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Es war in Rom zu Anfang der neunziger Jahre. Leo der Dreizehnte stand da gerade auf der Höhe seines Ansehns und Ruhms. Alle rechtgläubigen Katholiken jubelten über seine Erfolge und Siege, die in Wahrheit großartig waren.
Auch für jene, die die großen politischen Ereignisse nicht fassen konnten, war es offenbar, daß die Sache der Kirche wieder im Fortschreiten begriffen war. Jeder konnte sehen, daß überall neue Klöster errichtet wurden, und daß Pilgerscharen nach Italien zu strömen begannen, ganz wie in alten Zeiten. An vielen Orten sah man die alten verfallenen Kirchen restaurieren, zerstörte Mosaiken instand setzen, und die Schatzkammern der Kirchen füllten sich mit goldenen Reliquienschreinen und diamantenbesetzten Monstranzen.
Mitten in dieser Zeit des Erfolges wurde das römische Volk durch die Nachricht erschreckt, daß der Papst erkrankt sei. Er sollte sehr schlimm daran sein. Ein Gerücht behauptete sogar, er läge im Sterben.
Der Zustand war auch in hohem Grade ernst. Die Ärzte des Papstes gaben Bulletins aus, die kaum irgendwelche Hoffnung ließen. Es wurde hervorgehoben, daß das hohe Alter des Papstes – er war damals schon achtzig Jahre – es beinahe unmöglich erscheinen lasse, daß er die Krankheit überstehe.
Diese Krankheit des Papstes verursachte natürlich großes Aufsehen. In allen Kirchen Roms begann man für seine Genesung zu beten. Die Zeitungen waren voll Mitteilungen über den Krankheitsverlauf. Die Kardinäle begannen ihre Maßregeln zu treffen, um die neue Papstwahl vorzubereiten.
Überall beklagte man den bevorstehenden Hingang des glänzenden Fürsten. Man fürchtete, daß das Glück, das sich unter Leo dem Dreizehnten an die Sache der Kirche geheftet hatte, ihr unter seinem Nachfolger nicht treu bleiben würde. So mancher hatte gehofft, daß es diesem Papst gelingen würde, Rom und den Kirchenstaat wieder zu gewinnen. Andre hatten wohl geträumt, er würde eines der großen protestantischen Länder in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückführen.
Mit jedem Augenblick, der verstrich, nahm die Unruhe und die Betrübnis zu. Als die Nacht kam, dachten viele gar nicht daran, zu Bett zu gehen. Die Kirchen wurden bis lange nach Mitternacht offen gehalten, damit die Betrübten die Möglichkeit hatten, einzutreten und zu beten.
Unter diesen betenden Scharen gab es sicherlich mehr als eine arme Seele, die ausrief: »Herr Gott, nimm mein Leben an Stelle des seinen. Laß ihn leben, der so viel für deine Ehre wirken kann, und lösche anstatt dessen mein Lebensflämmchen, das niemand zum Frommen brennt.«
Aber wenn der Todesengel einen dieser Betenden beim Wort genommen hätte und plötzlich mit gezücktem Schwerte vor ihn hingetreten wäre, die Erfüllung seines Gelöbnisses zu fordern, da kann man wohl denken, wie er sich betragen hätte. Sicherlich hätte er ein so übereiltes Anerbieten alsogleich zurückgenommen und um die Gnade gefleht, alle Jahre, die ihm ursprünglich zugedacht wären, leben zu dürfen.
Um diese Zeit wohnte in einer der dunklen Baracken am Tiberufer eine alte Frau. Sie gehörte zu jenen, die so geschaffen sind, daß sie Gott täglich für das Leben danken. Am Vormittag pflegte sie auf dem Markt zu sitzen und Gemüse zu verkaufen, und dies war eine Beschäftigung, die ihr in hohem Grade zusagte. Sie fand, daß nichts fröhlicher sein könnte als ein Markt am Morgen. Alle Zungen waren im Gang, um Waren auszubieten, und die Käufer drängten sich vor den Ständen, wählten und feilschten, während so manches gute Scherzwort zwischen ihnen und den Verkaufenden hin und her flog. Zuweilen machte sie gute Geschäfte und verkaufte ihr ganzes Lager aus, aber auch wenn sie nicht so viel wie einen Rettich anbrachte, machte es ihr Freude, in der frischen Morgenluft unter Blumen und Grün zu stehen.
