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IV.

Ins Inn're der Natur

Daß »Natur« ein vieldeutiges Wort ist, weiß jedermann; trotzdem läßt sich eine mächtige, in der Gegenwart lebendige Bewegung im Grunde auf eine mangelhafte Unterscheidung der Bedeutungen dieses Wortes zurückführen. Schon vor mehr als zweihundert Jahren hat der berühmte Chemiker Robert Boyle in einer kleinen Schrift »Über die Natur selbst« sich über die Fehlschlüsse beklagt, die aus dem Mißbrauch des Wortes »Natur« hervorgehen. Er könnte es, wenn er heute lebte, in noch viel ausgedehnterem Maße tun, nachdem der von ihm vertretene Begriff des Naturmechanismus eine vertiefte, durch die wissenschaftliche Forschung gerechtfertigte Bedeutung gewonnen hat. Denn neben der exakten Bestimmung, wonach Natur den Inbegriff dessen umfaßt, was der Notwendigkeit erkennbarer Gesetze unterliegt und somit den Gegenstand der Naturwissenschaft ausmacht, verstehen wir andrerseits unter Natur auch immer noch jenes unbestimmte Etwas, das uns wie ein ursprünglich Gegebenes entgegentritt, wenn wir gegenüber den Verfeinerungen der Kultur auf unser innerstes Wesen zurückzugehen versuchen. In diesem Sinne ist »Natur« das Losungswort für alle Bestrebungen, die irgend eine wirkliche oder scheinbare Stockung im Kulturleben durch eine Besinnung auf die unmittelbare Erfahrung des Menschen zu beseitigen wünschen. Natur ist also dann – im Geiste Rousseaus – der direkte Gegensatz zur Kultur, die als eine Entartung des Natürlichen erscheint; und damit kehrt sich der Sinn des Wortes genau in das Gegenteil dessen, was die Wissenschaft mit Natur bezeichnet. Im wissenschaftlichen Sinne bedeutet die Natur nämlich jenes Gebiet der Naturgesetzlichkeit, das nur im Fortschritt der Erkenntnis von uns erobert wurde und demnach selbst ein Erzeugnis der Kultur ist.

Hieraus entsteht nun eine gefährliche Verwirrung, wenn nicht philosophische Besinnung darauf hinweist, daß Natur im Leben und Natur in der Wissenschaft zwei verschiedene Dinge anzeigen; das eine Mal den unergründlichen Mutterschoß des Daseins, aus dem immer neue Kräfte verjüngend und schöpferisch emporsteigen; das andere Mal die feste Fügung der Notwendigkeit im Raum und Zeit, in der ein ewiges Gesetz alles Werdende in unverrückbare Bahnen zwingt.

Wer im gewöhnlichen Sinne von Natur als dem ursprünglichen Quell aller Gestaltung spricht, der will eben damit ein Gebiet hervorheben, das er sich unabhängig denkt von jeder menschlichen Satzung, unabhängig von der Willkür der Individuen, von den Regeln der Konvention, von den Gesetzen des menschlichen Denkens, kurzum von allem, was als Resultat einer kulturhistorischen Entwickelung zu betrachten ist. Was er sich unter Natur vorstellt, ist ein unbestimmtes Weben und Walten des Alls. Daß es hierin ein gesetzliches Geschehen gibt, wird wohl stillschweigend vorausgesetzt, aber in welcher Beziehung dieses zum Bewußtsein der Menschheit steht, wird nicht näher erwogen. Natur soll gerade das bedeuten, was allem menschlichen Schaffen und Denken übergeordnet ist, die Weltgestaltung selbst. Nicht bloß die Sonnen- und Weltsysteme, die sich im unendlichen Raume ballen, nicht bloß auf Erden der Kreislauf der Gewässer, das Rauschen des Windes, das Zerbröckeln der Gesteine, nicht bloß das Wachsen der Zellen, die Entwickelung der Organismen, die Wechselwirkung alles Lebendigen, nicht bloß diese unabsehbaren Prozesse des Werdens und Vergehens werden als Natur bezeichnet, sondern auch der innerste Grund des Menschendaseins selbst. Das unbewußte Spiel der Triebe und Regungen in der Menschenseele, das Auf- und Niederwogen der Gefühle, das Aufbrausen der Leidenschaften, ebenso der Wechsel der Vorstellungen, der unwillkürliche Verlauf der Gedanken, die Macht der Einbildungskraft und die Schöpfertat des Genius heißen natürlich, werden betrachtet als der Ausdruck der im Inneren der Dinge waltenden Urkraft, der Natur. Mit diesem Namen wird alles zusammengefaßt, was im Wechsel der Zeit zur Fülle des Lebens sich gestaltet, was Himmel und Erde umspannt und als Leid und Lust im Menschenherzen flutet, ja endlich auch der Urgrund des Lebenswillens selbst, der in den sozialen Beziehungen der einzelnen und der Völker sich verwirklicht. So gilt Natur als das Weltgeschehen selbst, als eine ursprüngliche, ja als die einzige, allumfassende Realität, wenigstens als eine Macht, die in allen Gestaltungen der Wirklichkeit das im letzten Grunde Bestimmende darstellt. Und als solche übergeordnete Gewalt soll sie die rettende Zuflucht bilden, wohin die Menschheit sich drängt, wenn die Widersprüche des zivilisierten Lebens sich zuspitzen und häufen, um aus dem ewigen Jungbrunnen der Natur Erquickung und neue Säfte zu gewinnen.

