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Viertes Kapitel

Moorfeld flog auf sein Zimmer, lud seine Pistolen, warf sich in einen Wagen und eilte nach Stauntons Haus. Er hatte bei diesem Ereignis vor allem den Mißbrauch seiner Person zu rächen, welcher Benthal einen Auftrag an die Damen Milden gegeben in dem Augenblicke, da seine Verlobungskarten mit Miß Sarah gedruckt waren. Aber er fand Stauntons Haus verschlossen, die Jalousien niedergelassen, und nur Jack, der Neger, war da, welcher zu verkünden hatte, daß seine Herrschaft heute morgen eine Reise angetreten. Er zog von dem alt-anhänglichen Diener noch weitere Erkundigungen ein und gelangte zu der Überzeugung, daß er sein Opfer aufgeben müsse. Es war die öffentliche Meinung der Stadt selbst, welche dem Hause Staunton wegen des Ereignisses mit seinem Kammermädchen diesen zeitweiligen Rückzug auferlegte. Aber geschickt hatte das Haus seine Ehrfurcht vor den Dehors mit dem Rückzuge des Schwiegersohnes kombiniert, der bei seinem raschen, praktischen Auffassungstalente seit gestern abend wohl wußte, was ihm bevorstand. Dies war die Einsicht der Sachlage, welche Moorfeld in wenigen Augenblicken davontrug.

Er kehrte nach Hause zurück. Er fing an, einen Brief an Frau v. Milden aufzusetzen. Aber bald fühlte er, daß seine Hand keiner geraden Linie fähig war. Noch minder waren es seine Gedanken. Er warf sich hin und ließ sich zermalmen. Ein dumpfes Feuer breitete sich aus in ihm, in welchem alles still und gestaltlos zusammenbrannte. Er wunderte sich, daß der Philadelphia-Bahnhof stand, daß Wagen rasselten, daß Glocken im Hause schallten, daß er auf den Treppen den Yankee Doodle pfeifen und mit der Baguette an Pantalons schlagen hörte. Die Welt kam ihm wie ein Bilderbogen vor; er hatte das Gefühl, als sei alles um ihn her nur gemalt. Bei dieser fürchterlichen Zerstörtheit im Innern marterte ihn die äußere Gesundheit seiner Sinne, die desungeachtet fortfuhren, ihm Vorstellungen und Bewußtsein zu vermitteln, ganz unerträglich. Ein Fieber-Delirium wäre ihm Wohltat gewesen.

In diesem Zustande traf ihn der Aufwärter, der ihm ein Billett abzugeben hatte. Es war eine Einladung vom Hause Bennet zum Tee.

Mit den gemischtesten Gefühlen empfing Moorfeld dieses Blatt. Sein erster Schritt war vor den Spiegel. Leider! er sah alles darin, was seit dem Campmeeting in Ohio bis zu dieser Stunde auf ihn eingestürmt. Und hätte er selbst sich darüber täuschen mögen: noch scholl ihm das unverfälschte Kindeswort Malvines im Ohre: Ach, Sie sehen so blaß! Dieses Wort für einen Gang zu Bennet galt ihm, was alten Staaten ihre politischen Orakel.

Was war zu tun! Sich zu entschuldigen und das Haus seiner Sehnsucht so lange zu meiden, bis die Zeit über ihre eigenen Verwüstungen ihr Grün und ihre Rosen wieder geschlungen? Aber das, was »die Zeit« heißt, diese jugendliche Huldgöttin alles Lebens, diese herrliche Kraft des Vergebens und Vergessens, – stand sie nicht mit den vollsten Fruchtkörben ihres Labsals an Bennets schönem Hausaltare selbst? Stand sie außer ihm, in trüber, selbstquälerischer Muße, im verzehrenden Hinbrüten, im bodenlosen Betrachten und Durchdenken dessen, was ohne Boden ist, weil der Gute und Gebildete Roheit und Egoismus im letzten Augenblicke so wenig begreift wie im ersten? Moorfeld wog seinen Entschluß hin und her. Er trat wiederholt vor den Spiegel. Also, ein Kranker, sollte er dieses Heiligtum betreten, ein Bedürftiger, Elender, statt ein Mitteilender, Reicher? In einer Entstellung, die jedes Kind verscheucht, sollte er sich zeigen, wo alles in ihm brannte, seine beste, glänzendste Gestalt dem Auge zu bieten?