Am Abend hinwiederum hatte sie eine andre und noch größere Freude. Da kam ihr Sohn auf Besuch zu ihr nach Hause. Er war Geistlicher, aber er war an einer unscheinbaren Kirche in einem der Armenviertel angestellt. Die armen Geistlichen, die dort wirkten, hatten nicht viel zum Leben, und die Mutter fürchtete, daß ihr Sohn Hunger leide. Aber daraus erwuchs ihr auch ihre große Freude, denn es gab ihr Anlaß, ihn mit Leckerbissen vollzupfropfen, wenn er zu ihr auf Besuch kam. Er sträubte sich, er hatte Anlagen zu einem strengen, entsagenden Leben, aber die Mutter war so verzweifelt, wenn er nein sagte, daß er immer nachgeben mußte. Während er aß, ging sie in der Stube umher und schwätzte von allem, was sich am Morgen auf dem Markte zugetragen hatte. Es waren lauter sehr weltliche Dinge, und zuweilen fiel es ihr ein, daß ihr Sohn daran Anstoß nehmen könnte. Dann unterbrach sie sich mitten in einem Satze und fing an, von geistlichen und ernsten Dingen zu reden, aber da konnte der Kaplan nicht umhin, zu lachen. »Nein, nein, Mutter Concenza,« sagte er. »Rede nur weiter, wie dir der Schnabel gewachsen ist. Die Heiligen kennen dich schon. Sie wissen, was du im Kopfe hast.«
Dann lachte sie ebenfalls und sagte: »Du hast wirklich recht, es lohnt sich nicht, dem lieben Gott etwas vorzumachen.«
Aber als die Krankheit des Papstes begann, kam auch auf Signora Concenza ihr Teil an der allgemeinen Betrübnis. Von selbst wäre sie sicherlich nicht auf den Gedanken verfallen, sich über seinen Hingang Sorgen zu machen, aber als der Sohn zu ihr kam, war er nicht zu bewegen, einen Bissen zu kosten oder ihr ein Lächeln zu schenken, obgleich sie ganz vollgepfropft mit Einfällen und Geschichten war. Da erschrak sie natürlich und fragte, was es denn gäbe. »Der Heilige Vater ist erkrankt,« antwortete der Sohn.
Zuerst konnte sie kaum glauben, daß dies der einzige Grund seiner Verstimmung sei. Natürlich war es traurig, aber sie wußte ja, wenn ein Papst starb, kam sogleich ein andrer. Sie erinnerte ihren Sohn daran, daß sie auch den guten Pio Nono betrauert hätten. Und sieh da, dieser, der nach ihm kam, sei noch ein größerer Papst gewesen. Sicherlich würde es den Kardinälen gelingen, ihnen einen ebenso heiligen und weisen Herrscher zu wählen.
Da begann der Sohn mit ihr vom Papste zu sprechen. Er ließ es sich nicht einfallen, sie in seine Regententätigkeit einzuweihen, aber er erzählte ihr kleine Geschichtchen aus seinen Kindheits- und Jugendjahren. Auch aus seiner Prälatenzeit gab es Dinge zu berichten, die sie verstehen und würdigen konnte, wie er seinerzeit in Süditalien Räuber verfolgte, und wie er in den Jahren, als er Bischof in Perugia war, allen teuer wurde.
Ihre Augen standen voll Tränen, und sie rief: »Ach, daß er doch nicht so alt wäre, daß er doch noch viele Jahre leben könnte, da er ein so großer und heiliger Mann ist!«
»Ja, wenn er nur nicht so alt wäre,« sagte der Sohn und seufzte.
Aber Signora Concenza hatte sich schon die Tränen aus den Augen gewischt. »Du mußt dies wirklich mit Ruhe tragen,« sagte sie. »Bedenke doch, daß seine Lebenszeit ganz sicher abgelaufen ist. Es ist unmöglich, den Tod zu hindern, ihn zu ergreifen.«
Aber der Kaplan war ein Schwärmer. Er liebte die Kirche, und er hatte geträumt, daß der große Papst sie zu wichtigen, entscheidenden Siegen führen würde.
»Ich wollte gerne mein Leben hingeben, wenn ich ihm dadurch neues Leben erkaufen könnte,« sagte er.