Nun aber kommt die Wissenschaft von der Natur und erklärt sie als ein großes Uhrwerk, das unter dem eisernen Gesetze der Notwendigkeit sein gefühlloses Räderspiel abrollt. Und die Wissenschaft ist die mächtige geistige Führerin des Jahrhunderts, das ihr seinen eigenartigen Charakter verdankt. Die Naturwissenschaft schreitet einher als Siegerin im Kampfe der Geister. Ihr Fuß ruht auf dem unerschütterlichen Grunde mathematischer Gesetze, mit dem Szepter der Rechnung lenkt sie die Bewegungen der Körper bis in die fernsten Räume und Zeiten. Ihre unerschöpflichen Hilfsmittel entnimmt sie dem breiten, fruchtbaren Boden der Erfahrung, und ihr Haupt schmückt die Strahlenkrone des Erfolges, in welche die alles überwindende Technik immer herrlichere Edelsteine einfügt. Kein Wunder, daß ihren Worten gläubig gelauscht wird. Und diese Worte sagen: »Was ich euch gebe als das Resultat der Forschung, als das Eigentum, worüber ihr als Herren schaltet, das kann ich euch nur geben, weil es der Erkenntnis unterworfen ist; und es ist der Erkenntnis unterworfen, weil es Gesetzen gehorcht, die den Umlauf der Sonnen ebenso unveränderlich bestimmen wie den Zerfall der Molekeln in eurem Nervensystem, wenn eine Empfindung euch durchzuckt. Es ist der Zwang des Gedankens, der die Natur unter dem Gesetz der Wechselwirkung zu einem Mechanismus macht, und zu diesem Mechanismus gehört euer eigen Leib und Leben, sofern ihr diese erkennen wollt.«

Dies sagt die Naturwissenschaft, und sie sagt es mit Recht; aber sie sagt auch nicht mehr. Die Natur ist ein Mechanismus, zu welchem der Mensch ebenfalls gehört, sofern er sich als Gegenstand der Forschung betrachtet. Dabei soll das Wort Mechanismus immer den allgemeinen Sinn haben: ein System; d.h. eine gesetzliche Verbindung von Elementen zu einer Einheit, deren Realität sich nicht etwa auf die einzelnen Elemente allein, sondern gerade auf die Art ihres Zusammenschlusses zu einer besonderen Wirkungsweise gründet. In diesem Sinne ist eine Maschine so gut ein System wie ein Organismus. Ihr Bestehen beruht auf der Wechselwirkung von Teil und Ganzem, nur darf diese nicht gedacht werden als eine Bestimmung aus bewußtem Willen, sondern als eine Beziehung durch gesetzliche Notwendigkeit (vergl. Abschn. XIV). Jedoch nun entsteht die Verwirrung durch den Doppelsinn des Wortes »Natur«. Natürlich gilt für gewöhnlich als die umfassende Realität, als die Weltgestaltung selbst. So wäre denn diese Weltgestaltung ein Mechanismus, in welchem jede kleinste Veränderung von Ewigkeit her gesetzlich bestimmt ist, und in diesen Mechanismus gehörte das ganze Menschenleben mit seinen Freuden und Schmerzen, mit der Kraft des ethischen Charakters und der Gewalt des ästhetischen Genies, mit der sittlichen Forderung der Willensfreiheit und allen Gütern des Ideals? Das kann nicht sein!