Aber indem Moorfeld noch zu schwanken schien, durchdrang Licht und Wärme schon alle Räume seiner Phantasie. Die Szenerie des Abends fing unwiderstehlich in ihm zu leben an. Es wogte von Flammen, Bildern, Gestalten, Glanz, Fülle und Wohllaut um ihn her, Sinne und Seele waren nicht mehr sein, er dachte nichts anderes mehr, als was in Verbindung mit jenem idealischen Schauplatze stand. Noch hatte er keinen Entschluß gefaßt, aber die Stimmung selbst war sein Entschluß.

In dieser Stimmung entraffte er sich der dumpfen Leidensöde seines Zimmers und suchte die »frische Luft«. Die Luft war mehr als frisch, sie war rauh. Seit jenem zweiten Tagesritt an den Eriesee lag der Sommer, wie von einer scharfen Klinge geköpft, als plötzliche Winterleiche da. Unser Europäer hatte zu erfahren, daß Amerika den Übergang der Jahreszeiten gleich mancher anderen Schönheit entbehre.

Er warf sich in ein Segelboot und fuhr scharf dem schneidenden Nordwind entgegen. Ja, die frostige Klarheit des Hudson erregte ihm die schauerliche Begierde zu baden. Er fuhr den letzten New Yorker Bauten aus den Augen und tat es. Nach einem zweistündigen Ausflug ließ er das Boot wieder wenden, das mit dem Winde stromabwärts in einer Viertelstunde zurückflog. Den Rest des Tages brachte er unter den Händen des Friseurs, am Toilettentisch, vor dem Kleiderschrank zu. Er wollte mindestens vorbereitet sein, wenn bis zum Abend sein Entschluß reif wäre, ihn auch ausführen zu können. Wußte er nicht, daß all diese Vorbereitungen selbst nichts waren als die Frucht der entschiedensten Reife? Und so stand sein träger Stundenzeiger kaum auf sieben Uhr, als er mit Mut, Lust, Jugend, Stolz und Vertrauen sich in den Wagen warf, – mit dem Stolze, daß der geistig überlegene Mensch sich selbst Ersatz sei für einen ungünstigen Moment seiner Äußerlichkeit, mit dem Vertrauen, ja mit der Zuversicht, daß er endlich, endlich hier einen Gang machte, der ihm die erste und letzte Genugtuung in Amerika biete.

Waren das Schneeflocken, die ein barbarischer Nordost gegen sein Wagenfenster peitschte? waren es Feuersignale, die von dem Turm der City-Hall tönten und die Stadt zu schauerlichem Tumulte aufregten? Liefen die Menschen zu dem Brande, fegte sie der rasselnde Hagelsturm so herbstwild durch die Straßen? Der Kutscher hieb auf die Pferde ein, der Wagen jagte wie auf einer verzweifelten Flucht, – Moorfeld sah und hörte nur mit vorübereilenden Sinnen: es war ein unheimliches Stück Straßenleben, dem er auf dieser Fahrt zur Staffage diente.

Endlich hielt der Wagen unter den sturmzerzausten Pappeln und Platanen des Parks auf der Battery.

Die hellbeleuchtete Reihe von Bennets Fenstern warf irrende Lichter auf die Bäume, welche mit ihren triefenden Wipfeln unruhig hin und her wogten. Moorfeld dachte bei diesem Bilde an seinen Fackelritt in der Waldnacht am Eriesee.

Hastig sprang er aus dem Wagen, gegen alles Weh seiner Erinnerungen in dieses Haus wie in einen delphinischen Hain zu flüchten.

Er fand an der Auffahrt noch mehrere Equipagen vor und trat mit mehreren Gästen zugleich jetzt durch die weitgeöffnete Vorhalle. Zwei Neger in Livree standen rechts und links am Eingange, welche sich die Namen der Ankommenden ausbaten, um sie mit einer, nicht stets korrekten Aussprache ins Parlour vorauszurufen.

Als Moorfeld seinen Namen nannte, öffneten ihm die Neger nicht das Parlour, sondern einer derselben bat im Namen der Mistreß Bennet, ihm ins Drawing-Room zu folgen.

Moorfeld überließ sich ihm.

Er dachte unterwegs über die Ausbildung des republikanischen Geistes in Amerika nach. Der neue Gebrauch der Livree in der New Yorker haute Finance schmiegte sich jedenfalls als eine pikante Illustration um die Devise: all men are equal; ja, und hatte er nicht an einer der Equipagen, die vor dem Hause hielten, im Halbdunkel des Lampenscheines deutlich ein Wappen erblickt?

Indes führte ihn der Neger durch jene Reihe von Appartements, welche die Kunstsammlungen des Hauses enthielten, der den Gesellschaftssälen entgegenliegenden Seite zu nach dem Empfangzimmer der Hausfrau.