»Was sagst du da!« rief die Mutter. »Liebst du ihn wirklich so sehr? Aber du darfst keinesfalls so gefährliche Wünsche aussprechen. Du mußt im Gegenteil darauf bedacht sein, recht lange zu leben. Wer weiß, was noch geschehen kann? Warum solltest du nicht auch einmal Papst werden können?«
Eine Nacht und ein Tag verstrich, ohne daß der Zustand des Papstes sich besserte. Als Signora Concenza am nächsten Tage den Sohn traf, sah er ganz verstört aus. Sie begriff, daß er den ganzen Tag bei Fasten und Gebet verbracht hatte, und sie begann ärgerlich zu werden.
»Ich glaube wirklich, du willst dich wegen dieses alten kranken Mannes umbringen,« sagte sie.
Den Sohn quälte es, sie nun wieder ohne Mitgefühl zu sehen, und er versuchte sie zu bewegen, ein wenig an seinem Schmerze teilzunehmen.
»Du solltest wirklich mehr als ein andrer wünschen, daß der Papst am Leben bleibe,« sagte er. »Wenn er zu regieren fortfährt, wird er, ehe ein Jahr vergeht, meinen Pfarrer zum Bischof ernennen, und in diesem Falle ist mein Glück gemacht. Er wird mir dann eine gute Anstellung an einer Domkirche geben. Du wirst mich dann nicht mehr in fadenscheiniger Soutane herumgehen sehen. Ich werde reichlich Geld haben und dir und allen deinen armen Nachbarn helfen können.«
»Aber wenn nun der Papst stirbt?« fragte Signora Concenza atemlos.
»Wenn der Papst stirbt, dann kann niemand etwas wissen. Wenn mein Pfarrer dann nicht gerade bei seinem Nachfolger in Gunst steht, müssen wir beide noch viele Jahre da bleiben, wo wir sind.«
Signora Concenza stellte sich vor den Sohn und betrachtete ihn bekümmert. Sie sah seine Stirn an, die voll Runzeln war, und sein Haar, das zu ergrauen begonnen hatte. Er sah müde und abgezehrt aus. Es war wirklich notwendig, daß er sobald als möglich diese Stelle an der Domkirche bekam.
Heute nacht werde ich in die Kirche gehen und für den Papst beten, dachte sie. Er darf nicht sterben.
Nach dem Abendbrot überwand sie tapfer ihre Müdigkeit und begab sich auf die Straße. Große Menschenscharen strömten da vorbei. Viele waren nur Neugierige, die ausgingen, um mit dabei zu sein, die erste Nachricht des Todesfalles aufzufangen, aber viele waren Betrübte, die von Kirche zu Kirche wanderten, um zu beten.
Kaum war jedoch Signora Concenza auf die Straße gekommen, als sie eine ihrer Töchter traf, die mit einem Lithographen verheiratet war.
»Ach Mutter, wie recht tust du daran, daß du ausgehst und für ihn betest,« sagte die Tochter. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Unglück es wäre, wenn er stürbe. Mein Fabiano war nahe daran, sich das Leben zu nehmen, als er erfuhr, daß der Papst erkrankt sei.«
Sie erzählte, daß ihr Mann, der Lithograph, gerade jetzt hunderttausend Papstbilder habe drucken lassen. Wenn nun der Papst stürbe, würde er nicht die Hälfte davon verkaufen, ja nicht einmal den vierten Teil. Er würde ruiniert sein. Ihr ganzes Vermögen stünde auf dem Spiel.
Sie eilte weiter, um Neuigkeiten zu hören, mit denen sie ihren armen Mann trösten konnte, der nicht auszugehen wagte, sondern daheim saß und über sein Unglück brütete. Aber ihre Mutter blieb auf der Straße stehen und murmelte in sich hinein: »Es geht nicht, daß er stirbt. Es geht wirklich nicht, daß er stirbt.«
Sie trat in die erste Kirche ein, die sie sah. Sie kniete nieder und betete für das Leben des Papstes.
Als sie sich wieder erhob, um fortzugehen, fiel ihr Blick auf ein kleines Votivbild, das gerade über ihrem Kopfe an der Wand hing. Es stellte den Tod vor, der ein furchtbares zweischneidiges Schwert ausstreckte, um ein junges Mädchen niederzumetzeln, während ihre alte Mutter sich ihm in den Weg stellte und vergebens den Streich an Stelle des Kindes aufzufangen suchte.
