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Gottes Mühlen mahlten langsam und sicher. Die großen Flügel drehten sich nach den Winden des Himmels. Die schweren Steine rieben sich mit dumpfem Rasseln aneinander. Was als Mahlgut in die Mühle gebracht wurde, waren Gottes Gedanken. Das Mehl, das zwischen den Steinen gemahlen wurde, waren die Schicksale und Ereignisse des Erdenreiches.
Die Mühlen mahlten langsam, aber die Flügel drehten sich im Kreise, ohne je zu ruhen, und Gottes Gedanken wurden so gut zermahlen, daß zwischen den Schicksalen und Ereignissen, die aus dem Mehlkasten hervorkamen, kein Zusammenhang zu bestehen schien.
Von Gott kam eines Tages ein Gedanke und wurde in den Mahlgang geworfen. Es war ein Gedanke, so schön, daß die Engel ihn in Verzückung in den Weltraum hinaussangen, und das Echo des Weltraums warf ihren Gesang zurück, so daß die Menschen ihn vernehmen konnten. Der Gedanke Gottes, der so von den armen Bewohnern des Erdballs aufgefangen wurde und sie mit hoffnungsvoller Erwartung erfüllte, war: Friede auf Erden.
Gottes Gedanke verschwand zwischen den großen Steinen. Er wurde mit anderen Gedanken Gottes zusammengeführt, die schon früher in die Mühlen geworfen waren. Schicksale und Ereignisse, die aus diesen Friedensgedanken Gottes stammten, wurden mit allen anderen Schicksalen und Ereignissen des Erdenreichs vermengt.
Gottes Mühlen mahlten weiter ohne Unterlaß. Bald sah man Erscheinungen entstehen, die aus Gottes Friedensgedanken stammen mußten. Das Christentum entstand, das Papsttum entstand. Aber sie waren nicht fähig, alle Länder des Erdballs zu gewinnen, und der Friede kehrte durch sie nicht bei den Menschen ein.
Die Besitzergreifung der Erde war auch ein Gedanke Gottes, und aus ihm hatten die Mühlen seit den Tagen des Paradieses Wetteifer und Unruhe gemahlen. Die Entwicklung der verschiedenen Fähigkeiten war ebenfalls ein Gedanke Gottes, und aus ihm hatten die Mühlen seit der Zeit des babylonischen Turms Nationen und Sprachen und Sitten hervorgemahlen, die nie nebeneinander gedeihen können.
Gottesfrieden und Mönchsorden mahlten die Mühlen. Das waren wiederum Bruchstücke von Gottes Friedensgedanken, daran konnte niemand zweifeln. Aber wer begriff, daß, als einige Bauersleute in einem fernen Alpenland eine Eidgenossenschaft zur gemeinsamen Verteidigung gegen die Unterdrückung hoher Herren schlossen, dies wiederum Mehl aus demselben Mahlgut war?
Die Hirten und Bauern der Eidgenossenschaft waren sicherlich nicht diejenigen, die es auf irdischen Frieden abgesehen hatten. Macht und Erweiterung, Unterdrückung der Nachbarn, tapferer Widerstand gegen Fremdherrschaft, das war ihr Ziel. Niemand war kampflustiger als die Männer aus den Alpen. Wenn der Kampf im Heimatland ruhte, dann zogen sie als Söldner zu den Fürsten des Flachlandes und kämpften ihre Kriege aus. Ein Ruf des Schreckens und Entsetzens umgab die Schweizer, und diesem Ruf, doch keineswegs einem Friedensgedanken Gottes schrieb man es zu, daß die kleinen Fürsten des Flachlandes sie nicht mehr in ihrem eigenen Land anzugreifen wagten.
