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Eine Phantasie
Dir allein will ich mein interessantestes Geheimnis anvertrauen, aber du mußt dies als meine Beichte betrachten und bewahren wie ein Amtsgeheimnis.
Paris!
Ich stand an den Türpfeiler eines Magazins gelehnt und weinte, als wollte ich mich in Tränen auflösen. Am Himmel standen schwarze Gewitterwolken, und der Boulevard war nicht allzu überfüllt von Spaziergängern; aber auch unter den wenigen Menschen, die mich erstaunt betrachteten, litt ich unsäglich. O, petite, o, was fehlt Ihnen, Mademoiselle? Sehen Sie doch, Madame, wie blaß die Kleine aussieht, und die großen Augen.
Ich war damals ungefähr sechzehn Jahre alt, und noch in beständigem Kontakt mit meinem Gotte. Ich bildete mir nämlich ein, daß, als plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag erdröhnte, der liebe Herrgott aus besonderer Freundschaft zu mir es gewittern ließe, über den Menschen, inmitten derer ich litt. Die auffällige Kritik über meine Person, die sich in diesem lauten Bedauern aussprach, entfachte auch schließlich meinen Zorn. So glaubte ich, daß die zwei Passanten, die plötzlich vor mir haltmachten, kein anderes Motiv leitete, als die Lust zur Neckerei. Namentlich erbitterte es mich, da der helläugige der beiden seinem Begleiter zurief: »Mon cher, sehen Sie doch einmal den kleinen Teufel!« Der große Herr runzelte die Stirn, dabei murmelte er ein paar leichte Worte; ich verstand sie wohl, aber ich möchte sie im Interesse meiner Person lieber verschweigen; wieder fielen große Regentropfen aus meinen Augen, dann meinte der dunkle Herr in milderem Ton: »Es handelt sich hier wieder um eine Bettelnovellette«, und reichte mir ein Geldstück hin. Ich war sehr betroffen und konnte mich nicht enthalten zu rufen: »O, Monsieur, ich bin keine Komödiantin und keine Bettlerin.« Er schämte sich und versuchte durch allerhand Reden sich zu entschuldigen. »Pardonnez, Mademoiselle, pardonnez, aber da Sie, wie ich aus Ihrer Aussprache entnehme, keine Französin sind, werden Sie sich schwerlich eine Vorstellung von der Schauspielkunst unserer Nichtdamen machen können. Und möchte ich Sie bitten, sich mir anzuvertrauen.« »Ich bin so allein, Herr«, sagte ich; ich glaube, sonst erwiderte ich nichts mehr, denn ich war ermattet bis zum Tode. Während wir noch beisammen standen, trat ein dritter zu den beiden und klopfte dem dunklen auf die Schulter: »Na, mon ami, schon wieder im Dienste der Frauen?« Der Helläugige, den ich trotz meiner tragischen Stimmung heimlich seiner Schönheit halber bewunderte, schob seinen Arm in den des hinzukommenden Herrn – ich glaube auf ein paar leise gesprochene Worte des Dunklen hin – und zog ihn, leise auf ihn einredend, mit sich fort. Dann wandte sich der Bleibende mir zu, und es war eine eigentümliche Mischung von Erkühnen und Güte in seinem dunklen Auge, das mich in Furcht jagte und zu gleicher Zeit mir Mut machte. »Hier ist kein Platz für Auseinandersetzungen, mein kleines Fräulein, und ich bitte Sie, mir zu folgen.« Der energische Ton meines Beschützers wirkte suggerierend auf mich, und ich folgte ihm. Er schwieg, bis wir die gegenüberliegende Seite des Boulevards erreicht hatten; dann faßte er meine Hand und sagte, jedes einzelne Wort betonend: »Mademoiselle, wenn Sie in mir einen Freund gewinnen wollen, so fürchten Sie sich nicht und vertrauen Sie mir Ihr Schicksal an.« Ich war sehr glücklich über seine lieben Worte und atmete auf und wünschte mir nichts sehnlicher im Augenblick, als seine Hand zu drücken. Wir nahmen Platz im Garten eines Restaurants; der Fremde bestellte zunächst Bouillon und dann ein Hühnchen, welches er mir wie einem Baby vorschnitt. Dabei flüsterte er mir zu: »Grade so ein kleines Hühnchen wie Sie, Mademoiselle.« Dann mußte ich ihm meine Lebensgeschichte erzählen, wie ich aus meiner Heimat durchgebrannt bin. »Und warum gerade nach Paris, kleiner Robinson?« Zögernd und fast tonlos entgegnete ich: »Ich wollte in ein Meisteratelier.« Dann fragte der Fremde: »Haben Sie schon an eines angeklopft?« »Nein«, sagte ich verlegen, »ich habe mich mit meinem Gelde verrechnet und wollte mir erst etwas verdienen, um wenigstens für einen Monat die Kosten zu erschwingen.« »Und was dann?« fragte er nachdrücklich. »Ja, dann, hoffe ich, Stipendien zu bekommen.« Hierbei holte ich einen Zettel aus der Tasche, worauf die Adresse jenes Kleidermagazins stand, in dem ich engagiert war. Mein Beschützer begann zu lachen und meinte: »Eine Direktrice können Sie doch sicher mit Ihrem schlanken Figürchen nicht abgeben.« »Aber eine Kostümzeichnerin.« »Ah, Sie wollen mit Stilleben Ihre Karriere beginnen.« Wir lachten beide. – Nach einer Weile fragte ich ihn, ich glaube sehr scheu:
»Ich bin ebenfalls ein Kunstjünger.«
»Maler?« fragte ich.
