de Laclos, Choderlos
Gefährliche Liebschaften
de Laclos, Choderlos

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Hundertundeinundsiebzigster Brief

Frau von Volanges an Frau von Rosemonde.

Meine liebe Freundin, ich komme von einer Überraschung in die andere, von einem Kummer in den andern. Man muß Mutter sein, um zu verstehen, was ich gestern den ganzen Vormittag gelitten habe; und wenn ich inzwischen über meine schlimmsten Befürchtungen beruhigt bin, so bin ich doch immer noch in lebhafter Betrübnis, deren Ende ich nicht absehe.

Gestern, gegen zehn Uhr morgens, schickte ich, ich war erstaunt, meine Tochter noch nicht zu sehen, meine Kammerfrau zu ihr, was diese Verspätung bedeute. Sie kam im Augenblick darauf ganz entsetzt zurück, und erschreckte mich selbst noch viel mehr durch die Meldung, daß meine Tochter nicht in ihren Zimmern sei, und daß sie ihr Kammermädchen schon des Morgens nicht darin gefunden habe. Denken Sie sich meine Lage! Ich ließ alle meine Leute kommen und vor allem den Türhüter; alle schwuren mir, von nichts zu wissen und konnten mir keine Auskunft über den Vorfall geben. Ich ging sofort ins Zimmer meiner Tochter. Die darin herrschende Unordnung sagte mir, daß sie es augenscheinlich erst am selben Morgen verlassen haben konnte; sonst aber fand ich nichts zu meiner Aufklärung. Ich durchsuchte ihre Schränke, ihren Sekretär; ich fand alles an seinem Platz, alle ihre Kleider, bis auf das, in dem sie ausgegangen war. Sie hatte nicht einmal das wenige Geld mitgenommen, das sie in ihrem Zimmer hatte.

Da sie erst gestern erfahren hatte, was man alles über Frau von Merteuil erzählt, an der sie sehr hing, so sehr sogar, daß sie den ganzen Abend über geweint hat; und da ich mich erinnerte, daß sie nicht wisse, Frau von Merteuil sei auf dem Lande, so war mein erster Gedanke, sie habe ihre Freundin aufsuchen wollen, und sei so leichtsinnig gewesen, allein zu gehen. Wie aber die Zeit verstrich, ohne daß sie zurückkam, kehrte alle meine Unruhe wieder. Jeder Augenblick vermehrte meine Sorge, und so sehr ich auch darauf brannte, etwas zu erfahren, traute ich mich doch nicht, irgendwelche Erkundigungen einzuziehen, in der Befürchtung, Aufsehen zu erregen, indem ich diesem Schritte Bedeutung gebe, den ich später vielleicht vor jedermann hätte geheimhalten wollen. Nein, in meinem ganzen Leben habe ich nicht so gelitten.

Endlich, erst nach zehn Uhr, erhielt ich einen Brief von meiner Tochter und zugleich einen von der Oberin des Klosters der ***. Im Brief meiner Tochter stand nur, sie hätte befürchtet, ich würde mich ihrer Neigung, Nonne zu werden, widersetzen, und daß sie es deshalb nicht gewagt habe, mir davon etwas zu sagen. Das übrige waren nur Entschuldigungen, daß sie ohne meine Erlaubnis diesen Entschluß gefaßt habe, den ich, fügte sie hinzu, sicher nicht mißbilligen würde, wenn ich ihre Gründe kennte, nach denen sie mich jedoch nicht zu fragen bitte.

Die Oberin schrieb mir, daß sie, wie sie ein junges Mädchen habe allein kommen sehen, es erst nicht habe annehmen wollen, nachdem sie sie aber ausgefragt und von ihr gehört habe, wer sie sei, habe sie mir einen Dienst zu erweisen geglaubt, wenn sie meiner Tochter zunächst einmal Zuflucht gewähre, um sie nicht neuem Umherlaufen auszusetzen, wozu sie entschlossen schien. Die Oberin bot mir, wie nur recht und billig, an, mir meine Tochter wieder zurückzugeben, wenn ich sie verlange, lädt mich aber natürlich nach ihrem Stande ein, mich einer Neigung nicht zu widersetzen, die sie als »sehr entschieden« schildert. Sie sagte mir noch, sie habe mich von dem Ereignis nicht früher unterrichten können, weil es ihr viel Mühe gemacht habe, meine Tochter zu bestimmen, daß sie mir schriebe; denn meine Tochter hatte gewollt, daß niemand davon erführe, wohin sie sich zurückgezogen habe. Der Unverstand der Kinder ist doch wirklich grausam.

Ich fuhr sofort nach dem Kloster; und nachdem ich die Oberin gesprochen hatte, bat ich, ich möchte meine Tochter sehen. Die kam nur mit Mühe und unter Zittern. Ich habe in Gegenwart der Klosterfrauen und auch allein mit ihr gesprochen; aber alles, was ich unter Tränen aus ihr habe herausbekommen können, ist, daß sie nur im Kloster glücklich sein könne. Ich erlaubte ihr schließlich, dazubleiben, aber ohne daß sie schon, wie sie wollte, in den Reihen der Postulantinnen stehen sollte. Ich fürchte, daß der Tod der Frau von Tourvel und Herrn von Valmonts dieses junge Ding so angegriffen haben. So groß auch meine Achtung vor dem klösterlichen Leben ist, würde ich doch nicht ohne Schmerz, ja nicht ohne Furcht meine Tochter diesen Beruf erwählen sehen. Mir scheint, wir haben schon so genug Pflichten zu erfüllen, auch ohne daß wir uns noch neue zuschaffen; und dann: in diesem Alter wissen wir doch kaum, was für uns taugt.

Was die Schwierigkeit meiner Lage verdoppelt, ist die nah bevorstehende Rückkunft Herrn von Gercourts. Wird nun diese vorteilhafte Heirat nicht zustande kommen? Wie soll man denn seine Kinder glücklich machen, wenn es nicht genügt, daß man es wünscht und alle Mühe darauf verwendet? Sie würden mich sehr zu Dank verpflichten, wenn Sie mir sagten, was Sie an meiner Stelle tun würden. Ich kann keinen Entschluß fassen. Ich finde nichts so schrecklich, als wenn man über das Schicksal anderer entscheiden soll, und ich fürchte mich gleich sehr davor, in dieser Angelegenheit streng wie ein Richter oder schwach wie eine Mutter zu sein.

Ich werfe mir immerfort vor, Ihren Kummer noch zu vermehren, wenn ich Ihnen von dem meinen spreche. Aber ich kenne Ihr Herz: der Trost, den Sie andern geben können, würde Sie Ihrerseits so sehr trösten, als Sie irgend getröstet werden können. Gott befohlen, meine liebe und würdige Freundin; ich erwarte Ihre beiden Antworten mit größter Ungeduld.

Paris, den 13. Dezember 17..


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