Gottes Mühlen mahlten dem Volk in den Alpentälern anscheinend nichts anderes als Unfrieden. Protestant stand gegen Katholik, Deutscher gegen Franzosen, Edelmann gegen Kirchenfürst, Bürger gegen Edelmann, arm gegen reich, Land gegen Stadt, Staat gegen Staat. Erst als mächtige Reiche ringsherum entstanden, hörte das Volk des Landes auf, sich gegenseitig zu bekriegen. Aber keineswegs war es Gottes Friedensgedanke, der sie dazu bewog, sondern die Furcht, Freiheit und Vaterland einzubüßen.
Das ganze Land lag wie eine Festung hinter seinen Mauern aus Bergketten. Die Fürsten des Flachlandes erkannten, daß derjenige unter ihnen, der diese Festung besetzen konnte, allen Nebenbuhlern übermächtig werden würde. Keiner gönnte sie dem anderen, darum sagten sie zu dem Gebirgsvolk: »Wenn ihr euch von unseren Streitigkeiten fernhaltet, werden wir euch in euren Bergen in Frieden lassen.« Auf diese Art wurde das Alpenland ein geschütztes Friedensland. Aber niemand sagte: »Sieh da, hier ist Gottes Friedensgedanke Wirklichkeit geworden.« Jeder war sich klar darüber, daß es die gegenseitige Mißgunst und der Eigennutz der Mächtigen war, die dem Lande die Segnung des Friedens schenkten.
Gottes Mühlen setzten ihre ewige Arbeit fort. In das kleine geschützte Land kamen Flüchtlinge und Verfolgte, um eine Freistatt zu suchen, Gelehrte und Forscher, um Arbeitsruhe zu finden. Hierher kamen Kranke und Schwache aus aller Herren Länder, um Gesundung zu suchen, und alle friedlichen Reisenden lenkten ihre Schritte lieber hierher, als nach anderen Ländern. Hier versammelten sich die Völker zur Beratschlagung, und hierher wurden die großen Institutionen verlegt, die mit dem Welthaushalt zusammenhängen. Man wußte es immer mehr zu würdigen, hier einen geschützten Zufluchtsort zu haben, der außerhalb von allen Kämpfen stand. Alle waren dankbar, daß er existierte, aber sein Dasein schrieb man der Klugheit und Voraussicht der Menschen zu und keineswegs dem unbestimmten Traum von einem Friedensgedanken Gottes.
Weit weg im Unausdenkbaren taten Gottes Mühlen ihre Arbeit. Niemand sah, wie die Flügel sich drehten, niemand hörte das dumpfe Rasseln, wenn die Steine sich aneinander rieben. Niemand wollte mehr etwas davon wissen, daß die Schicksale und Ereignisse des Erdenreiches Mehl waren, das sie gemahlen, oder daß Gottes Gedanken das Mahlgut waren, das in den Mahlgang geworfen wurde.
Und als ein Mann aus der Schweiz, dem Friedenslande, eines Tages einen Platz aufsuchte, wo zwei Heere sich im Kampfe gegenüberstanden, da begriff niemand, daß dies irgendwie mit einem Friedensgedanken Gottes zusammenhängen könnte.
Es schien nur natürlich und folgerichtig, daß ein Mann aus dem Friedenslande, wo man sich hatte gewöhnen müssen, Räuber wie Samariter als seinen Nächsten zu betrachten, über dieses Schauspiel des Unfriedens empört sein mußte. Es war natürlich, daß er sich von Siegern wie von Besiegten abwandte und nur die Verwundeten sah, die auf dem Boden ausgestreckt lagen und für die die Hilfe, die geboten wurde, nicht hinreichte. Es war eine zwingende Notwendigkeit, daß der Mann, der in dem vom Krieg geschützten Lande wohnte, von beinahe unerträglichem Mitleid mit den armen Menschen ergriffen wurde, die sich im Kriege der Verwundung und Verstümmelung aussetzen mußten.