»Nein, aber Schriftsteller.«
Ich atmete auf in der sicheren Empfindung, mich in verläßlichen Händen zu befinden.
»Nun werde ich Ihnen einen Vorschlag machen, kleiner Robinson, zumal ich Sie nicht Ihrem Schicksal überlassen werde, bis Sie Ihre geschäftliche Angelegenheit geordnet haben. Ich bringe Sie zu einer Freundin, die mir lieb und teuer ist, zu einer Madame L. T., die wird Sie mit Vergnügen aufnehmen.«
Wir erhoben uns.
»Allons, Mademoiselle!«
Beim Verlassen versuchte ich, meinem Begleiter seine Auslagen zurückzuerstatten, obgleich dies meine letzte Barschaft war. Ich durfte die Bitte gar nicht zu Ende sprechen, als er schon den Kopf schüttelte: »Aber Mademoiselle, Sie sind mein Gast.« – In der Rue de R. hielt das Kabriolett vor einem villenartigen Hause. Ein zierliches Mädchen in Rosa öffnete die Tür und sagte, ohne meinen Begleiter zu Worte kommen zu lassen, fast vorwurfsvoll: »O, Monsieur, Madame hat bis vor einer halben Stunde auf Sie gewartet, nun ist sie allein in den Bazar gefahren.« Betreten murmelte mein Begleiter: »Mon Dieu, wie konnte ich das vergessen!« Ich fühlte mich als die Schuldige, dieses mochte der Fremde empfinden, da er beruhigend sagte: »Ich nehme die Schuld auf mich.« Ich hörte ihn leise vor sich hinsagen: »Eine liebe Person ist Madame L. T.« Dann wandte er sich wieder zu mir: »Nun, ich werde Sie gegen Abend hinbringen, und Sie werden sie schätzen lernen, wie ich.« – »Gefällt Ihnen mein Heim?« fragte Guy de Maupassant, der mir unterwegs endlich seinen Namen genannt hatte, von dessen Bedeutung ich damals noch keine Ahnung hatte. »Jetzt wollen wir uns ruhig überlegen, was wir zu tun gedenken. Kommen Sie doch aus Ihrem Winkel hervor und fürchten Sie sich nicht vor mir! Haben Sie auch schon daran gedacht, falls Sie noch Eltern haben, daß die in Besorgnis sein werden, und daß ich eigentlich verpflichtet bin, ihnen Nachricht zukommen zu lassen?« Er mochte wohl meinen Schreck bemerken, denn er fügte schnell hinzu: »Nun, wir sind ja Kollegen, außerdem bin ich kein Moralprediger, und Ihr Unternehmen rüge ich keineswegs, im Gegenteil, es imponiert mir, aber na, diesen Punkt wollen wir gemeinsam mit Madame L. T. überlegen. Für den Augenblick bin ich dafür, daß der kleine Robinson von den Strapazen seines Abenteuers sich etwas ausruht. Ich werde unterdessen ein wenig ausgehen und frühzeitig wieder erscheinen.« Er war fort, und ich allein, mutterseelenallein im fremden Hause. Zunächst betrachtete ich die Gegenstände des Zimmers. Auf dem Schreibtisch standen einige Photographien, unter denen ich auch den helläugigen Herrn von heute morgen fand. Zu meiner großen Freude, denn er gefiel mir schon wegen seiner blonden Locken sehr gut. Dann aber spürte ich die so lange zurückgehaltene Müdigkeit, legte mich auf eines der Kanapees und deckte mich mit den Decken zu, die Maupassant für mich bereitgelegt hatte. Aus traumlosem Schlaf, wahrscheinlich durch das Geräusch einer aufgehenden Tür aufgewacht, mußte ich meine Gedanken erst mühsam sammeln. »Herr Gott, wo war ich denn eigentlich?