Es gibt eine Realität in den Tiefen des Menschenlebens, die keiner Naturwissenschaft zugänglich ist, und an welcher der Glaube an die Freiheit der Bestimmung nicht rütteln läßt. Und keiner ernsten Wissenschaft fällt es ein, diese Freiheit stürzen zu wollen. Es ist lediglich ein Mißverständnis über die Bedeutung des Wortes Natur, wenn man der Naturwissenschaft einen derartigen Übergriff unterlegt. Die Natur, deren Erkenntnis von der Wissenschaft erreicht wird, ist eben nicht jenes allumfassende Weltgeschehen, sondern sie ist nur ein Teil davon; derjenige Teil, worin Notwendigkeit und Mechanismus herrschen, weil diese das Gesetz des Denkens, die Form unserer Erkenntnis bedeuten.

Aus dem Mißverständnis aber entsteht schwere Schädigung. Die einen meinen, wenn die Wissenschaft die Natur, das heißt jetzt das Weltgeschehen selbst, zum Mechanismus macht, so ist jene vom Übel und muß gestürzt oder umgewandelt werden. Denn hätte sie recht, so gäbe es keine Freiheit, also keine Sittlichkeit, keine Kunst, keine Religion; dann aber ist es besser, wir haben keine Erkenntnis, als daß wir die heiligsten Güter des Lebens aufgeben sollen. Oder – die Wissenschaft ist im Irrtum – und das ist sie, da die Freiheit eine Tatsache ist – also muß sie erst recht umkehren. Und so erhebt sich in vielen Gemütern, welche die sogenannte naturwissenschaftliche Weltanschauung, richtiger die materialistische Auffassung, nicht befriedigen kann, ein Widerspruch gegen die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt, der um so gefährlicher ist, als er im Gegensatz zur ernsten Forschung nunmehr zu wüstem Aberglauben und kulturwidrigem Mystizismus führt.

Andre wieder meinen, es kann nicht zweierlei Welten geben, eine Welt der Notwendigkeit und eine Welt der Freiheit. Nun lehrt uns das einzig Untrügliche, was wir haben, die wissenschaftliche Erkenntnis, daß die Welt der Notwendigkeit besteht. Folglich muß der Glaube an die Freiheit eine Täuschung sein. Wir wollen uns aber nicht in Illusionen wiegen, wir wollen der Wahrheit ins Gesicht schauen, sehe sie aus, wie sie wolle. Also fort mit dem Glauben an die Freiheit und alles, was damit zusammenhängt; wir sind Sklaven und müssen tun, was die Natur gebietet; sehen wir zu, wie wir uns damit abfinden!

Beide Parteien haben unrecht. Es ist ein Irrtum, daß die Natur, die Gegenstand der Erkenntnis ist, alle Realität des Daseins umfasse. Es ist aber auch ein Irrtum zu glauben, daß die volle Geltung der Naturgesetze dadurch Einbuße erleide, daß es ein Reich der Freiheit gibt.

Man wird vielleicht einwenden, dies sei eine willkürliche Aufstellung. Denn wenn einmal alles, was der Erkenntnis unterliegt, dem Gesetze der Notwendigkeit gehorcht, so ist ja gar keine Schranke gezogen, wieweit dieses Gebiet reicht; man kann es doch nicht von der subjektiven Willkür oder vom Zufall abhängig machen, wie weit man in der Erkenntnis gehen will. Es muß demnach die Möglichkeit zugestanden werden, daß alles Seiende erkennbar, also auch mechanischen Gesetzen unterworfen sei. Und so müsse es entweder im Grunde der Dinge keine Freiheit geben, oder die Erkenntnis sei nur eine subjektive Gedankenbildung, der keine Bestimmung über das Wirkliche zukomme.