Sie stand lange nachdenklich vor dem Bilde. »Meister Tod ist ein gar genauer Rechenmeister,« sagte sie, »man hat nie gehört, daß er darauf eingegangen wäre, ein junges Leben für ein altes freizugeben. Vielleicht wäre er doch weniger unerbittlich, wenn man ihm vorschlüge, ein altes für ein junges herzugeben.«
Sie entsann sich der Worte des Sohnes, daß er an Stelle des Papstes sterben wollte, und ein Schauer durchfuhr sie. Man denke, wenn der Tod ihn beim Worte nahm.
»Nein, nein, Meister Tod,« flüsterte sie. »Du darfst ihm nicht glauben. Du begreifst wohl, daß er nicht meinte, was er sagte. Er will leben. Er will nicht von seiner alten Mutter fortgehen, die ihn liebt.«
Zum ersten Male durchzuckte sie nun der Gedanke, daß, wenn sich jemand für den Papst opfern sollte, es doch besser wäre, sie täte es, sie, die schon alt war und das Leben gelebt hatte.
Als sie die Kirche verließ, traf sie mit einigen Nonnen von sehr ehrwürdigem Aussehen zusammen, die im nördlichen Teile des Landes daheim waren. »Wir haben wirklich Hilfe sehr nötig,« sagten sie zu der alten Concenza. »Unser Kloster war so alt und baufällig, daß der böse Sturm im vorigen Winter es umwehte. Was ist das doch für ein Unglück, daß der Papst krank ist. Wir können ihm ja unsere Kümmernisse nicht vorbringen. Wenn er sterben sollte, müssen wir unverrichteter Dinge heimfahren. Sein Nachfolger wird ja lange Jahre hindurch an andere Dinge zu denken haben, als armen Nonnen beizustehen.«
Alle, die auf der Straße waren, waren von denselben Gedanken erfüllt. Es war sehr leicht, mit wem man wollte, ins Gespräch zu kommen. Ein jeder war froh, seinen Sorgen Worte leihen zu können. Und alle, denen Mutter Concenza sich näherte, ließen sie hören, daß der Tod des Papstes für sie ein furchtbares Unglück wäre.
Und die alte Frau wiederholte einmal ums andre für sich selbst: »Es ist wahr, mein Sohn hat recht. Es geht wirklich nicht an, daß der Papst stirbt.«
Eine Krankenpflegerin stand mitten in einer Schar von Menschen und sprach sehr laut. Sie war so erregt, daß die Tränen ihr über die Wangen liefen. Sie erzählte, daß sie vor fünf Jahren den Befehl erhalten hätte, fortzureisen und an einem Aussätzigenspital zu dienen, das auf einer fernen Insel, weit weg auf der andern Seite des Erdballs lag. Sie hätte natürlich gehorchen müssen, aber es wäre widerstrebend geschehen. Sie hätte furchtbare Angst vor dem Auftrage gehabt. Aber bevor sie fortfuhr, wäre sie vom Papste empfangen worden, er hätte ihr einen besonderen Segen erteilt, und hätte bestimmt versprochen, sie wieder vorzulassen, wenn sie zurückkäme. Und davon hätte sie die fünf Jahre, die sie fortgewesen sei, gelebt, nur von der Hoffnung, ihn noch einmal zu sehen. Das hätte ihr geholfen, all das Entsetzliche zu überstehen. Und jetzt, wo sie endlich heimkommen durfte, würde sie mit der Nachricht begrüßt, daß er auf dem Totenbette liege. Sie sollte ihn also nicht einmal erblicken.
Sie gebärdete sich ganz verzweifelt, und die alte Concenza war sehr gerührt. Es würde wirklich ein allzu großer Schmerz für alle Menschen sein, wenn der Papst stürbe, dachte sie, während sie weiter durch die Straße wanderte.