« Ich eilte ans Fenster, und mir schoß plötzlich angesichts der fremdartigen Uniformen auf der Straße unten der Gedanke durchs Hirn: »Wie kam's doch noch, daß ich in Paris bin.« Mich überkam plötzlich die Angst eines Gefangenen, der keinen Ausweg weiß. »Herr Gott, wenn nun der fremde, dunkle Mann ein Verbrecher wäre?« Mir wurden plötzlich alle Sensationsgeschichten meines Lebens grauenvoll lebendig. Um mich zu orientieren, um gleichsam die Waffen meines Feindes kennen zu lernen, ging ich an den Schreibtisch. »Was, Goethe!« Nun fühlte ich mich in Sicherheit. Und was mich am meisten interessierte, da lag ja auch Petöfi. Der Dichter, der mir gefiel in seiner ungarischen Studentenuniform. »Ach, Monsieur!« rief ich erstaunt und erschreckt. Maupassant stand nämlich vor mir, ich mußte sein Klopfen überhört haben. »Nun, mein kleiner Robinson, Sie sehen ja so frisch aus, wie ein Dijonknöspchen; jetzt wollen wir weitere Dispositionen treffen. Übrigens öffnen Sie einmal die beiden Schachteln, mit deren Inhalt bald zwei kleine Buben spielen werden.« In der einen Schachtel lagen schonungsvoll Bleisoldaten geschichtet, mit dunklen Waffenröcken und roten Hosen. In der Mitte der Schachtel aber lag, umgeben von seinen Getreuen, Napoleon der Dritte, hoch zu Roß. Aus der andern Schachtel glotzten mich porzellanene Froschaugen an, Enten mit gelben Schnäbeln, Reptilien aller Arten – ein ganzes Aquarium. Ich richtete die Soldaten parademäßig. Maupassant hatte währenddes eine Waschschüssel herbeigeholt, und wir ließen nun die Ungeheuer auf den Fluten, die wir zu künstlichen Stürmen erregten, nach Herzenslust austoben.
Wir, Maupassant und ich, waren auf einmal intim wie zwei Gespielen. Das fand auch Maupassant. »Wir würden uns, glaube ich, sehr gut vertragen«, sagte er plötzlich und klopfte mir auf die Backe. Dann aber begann er ernstlich über meine Situation zu reden. »Ich habe eben Erkundigungen eingezogen über das Magazin. Der Chef steht keineswegs in gutem Leumund. Ich rate Ihnen davon ab, dort einzutreten, aber vielleicht haben Sie noch andere Fertigkeiten, die sich verwerten ließen?«
»Ach ja, Herr Maupassant, ich tanze sehr gut.«
»So, dann wäre ja der Zirkus oder das Ballett gar nicht übel!« meinte er nicht ohne Ironie. »Und welcher Tanz wäre denn Ihre Spezialität?«
»Danse de ventre.«
»So?« Maupassant lächelte erstaunt. »Da müssen Sie mir gleich eine Probe Ihrer Fertigkeit ablegen.«
»Eh bien!« rufe ich in heller Begeisterung: »Sie werden der Pascha sein, vor dem ich mich mit meinem Kostüm produziere.« »So hätten wir auch das Lokalkolorit«, ergänzte er. Ich war indessen schon so eingebürgert in der gastlichen Wohnung, daß ich die Türe öffnete und Maupassant bat, solange meine Toilette währte, zu verschwinden. Eine golddurchwirkte Decke, die auf einem der Tischchen lag, nahm ich und wand sie um meine Lenden bis zu den Füßen herab. Ich löste meine Haare und entnahm einer Vase einige Nelken, die ich mir kreuzförmig um den Kopf flocht. Ich muß ausgesehen haben wie eine Wilde.