Hier sind wir an der Stelle, wo die Philosophie einzusetzen hat. Wer sagt uns denn, was das Wirkliche ist? Wer sagt uns, daß es nur eine Art der Gesetzlichkeit, die Naturgesetzlichkeit, gibt? Ist nicht das Gesetz des Gewissens: Du sollst! auch eine Bestimmung, welche Wirklichkeit bedingt? Die Möglichkeit zu untersuchen, wie Notwendigkeit und Freiheit neben einander bestehen können, ist eine Aufgabe der Philosophie. Der Lösung dieser Schwierigkeit vermögen wir uns zu nähern, wenn wir den Begriff der Natur richtig fassen. Es handelt sich um die Frage: Wie ist es möglich, daß ein Gebiet von Erscheinungen existiert – die Natur –, in welchem das gilt, was wir Naturnotwendigkeit nennen? Haben wir hierüber Aufklärung gewonnen, so läßt es sich vielleicht dann verstehen, wie es möglich ist, daß Sittlichkeit, Kunst und Religion davon unabhängig Bestand haben können.

Zunächst gilt es, vor einem Versuche zu warnen, der einen Ausweg zu versprechen scheint, aber nur ein Irrweg ist. Wir sollen den Begriff der Natur recht erfassen. Nun wohl, wir hören ja so oft das Wort vom »Innern der Natur«, das uns ewig verschlossen bleibe. Könnten wir nur da hinein dringen, würden wir dort nicht vielleicht jene gesuchte Freiheit finden? Sollte sich das Geheimnis des Widerspruchs dort nicht lösen? In den Gedichten des Herrn von Haller, sechste Auflage, Zürich 1750, unter der Überschrift: »Die Falschheit menschlicher Tugenden, an Herrn Professor Stähelin, April 1730« lesen wir den oft ungenau zitierten Spruch:

»Ins innre der Natur dringt kein erschaffner Geist,
Zu glücklich, wenn sie noch die äußre Schale weis't,«

Haller schließt damit den Abschnitt, in welchem er den gelehrten Eigensinn des Naturforschers verspotten will, der angeblich unlöslichen Problemen, dem Begriff des Körpers dem Wesen der Anziehung, der Fortpflanzung des Lichts, der Übertragung der Bewegung usw. nachsinnt, und er läßt nur noch die beiden Zeilen darauf folgen:

»Du hast nach reifer Müh und nach durchwachten Jahren,
Erst selbst, wie viel uns fehlt, wie nichts man weiß, erfahren.«

Gegen diese Schlußbemerkung kann niemand etwas einwenden. Es ist eine Tatsache, daß, je weiter die Forschung fortschreitet, nicht nur der einzelne mehr und mehr die Mängel seines Wissens erkennt, sondern, daß für die Wissenschaft überhaupt immer neue Probleme sich eröffnen. Die Erkenntnis ist niemals abgeschlossen. Die Natur bietet sich uns als Erfahrung dar, und diese ist keine fertige Tatsache, der wir uns eines schönen Tages bemächtigen könnten, sondern eine unendliche Aufgabe. Aber gerade in diesem Umstande, daß sich die Natur uns enthüllt als das Produkt der fort und fort schaffenden Tätigkeit der Forschung, gerade darin liegt der Beweis, daß es nicht berechtigt ist, von einem »Innern« der Natur zu reden gegenüber einer »äußern Schale«, die allein uns zugänglich sei. Denn was wir als Naturerfahrung durch unsre Arbeit gewinnen, das ist freilich immer nur ein Bruchstück, aber es ist nicht eine Schale, ein äußerer Bestandteil, hinter welchem noch ein unerreichliches Innre stecke. Was unsre Erkenntnis umfaßt, daß ist in diesem Augenblick wirklich die volle Natur, nur daß die Natur selbst etwas Unerschöpfliches ist, das mit der Arbeit des Geistes zugleich wächst und uns deswegen zwar stets neue, aber nicht hoffnungslose Probleme stellt. Die Tatsache, daß die Naturerkenntnis etwas Unvollendbares ist, wird durch das Bild von dem Innern und der Schale nicht getroffen, wohl aber werden dadurch neue irreführende und schwerwiegende Mißverständnisse heraufbeschworen. Naturwissenschaft und Philosophie, damit die ganze Gestaltung unseres Weltbildes, sind daran interessiert, daß wir eine zutreffende Auffassung darüber gewinnen, inwieweit wir überhaupt zu dem Ausdruck »Inneres und Äußeres« inbezug auf die Natur berechtigt sind.

Goethe ärgerte sich ganz besonders über den Hallerschen Spruch. Sein Gedicht »Allerdings« ist so bezeichnend, daß wir es hierher setzen müssen.