Als sie sah, daß viele Menschen ganz verweint aussahen, dachte sie mit großem Wohlgefühl, welches Glück es sein müßte, aller Freude zu sehen, wenn der Papst wieder hergestellt wäre. Und da sie, wie viele Menschen von fröhlicher Gemütsart, eigentlich nicht mehr Angst vor dem Sterben als vor dem Leben hatte, sagte sie zu sich selbst:
»Wenn ich nur wüßte, wie es zugehen sollte, wollte ich gerne dem Heiligen Vater die Jahre schenken, die ich noch zu leben habe, da seine eigenen anscheinend abgelaufen sind.«
Sie sagte dies halb im Scherz, aber es lag auch Ernst hinter den Worten. Sie wünschte wirklich, so etwas vollbringen zu können. Eine alte Frau kann sich keinen schöneren Tod wünschen, dachte sie. Ich würde sowohl meinem Sohn wie meiner Tochter helfen und überdies eine große Menge Menschen glücklich machen.
Während gerade solche Gedanken sich in ihr regten, hob sie die gefütterte Decke, die vor dem Eingang einer kleinen dunklen Kirche hing. Es war eine von den uralten Kirchen, eine von jenen, die allmählich in die Erde zu sinken scheinen, weil der Stadtgrund um sie herum sich im Laufe der Jahre gehoben hat. Diese Kirche hatte in ihrem Inneren etwas von altertümlicher Unheimlichkeit bewahrt, die von den düsteren Zeiten herstammen mußte, in denen sie entstanden war. Man wurde unwillkürlich von einem Schauer geschüttelt, wenn man unter diese niedrigen Wölbungen trat, die auf unermeßlich dicken Säulen ruhten, und die barbarisch bemalten Heiligenbilder sah, die von Wänden und Altären herniederblickten.
Als Signora Concenza in diese alte Kirche trat, die ganz von Betenden erfüllt war, wurde sie von mystischem Schrecken und Ehrfurcht ergriffen. Sie fühlte, daß in diesem Raume eine Gottheit wohnte. Unter den schweren Wölbungen schwebte etwas unendlich Mächtiges und Geheimnisvolles, etwas, das ein so vernichtendes Gefühl der Übermacht einflößte, daß sie sich fürchtete, dort zu verweilen. »Ach, dieses ist keine Kirche, in die man geht, um eine Messe zu hören oder zu beichten,« sagte Signora Concenza zu sich selbst. »Hierher geht man, wenn man in großer Not ist, wenn einem nicht anders zu helfen wäre als durch ein Wunder.«
Sie blieb zögernd an der Tür stehen und atmete diese seltsame Luft voll Geheimnis und Grauen ein.
»Ich weiß nicht einmal, wem diese alte Kirche geweiht ist,« murmelte sie, »aber ich fühle, daß hier wirklich jemand ist, der unsere Gebete hört.«
Sie sank neben den Knienden nieder, die so zahlreich waren, daß sie den Boden vom Altare bis hinauf zum Eingang bedeckten. Während sie selbst betete, hörte sie ihre Nachbarn seufzen und schluchzen. All dieser Kummer drang ihr ins Herz und erfüllte es mit immer größerem Mitleid. »Ach, mein Gott, laß mich etwas tun, um den alten Mann zu retten,« betete sie. »Ich würde ja fürs erste meinen Kindern und dann allen andern Menschen helfen.«
Zuweilen huschte ein kleiner magerer Mönch zu den Betenden und flüsterte ihnen etwas ins Ohr. Und der, zu dem er gesprochen hatte, erhob sich sogleich und folgte ihm in die Sakristei.
Signora Concenza begriff sofort, um was es sich handelte. Das sind jene, welche Gelöbnisse für die Genesung des Papstes ablegen, dachte sie.
Als der kleine Mönch das nächstemal kam und seine Runde machte, erhob sie sich und folgte ihm.
Das war eine ganz unwillkürliche Handlung. Es deuchte sie, daß sie von der Macht, die in der alten Kirche herrschte, dazu getrieben wurde.
Als sie in die Sakristei kam, die noch altertümlicher und geheimnisvoller zu sein schien als die Kirche selbst, wurde sie sogleich von Reue erfaßt. »Mein Gott, was habe ich hier zu tun?« fragte sie sich. »Was habe ich hinzugeben? Ich besitze ja nichts andres als ein paar Fuhren Gemüse. Ich kann dem Heiligen doch nicht ein paar Körbe Artischocken schenken.«
Der einen Seite des Raumes entlang lief ein langer Tisch, und an diesem stand ein Geistlicher und trug alles, was den Heiligen versprochen wurde, in ein Register ein. Concenza hörte, wie einige versprachen, der alten Kirche eine Geldsumme zu schenken, während ein andrer seine Golduhr und eine dritte ihre Perlohrgehänge hingeben wollte.