Der Mann, der die große Feldschlacht gesehen hatte, schrieb ein Buch über die Hilflosigkeit der Verwundeten und die Qualen der Sterbenden. Ihm war die Gabe geworden, Menschenherzen zu rühren, und seine Schrift drang überall hin und regte zum Nachdenken und Handeln an. Ihm war auch die Gabe geworden, die dem Sohn eines Volkes eigen ist, das gezwungen war, sich seinen Weg mitten durch übermächtige Nachbarn und eine übermächtige Natur zu bahnen: das Unmögliche nicht zu versuchen. Er entfesselte nicht den Widerstand der Machthaber, indem er den Krieg selbst abzuschaffen versuchte. Er lenkte alle Willen auf ein erreichbares Ziel.
Mächte und Regierungen kamen zur Beratung zusammen. Und aus der Schweiz, dem Lande, das vor dem Elend des Krieges geschützt war, entlehnte man den Gedanken, daß fortab alle jene, die im Kriege Kranke pflegten, ob sie nun der Armee angehörten oder Freiwillige waren, sakrosankt sein sollten; ihre Gebäude, ihre Wagen, ihre Vorräte durften nicht vom Feinde behelligt werden.
Und aus der Schweiz, dem Lande, das allen Völkern Gastfreundschaft bot, entnahm man den Gedanken, einen Verein für freiwillige Krankenpflege im Feld zu gründen, an dem teilzunehmen alle Völker der Erde aufgefordert wurden. In keinem Kriege, in keinem Lande durfte es noch vorkommen, daß verwundete Soldaten auf dem Schlachtfelde liegenblieben, ohne betreut und gepflegt zu werden.
Und um das Land zu ehren, von dem er ausgegangen war und in dessen Erdreich seine grundlegenden Gedanken erwachsen waren, entlehnte dieser Verein der Schweiz die rote Flagge mit dem kurzarmigen weißen Kreuz, nur mit dem Unterschied, daß die Farben umgestellt waren, und machte sie zu seinem Panier und Erkennungszeichen.
Auf diese Art kam der Verein unter das Zeichen des Kreuzes, aber er war nichtsdestoweniger ein ganz weltlicher Verein, nicht zu Gottes Dienst geschaffen, sondern ganz und gar zu Nutz und Frommen der Menschen. Niemand sah darin eine Verwirklichung von Gottes Friedensgedanken, ja so mancher befürchtete sogar, daß er nur ein Mittel sein würde, Krieg und Kriegsführung zu erleichtern.
Gottes Mühlen mahlten in ihrer stillen Weise weiter. Der Verein Rotes Kreuz wuchs und breitete sich von Land zu Land aus. Seine Gedanken wurden von Europäern wie von Asiaten angenommen, von Christen wie von Heiden, von Männern wie von Frauen. Da war nichts, das trennte, nichts versperrte den Weg, nicht Rasse, nicht Sprache, nicht Gesellschaftssitte. Alle brauchten es, alle wetteiferten, sich unter seinen Schutz zu stellen. Man sah deutlich, daß es ein weltlicher Verein war, für weltliche Ziele gegründet. Er nannte sich Roter Halbmond oder Roter Drachen, je nachdem es in den Ländern, in die er sich verbreitete, verlangt wurde.
Aber es kam eine Zeit, da die Winde des Himmels stärker brausten denn je. Die großen Flügel, die Gottes Mühlen trieben, bewegten sich mit ungewohnter Geschwindigkeit. Das Rasseln der Steine wurde wie Donnergrollen. Und den Völkern des Erdenreiches mahlten sie eine überwältigende Menge von Schicksalen und Ereignissen.
Nach Menschenverstand gesehen, mahlten Gottes Mühlen Unheil. Sie mahlten Qual und Schrecken, Not und Hunger, Grausamkeit und Gewalt. Sie mahlten den Untergang von Reichen, den Aufruhr von Völkern, den Fall der Mächtigen. Die Meere waren von Wracktrümmern übersät, aus dem Luftraum regnete Zerstörung, der Boden erzitterte unter dem Donner der Kanonen, verheerte Länder schrien zum Himmel nach Gerechtigkeit. Über die schönsten Gefilde des Erdenreiches ging die Sintflut des Weltkriegs mit Jammer und Entsetzen; und auch in den Ländern, in die sie kaum drang, verlor man in ihrer drohenden Nähe Besinnung und Verstand.