»Ins Innre der Natur –«
O du Philister! –
»Dringt kein erschaffner Geist.«
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern;
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
»Glückselig, wenn sie nur
Die äußre Schale weist!«
Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen;
Ich fluche darauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale;
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich prüfe Du nur allermeist,
Ob Du Kern oder Schale seist.

Worauf Goethe »verstohlen flucht«, das ist der künstliche Gegensatz, der mit jener »philiströsen« Auffassung aus dem Leben des Menschen fälschlich in die Natur hineingetragen wird. In unserm Selbstgefühl erleben wir die Gewißheit, daß die sittliche Persönlichkeit des Menschen ein Selbstzweck ist, daß die Handlungen der Menschen sich nach einer Gesetzlichkeit bestimmen, die in der unwiderstehlichen Forderung »Du sollst« unserm Willen ein Ziel setzt. Auf der andern Seite sehen wir unser Leben Bedingungen unterworfen, die von unserm Willen unabhängig sind; wir erkennen unser individuelles Dasein eingeschlossen in das Geschehen, in welchem die Körper im Räume sich naturnotwendig gestalten. Diese gegenseitige Abhängigkeit aller Vorgänge in Raum und Zeit ist, wie schon oben gesagt, das, was wir Natur nennen, und insofern gehören wir selbst zur Natur. Da wir uns aber bewußt sind, uns selbst als vernünftige Wesen Zwecke zu setzen, so entsteht leicht der Irrtum, daß wir auch in dieser freien Tätigkeit mit zur Natur gehörten. Dann müßten wir also erwarten, daß in der Natur gleichfalls eine solche Gesetzgebung des Willens vorhanden sei; wir müßten erwarten, daß es eine Stelle in der Natur gebe, an welcher nicht mehr jeder Vorgang notwendig durch andre bedingt ist, sondern wo in den Dingen, ähnlich wie der Wille im Menschen, eine Freiheit der Bestimmung vorhanden ist, derzufolge sie für sich selbst fordern, in einer bestimmten Weise zu sein, also auch anders zu sein, als aus den Mechanismus des Naturgeschehens allein folgen würde. Soweit aber die Erfahrung fortschreitet, gelangen wir niemals an eine solche Stelle, an welcher die kausale Bedingtheit der Natur aufhörte; und wir können auch an keine solche gelangen, weil die Möglichkeit der Naturerkenntnis eben darauf beruht, daß wir die unmittelbare sinnliche Erfahrung in gesetzlichen Beziehungen festlegen. Wohin auch die Naturerkenntnis vordringe, immer finden wir die Notwendigkeit des Geschehens, weil sie die Voraussetzung dazu ist, daß der Inhalt unsrer Erfahrung den Charakter der Naturgesetzlichkeit annimmt.

Da nun die Natur für jeden Standpunkt unsrer Erfahrung in zwei Teile zerfällt, in einen solchen, den unsre Erkenntnis durch Beobachtung und Rechnung bereits in klare Gesetze aufgelöst hat, und in einen solchen, der dieser Analyse noch als Aufgabe harrt, so liegt es nahe, in diesem noch nicht erkannten Teile der Erscheinungen jene geheimnisvolle Stelle zu suchen, wo die Zweckbestimmungen in die Natur eingreifen. Es entsteht die Vorstellung von zielstrebenden Kräften, von inneren Bildungstrieben, von unzugänglichen organischen Gewalten, die in der Natur ebenso tätig seien, wie im Leben der Menschheit die Selbstbestimmung der Vernunft auftritt. Diese mystische Region nennt man das »Inn're der Natur«. Im Gegensatz zu diesem Innern heißt dann die bereits erkannte Natur das »Äußere«. Durch den weiteren Fortschritt der Erkenntnis wird nun jenes angebliche Innere in ein Äußeres verwandelt, ohne aber den vermuteten Kern zu zeigen; und da die Erkenntnis nie zu Ende gelangt, so ist es selbstverständlich, daß »ins Inn're der Natur kein erschaffener Geist« dringt.

Hieran ist aber nur soviel richtig, daß es immer einen Rest gibt, der von der Erkenntnis noch nicht als gesetzliche Natur begriffen ist. Falsch dagegen ist es, diesen unerkannten Rest als ein unerkennbares Innere gegenüber einer erkennbaren Schale zu bezeichnen.

Zu diesem schiefen Bilde von einem Innern der Natur verleitet nun weiter die Mißdeutung eines zweiten Gegensatzes, des Gegensatzes von Geist und Körper, oder Seele und Leib.