Concenza stand noch immer still an der Tür. Ihre letzten armen Groschen hatte sie ausgegeben, um dem Sohne ein paar Leckerbissen zu beschaffen. Sie hörte, wie einige, die nicht reicher zu sein schienen als sie, Wachskerzen und Silberherzen kauften. Sie stand da und drehte ihre Rocktasche aus und ein. Sie konnte nicht einmal so viel aufbringen.
So stand sie lange da und wartete, bis sie schließlich die einzige Fremde in der Sakristei war. Die Geistlichen, die dort umhergingen, sahen sie ein wenig erstaunt an. Da machte sie ein paar Schritte vorwärts, sie schien zuerst unsicher und befangen, aber nach den ersten Schritten wanderte sie leicht und rasch zu dem Tische hin.
»Hochwürden,« sagte sie zu dem Geistlichen. »Schreiben Sie, daß Concenza Zamponi, die voriges Jahr am Tage Johannes des Täufers sechzig Jahre alt wurde, alle ihre übrigen Jahre dem Papste gibt, auf daß sein Lebensfaden verlängert werde.«
Der Geistliche hatte schon zu schreiben begonnen. Er war sicherlich sehr müde davon, daß er die ganze Nacht dies Register geführt hatte, und dachte nicht weiter daran, was es für Dinge waren, die er aufzeichnete. Aber nun brach er mitten im Satze ab und sah fragend zu Signora Concenza auf. Sie begegnete seinem Blicke sehr ruhig.
»Ich bin stark und gesund, Hochwürden,« sagte sie. »Ich könnte schon meine siebzig erleben. Es sind mindestens zehn Jahre, die ich dem Heiligen Vater schenke.«
Der Geistliche sah ihren Eifer und ihre Andacht, und er erhob keine Einwendungen. »Es ist eine Arme,« dachte er. »Sie hat nichts andres zu geben.«
»Es ist geschrieben, meine Tochter,« sagte er.
Als die alte Concenza wieder ins Freie kam, war es so spät, daß alles Straßenleben aufgehört hatte und die Gasse ganz öde dalag. Sie befand sich in einem entlegenen Stadtteil, wo die Gaslaternen so spärlich standen, daß es fast ganz dunkel war. Sie schritt doch rüstig aus. Sie fühlte eine große Weihe in sich und war gewiß, daß sie nun etwas getan hatte, was viele Menschen glücklich machen würde.
Wie sie so über die Straße ging, hatte sie mit einem Male die Empfindung, daß ein lebendes Wesen über ihrem Kopfe schwebte.
Sie blieb stehen und sah auf. Im Dunkel zwischen den großen Häusern vermeinte sie ein paar große Flügel zu unterscheiden, und sie glaubte auch das Rauschen der Fittiche zu hören.
»Was ist das?« sagte sie. »Es kann doch kein Vogel sein, es ist gar zu groß.«
Gleich darauf glaubte sie ein Antlitz zu gewahren, das so weiß war, daß es die Dunkelheit durchleuchtete. Da packte sie unsägliches Grauen. »Das ist der Todesengel, der über mir schwebt,« dachte sie. »Ach, was habe ich getan! Ich habe mich in die Gewalt des Entsetzlichen gegeben.«
Sie begann zu laufen, aber noch immer hörte sie das Rauschen der mächtigen Flügel, und sie war gewiß, daß der Tod ihr nacheilte.
So ging es durch ein paar Straßen. Es deuchte sie, daß der Tod ihr immer näher käme. Schon fühlte sie seine Flügel an ihre Schultern schlagen.
Plötzlich spürte sie, wie etwas Schweres und Scharfes ihren Kopf traf. Das zweischneidige Schwert des Todes hatte sie endlich erreicht. Sie sank in die Knie. Sie fühlte, daß sie ihr Leben lassen mußte.
Einige Stunden später wurde die alte Concenza von ein paar Arbeitern auf der Straße gefunden. Sie lag ohnmächtig da, von einem Schlaganfall getroffen. Die arme Frau wurde sogleich in ein Krankenhaus gebracht, und es gelang, sie zum Bewußtsein zu bringen, aber es war offenbar, daß sie nicht mehr lange Zeit zu leben hatte.