Aber als die Flut zurücktrat und die Menschen ihre Ruhe wiederfanden und nachzuforschen begannen, was gefallen und was stehengeblieben war, da zeigte es sich, daß vieles, in das sie früher ihr Vertrauen gesetzt hatten, sich als schwankend und ohnmächtig erwiesen hatte.
Keine Staatsordnung, keine Kirche hatte die Sturmflut aufhalten können. Die Bildung der Kulturvölker hatte sie nicht gehindert, sich gegenseitig wie wilde Tiere zu zerfleischen. Die Verbrüderung der Arbeit hatte sich nicht besser bewährt als die der Wissenschaft. Die Völker, die sich vom Kampf fern gehalten hatten, sie hatten in Gelddurst und Genußtaumel die Segnungen des Friedens mißbraucht.
Aber mitten in dem allgemeinen Elend erstrahlte nun das Zeichen des Roten Kreuzes vor den Augen der Suchenden.
Es allein hatte in diesen Jahren der Zerstörung Ruhm und Ehre errungen. Aus seinen Reihen waren die Helden und Heldinnen dieser Zeit hervorgegangen. Es hatte größere Macht gehabt als irgend jemand, das Unglück des Krieges zu mildern. Es hatte für die Verwundeten, die Gefangenen, die Fliehenden, die Kranken, die Frierenden, die Hungernden, die Verarmten, die Trauernden, die Einsamgewordenen hingereicht. In seinem Zeichen hatte die Menschenliebe ihre Werke vollbringen können. Auf sein Wirken konnten die Menschen ihre Gedanken richten, wenn sie der Stärkung und Aufrichtung bedurften.
Als man nun all dies sah, war es, als fielen einem die Schuppen von den Augen. Weit weg im Unausdenkbaren sah man Gottes Mühlen die mächtigen Flügel drehen, man hörte das Rasseln der Steine, die Gottes Gedanken mahlten. Zwischen den Gedanken, die Wetteifer und Kampf verursachten, drängten sich immer wieder Bruchstücke von Gottes schönem Friedensgedanken durch.
Wer wagte nun zu leugnen, daß das Rote Kreuz zum Friedensgedanken gehörte? Still und unbemerkt, ausdauernd und getreulich hatten die großen Mühlen einen Helfer zutage gefördert, der in der höchsten Not des Erdenlebens zur Stelle war. Wer wagte nunmehr zu sagen, daß dies nur Menschenwerk war? Wenn man bedachte, wie es in Jahrhunderten langsamen Wachstums erschaffen worden war, dann mußte man glauben: Gott hat es gewollt.
Und wenn man seine Allgegenwart sah, sah, wie es rings um die Erde gegangen war und gleich der Sonne auf Gerechte und Ungerechte schien, wenn man sah, daß auf diese Art schon ein Völkerbund zur Betätigung von Liebe und Barmherzigkeit zwischen allen Ländern gegründet war, und bedachte, was alles noch daraus entstehen konnte, dann mußte man nochmals wiederholen: Gott hat es gewollt.
* * *
Und nun in diesen Tagen, wo das Rote Kreuz uns ruft und sagt: »Nicht nur in Kriegszeiten gibt es Verwundete und Gefangene, Betrübte, Hungernde und Kranke. Helft uns, daß wir auch in Friedenszeiten gegen die Feinde des Lebens kämpfen können!« Müssen wir dann nicht mit neuerwachtem Glauben auf das Kreuz blicken, das ewige Zeichen der Erlösung, und mit bebender Begeisterung rufen wie unsere Väter vor uns: »Gott will es! Gott will es!«