»Entrez, Monsieur le Pascha, s'il vous plaît.«
Maupassant trat ein, auf dem ausdrucksvollen Kopfe einen Fez und um den Hals eine reiche Münzenkette, mit majestätischem Ernst nahm er auf einem zum Thron umdrapierten Sessel würdig und feierlich Platz, und die Vorstellung begann.
»Charmant, drôle, superbe!« rief er ein über das andere Mal, und seine Würde vergessend, begann er taktmäßig den Kopf hin- und herzuwiegen bei jedem, Kastagnettenschlag markierenden, Schnippen meiner Finger. Die Nelken aus den Haaren nehmend, kniete ich zum Schluß vor ihm nieder. »Mein Fürst und Gebieter, hat deine Prinzessin Gnade vor deinen Augen gefunden?«
»Was begehrst du?« rief der Pasche mit Pathos.
»Deine Freundschaft, Herr.« – Wir fuhren am Abend noch, da Maupassant sich dagegen sträubte, mich in das obskure und für mich gänzlich ungeeignete Hotel »Maison Bohème« zu bringen, in dem ich bei meiner Ankunft, da es mir wie ein Wahrzeichen erschien, abgestiegen war, zu Madame L. T. – Unterwegs bat er mich, ihn zu küssen, da er doch mein Gespiele sei. Ich war im Begriff, meinen Kopf in die Höhe zu recken und ihn zu küssen, da ich seinen Wunsch ganz natürlich fand – doch nein – plötzlich senkte ich meinen Kopf wieder in die alte Lage zurück, denn in diesem Augenblick fiel mir ein, was Maupassant mir gesagt: »Ich verachte die Frauen, weil ich sie nötig habe.«
»Nun, plötzlich anders gewillt?« rief er erstaunt und gekränkt.
»Ah so« meinte er lächelnd. – – –
Madame L. T. empfing mich liebenswürdig und küßte mich nach französischer Sitte auf beide Wangen. »Hier bring' ich Ihnen einen kleinen Robinson«, erklärte Maupassant. »Und vor allen Dingen une belle fille«, sagte Madame L. T. weiter. »Das finde ich keineswegs«, warf Maupassant ein, »apart – ja – ein Mädchen mit Knabenaugen.«
Mit gedämpfter Stimme unterhielten sich die beiden, wahrscheinlich über meine Zukunft, hinter der Portiere, und dann empfahl sich mein Beschützer, nicht ohne mich nochmals ausdrücklich zu beruhigen: »Mein liebes Fräulein, seien Sie unbesorgt, Sie befinden sich in den besten Händen!« Madame führte mich in ein kleines Boudoir, wo wir den Tee einnahmen. Sie hörte nicht auf mit Liebkosungen; und noch mehr wie meine Leidensgeschichte interessierte sie mein Renkontre mit Maupassant. Meine Wangen glühten im Gespräch, und ich machte ihr das Geständnis, daß Maupassant mir sehr gut gefiele, daß er mich habe küssen wollen, was ich aber stolz abgelehnt. Als ich schwieg, begann die Dame, die während meiner begeisterten Aussprache erblaßt war, mir klar zu machen, in der delikatesten Weise, daß man die Liebe eines Mannes wie Maupassant sich am besten bewahre durch Zurückhaltung. Und dann verstand sie in rührender Weise, mich aufmerksam zu machen, wie besorgt meine Angehörigen nun wohl um mich sein würden. Sie brachte mich zu Bette wie ein Kind, und ich konnte nicht unterlassen, meine Arme um sie zu schlingen wie instinktiv, um ihr Abbitte zu leisten dafür, daß ich ihr Schmerzen bereitet hatte. Ich weinte bitterlich diese Nacht, nicht ohne das wohltuende Gefühl einer gewissen Hochachtung vor mir selbst – denn ich faßte den Entschluß, eine heroische Tat zu vollbringen, Paris zu verlassen – Maupassant nie wiederzusehen.
Morgens früh klopfte ich an die Tür der Dame und teilte ihr meinen Entschluß mit, daß, falls sie mir das Geld zur Rückreise borgen wolle, ich Paris verlassen würde. Ich glaube, im Grunde plagte mich das Heimweh, das durch das Wort Madame L. T.'s noch geschürt wurde.
»O, meine liebe Madame L. T., nicht wahr, Sie grüßen Monsieur Maupassant von mir?«