»Inneres« und »Äußeres« drücken Beziehungen aus, die den Verhältnissen des Raumes entnommen sind; sie bedeuten die Lage eines Raumteils inbezug auf einen begrenzten Raum. Für einen Kasten, für mein Zimmer, für ein Haus gibt es ein Inneres und ein Äußeres. Diese berechtigte Trennung wird nun fälschlich auf mein »Ich« übertragen; man spricht auch inbezug auf unser Bewußtsein von einem Innern, gegenüber einem Äußern. Da nämlich mein Geist, meine Seele oder wie man das individuelle Bewußtsein nennen will, niemals ohne meinen Leib ist, so gebrauchen wir die Bezeichnung »Ich« für jenes erfahrungsmäßige Zusammen meines Leibes mit meinem Bewußtsein. Alsdann hat der Ausdruck Inneres und Äußeres einen Sinn, aber nur für meinen Leib, denn nur dieser ist im Räume; in diesem Sinne ist z. B. der Mond draußen. Inbezug auf mein Bewußtsein kann ich aber nicht sagen, der Mond ist draußen oder drinnen; er kann entweder mir bewußt sein, oder nicht, aber Inneres oder Äußeres gibt es für mein Bewußtsein nicht, der Gegensatz verliert hier seinen Sinn. Die Täuschung kommt von der doppelten Bedeutung des Wortes »Ich«. Denn mit Ich bezeichnet man zwar die Verbindung Seele-Leib, häufig aber bezeichnet man damit auch die Seele, d. h. die Einheit des Bewußtseins, allein, mit Ausschluß alles räumlichen Inhalts, also auch des Leibes. Trotzdem behält man gewohnheitsmäßig den Ausdruck Inneres bei, man spricht von unserer Innenwelt usw. und vergißt, daß es ein Äußeres wohl für den Leib, nicht aber für das Bewußtsein gibt; außer meinem Körper sind die anderen Körper, weil beide im Raum sind; außer meinem Bewußtsein aber ist nichts, was ich in einen räumlichen Gegensatz dazu bringen könnte, dieses »außer« kann dann nur bedeuten »ohne« mein Bewußtsein, und davon weiß ich natürlich nichts.

Diesen unberechtigten Sprachgebrauch, das Bewußtsein als ein Inneres gegenüber der Körperwelt und diese als ein Äußeres zu bezeichnen, überträgt man nun auch auf die Natur. Dadurch entsteht eine neue Komplikation. Denn im wissenschaftlichen Sinne bedeutet ja Natur nur den gesetzmäßigen Zusammenhang der Vorgänge in Raum und Zeit. Soll nun diesem Zusammenhang auch ein eigenes Bewußtsein entsprechen, wie ich es an meinem Leibe kenne? Und ist vielleicht dieses Bewußtsein der Natur ihr »Inneres«? Also etwa die »Weltseele«? Es ist richtig, mein Leib ist ein Teil der Natur; mein individuelles Bewußtsein ist, darüber kann kein Zweifel bestehen, durchweg abhängig von dem Bau und der Entwickelung meines Leibes, von meiner Organisation, also auch von der Natur. An den Teil der Natur, welchen ich als meinen Leib kenne, finde ich Bewußtsein geknüpft, nämlich das meinige. Sicherlich kommt also wenigstens einem Teil der Natur ebenfalls Bewußtsein zu. Und dann entsteht die Frage, wie kann sich nun mein individuelles Bewußtsein noch von der Natur unterscheiden? Oder sind meine Vorstellungen und Gedanken doch etwas von der Natur ganz und gar Verschiedenes? Wenn sie das nicht wären, wie sollte ich da als Vernunftwesen die Freiheit meiner sittlichen Bestimmung besitzen? Ist nicht vielleicht hier, wo die Gesetzmäßigkeit der Natur und die Freiheit meiner Gedankenwelt konkurrieren, die geheimnisvolle Stelle, wo das Innere der Natur zu suchen ist?

Gewiß liegt hier ein Hauptpunkt der Frage. Wie gelange ich zu der Natur, die ich erlebe? Bin ich selbst diese Natur, wie kommt es dann, daß ich sie doch als etwas anderes erkenne, als ich selbst bin? Wir stellen also das Problem: In welcher Beziehung steht die Natur zum individuellen Geiste?


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