Moorfeld trat in das Gemach, welches eine Milchlampe unter blaßrotem Lichtschirm mild erleuchtete. Mistreß Bennet verweilte ganz allein in demselben. Sie erhob sich bei Moorfelds Anmeldung aus einem Schaukelstuhl und trat ihm mit einer Blume in der Hand nicht ohne Bewegung, wie es schien, entgegen.

Ich habe Sie bemüht, Herr Doktor, sagte sie, indem sie ihm die Blume überreichte, um Sie mit einer Veränderung in unserem Familienleben au fait zu setzen, von welcher es Mr. Bennet lieb sein wird, wenn er sie, im vis-à-vis mit Ihnen, schon als eine Voraussetzung behandeln kann. Sie hatten die Aufopferung, in einem etwas – charakteristischen Augenblicke den Dehors unserer Partien einen großen Dienst zu leisten, indem Sie mit dem Versprechen, die ästhetischen Studien meiner jüngsten Tochter zu leiten, einem peinlichen Eklat die Spitze brachen. Mr. Bennet hätte vielleicht unseren Vorteil so sehr geliebt, das Impromptü jenes Augenblicks wörtlich zu nehmen; ja, Sie selbst hätten vielleicht die Güte gehabt, demselben eine gewisse Verbindlichkeit beizulegen. Ich darf Sie in diesem Falle, Herr Doktor, indem ich Sie unseres herzlichsten Dankes versichere, von dieser Verbindlichkeit frei sprechen. Miß Cöleste hat inzwischen aufgehört, der väterlichen Gewalt zu unterstehen. Sie ist Braut mit Sir Edmund Ormond, Esquire.

Moorfeld unterdrückte einen lauten Aufschrei.

Aber auch Mrs. Bennet schien ihrer Mitteilung nicht froh geworden zu sein. Mit einem leichten »darf ich bitten« machte sie Miene, den Arm ihres Gastes zu nehmen, mehr gepreßt, von diesem Gegenstande weg-, als beeilt, in die Gesellschaft hinzukommen.

Moorfeld stand reglos. Er war keiner Besinnung fähig. Er bedurfte einer furchtbaren Kraftanstrengung, bis er die Unmöglichkeit, überhaupt zu sprechen, besiegt hatte. Nach einer Pause antwortete er: Madame, erlauben Sie mir, zu bleiben. Ihr Haus ist heute, wie ich ahnen muß, nicht in den großen Gesellschaftssälen, es ist hier in diesem stillen Räume. Und für mich, der ich ein Fremder bin, wird es bald weder dort noch hier mehr sein. Was ich gehört habe, gilt in der Regel für ein frohes Ereignis; wie ich's gehört habe, scheint es eine Ausnahme von der Regel. Dieser Zweifel martert mich. Ich nehme den innigsten Anteil an Ihrem Hause. O, geben Sie mir die Genugtuung, Madame, ehe wir uns in jene Säle verlieren, wo Glück und Unglück die gleichen Züge tragen, geben Sie mir die Genugtuung, daß Sie mir ein glückliches – ein Ereignis, das Sie glücklich macht, mitgeteilt haben!

Verzeihung, mein Herr, ich kann unmöglich geben, was ich selbst entbehre.

Jetzt ergriff Moorfeld den zarten Arm der Dame, aber er führte sie an ihren Schaukelstuhl zurück. Sie haben mir viel zu sagen, Madame, stammelte er; Sie sollen es sagen! Ein Menschenherz für ein Mutterherz!

Diese Art poetischer Diktatur mußte etwas haben, das gefiel; auch war Mistreß Bennet Pariserin genug, den Umgangsformen eine gemütvollere Freiheit zu bewilligen, als es eine Amerikanerin getan hätte. Sie nahm ihren Platz ein und bat Moorfeld mit einer Handbewegung, das gleiche zu tun.

Ich bin schwach genug, Ihre Teilnahme anzunehmen, sagte die edle Frau mit einem Ausdruck des müdesten Schmerzes. Aber nicht wahr, die Unglücklichen dürfen miteinander zwangloser umgehen! Und ach, wir sind unglücklich, mein Herr, wir sind es, wie wenige Familien dieser Stadt! Es wird mir von Jahr zu Jahr schwerer, den Trost des Mitleids zu entbehren, den teilnehmende Freunde uns entgegenbringen. Mr. Bennet mag mir's verzeihen! Wir lassen uns ja willig zertreten, wird es uns doch erlaubt sein, uns zu krümmen!