Man konnte noch ihre Kinder holen lassen. Als sie voll Betrübnis an ihr Krankenlager traten, fanden sie sie sehr ruhig und glücklich. Sie konnte nicht viele Worte sprechen, aber sie lag da und streichelte ihnen die Hände.
»Ihr sollt froh sein,« sagte sie, »froh, froh.«
Es war ihr sichtlich nicht recht, daß sie weinten. Sie bat auch die Krankenpflegerinnen, sie möchten doch lächeln und Freude zeigen.
»Froh und glücklich,« sagte sie, »nun müßt ihr alle froh und glücklich sein.«
Sie lag mit hungernden Augen da und wartete darauf, ein bißchen Freude zu sehen.
Nach einer Weile wurde sie ungeduldig über die Tränen ihrer Kinder und über die ernsten Mienen der Krankenpflegerinnen. Sie begann Dinge zu sagen, die niemand verstehen konnte. Sie sagte, wenn sie nicht froh wären, dann hätte sie ebensogut noch weiterleben können. Die, welche sie hörten, glaubten, sie phantasiere.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein junger Doktor trat in den Krankensaal. Er schwenkte eine Zeitung in der Hand und rief mit lauter Stimme: »Dem Papst geht es besser. Er wird am Leben bleiben. Heute nacht ist eine Wendung eingetreten.«
Die Krankenpflegerinnen bedeuteten ihm, zu schweigen, damit er die Sterbende nicht störe, allein diese hatte ihn schon gehört.
Sie hatte auch gesehen, wie ein Aufzucken der Freude, ein Schimmer von Glück, der sich nicht verbergen ließ, die durchfuhr, die um ihr Bett standen.
Da verschwand die Ungeduld von ihrem Antlitz. Sie lächelte zufrieden. Sie gab ein Zeichen, daß man sie im Bette aufsetzen möge; da saß sie nun und sah sich mit etwas Fernschauendem im Blick um. Es war, als blickte sie hinaus über Rom, wo nun die Menschen über die Straßen strömten und einander mit der frohen Kunde grüßten.
Sie hob den Kopf, so hoch sie konnte. »Das war ich,« sagte sie. »Ich bin sehr glücklich. Gott hat mich sterben lassen, damit er leben könne. Es liegt mir nichts daran, zu sterben, da ich alle Menschen glücklich gemacht habe.«
Sie legte sich wieder zurück, und in einigen Augenblicken war sie tot.
In Rom erzählte man, daß der Heilige Vater sich nach seiner Genesung eines Tages daran ergötzte, die Aufzeichnungen der Kirchen über die frommen Gelöbnisse durchzusehen, die für seine Genesung gemacht worden waren.
Er las lächelnd die langen Reihen kleiner Gaben, bis er zu der Aufzeichnung kam, daß Concenza Zamponi ihm ihre übrigen Lebensjahre geschenkt hatte. Da wurde er mit einem Male sehr ernst und gedankenvoll.
Er ließ sich nach Concenza Zamponi erkundigen, und er erfuhr, daß sie in derselben Nacht, in der er genesen war, gestorben war. Er ließ auch ihren Sohn Domenico zu sich rufen und fragte ihn nach ihren letzten Augenblicken.
»Mein Sohn,« sagte der Papst zu ihm, als er alles erfahren hatte, »deine Mutter hat mir nicht das Leben gerettet, wie sie in ihrer letzten Stunde glaubte, aber ich bin sehr gerührt über ihre Liebe und Opferwilligkeit.«
Er ließ Domenico seine Hand küssen, worauf er ihn verabschiedete.
Aber die Römer versichern, wenn auch der Papst nicht zugestehen wolle, daß seine Lebenstage durch die Gabe der armen Frau verlängert worden seien, so sei er doch davon überzeugt. »Warum hätte wohl sonst Vater Zamponi so rasch Karriere gemacht?« fragten die Römer. »Er sei ja schon Bischof, und man flüsterte, daß er bald Kardinal werden würde.«
Und in Rom konnte man auch später nur schwer glauben, daß der Papst sterben würde, selbst als er sehr krank war. Niemand konnte berechnen, wann sein Lebenslauf sich erfüllt hatte. Es hing ja alles davon ab, wie viele Jahre die arme Concenza ihm geschenkt hatte.