuums vollzieht. Sie ist dann ein notwendiges Geschehen, und ihre Notwendigkeit beruht darauf, daß sie für erkennende Wesen nur als ein Teil des Naturzusammenhangs, also bedingt durch alle übrigen, Vorgänge in Raum und Zeit, in Erscheinung treten kann.


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