Moorfeld war wie vom Blitze gerührt. Mr. Bennet –? das Wort erstarb ihm auf den Lippen.

Ja, Mr. Bennet! Mr. Bennet! wiederholte die Hausfrau mit Affekt. Es wird dem Mann, dessen glorreicher Ehrgeiz es ist, zu den Medicäern seiner Nation zu zählen, es wird ihm in Ihrer Meinung nicht schaden, wenn Sie ihn in seinem Hause, der Schattenseite so vieler ausgezeichneter Männer, kennen lernen. Ich kann nicht anders! Es ist mir Trost, es ist mir Lebensbedürfnis, den Schmerzenslaut meiner Schmerzen hören zu lassen. Ich reiße in diesem Augenblick mit Verzweiflung mein Kind von meinem Herzen und muß mir Glück wünschen lassen zu meiner Verzweiflung! Ha, ich sollte nicht ein, nicht ein Herz den Vertrauten meiner Muttergefühle nennen dürfen? O, mein Herr, der Himmel hat Sie mir in dieser Stunde geschenkt! Helfen Sie mir weinen um das liebenswürdige Kind! Sechzehn unerfahrene, unschuldige Jahre und – un mariage de déspération! Die Unglückliche! Das Genie des geistreichsten Vaters treibt sie in die Arme eines – imbecile! Muß ich meine Cöleste opfern für den Beweis, wie alle Gegensätze sich ihren eigenen Fluch erzeugen? Leider, ich muß es!

Ich werde Ihnen nichts Neues zu sagen haben, fuhr Mistreß Bennet ruhiger fort. Sie kennen den Enthusiasmus meines Mannes für die schönen Künste. Er möchte seinem Vaterlande ein Augustus, ein Perikles werden. Ich glaube es aufrichtig, daß er es könnte. Ja, ich glaube an ihn. Hätte er die Kräfte einer Nation zur Verfügung, er arbeitete mit dem Werkzeug, das er bedarf. Er wäre glücklich und der Kunstadel der ganzen Erde mit ihm. Leider sind wir kein Reich, wir sind nur ein Haus. Das ist unser Unglück. In weiten Entfernungen würde er erwärmen und beleben, im engen Familienraume verzehrt und tötet er. Er ist ein Jupiter und wir sind – die Asche der Semele!

Moorfeld stöhnte unter Bergeslasten.

Ja, die Künste haben keine Freistätte hier, eine Werkstätte sollen sie haben. Ein Bennet will erschaffen, was er genießt. Und so war es meinen Kindern schon in der Wiege diktiert: du malest, du dichtest, du modellierst, du musizierst! Die Natur hatte nur das Recht, die Steuern zu bewilligen, die ihr Bennet auferlegte, sie durfte Ja sagen, aber nicht Nein.

Und wahrlich, sie sagte nicht nein! Die Kinder dieses Vaters hatten wirkliche, angeborene Talente. Aber gibt es Mittel, das Talent sich selbst verhaßt zu machen, so gebrauchte sie Bennet. Die Art, wie er die Talente weckte, – was sag' ich, »wecken«? So weckt nicht das Morgenlied der Lerche, spielende Batterien wecken so. Er donnerte die armen Kleinen schon aus ihrem zartesten Kindheitsschlafe empor. Auf zur Arbeit! war das erste Wort seiner Vaterlippe. Daß sie in drei Sprachen zugleich erzogen werden, rechne ich noch für nichts, die Natur leistet wirklich Außerordentliches hierin. Daß sie den Freuden ihrer Spiele, den geringsten Erholungen und Genüssen ihres Alters entsagen mußten, daß ihre Kinderstube ein Gedränge von Lehrern und Büchern erfüllte, zwischen welchem das flüchtigste Lächeln einer Mußestunde erdrückt wurde, daß ihnen die frische Luft, die Nahrung, die Ruhe des nächtlichen Lagers entzogen wurde, »weil die Götter den Sterblichen nur alles für Arbeit verkaufen«, – das ist schon etwas, mein Herr! cela commence à compter! Aber was soll ich sagen, was soll ich als Frau sagen, wenn diese dämonische Begeisterung selbst das Opfer der Schicklichkeit, des Anstandes, des weiblichen Schamgefühls nicht für zu groß hält, um es ohne weiteres zu fordern? Jenny, meine Älteste, modelliert. Die Diana im Trumeau unsers Parlours ist von ihr. Aber nicht Dilettantin soll sie bleiben, sie soll wetteifern mit Künstlern, welchen das Studium der Antike, welchen der Anblick der unmittelbaren Natur zu Gebote steht. Und wir leben in Puritaner-Staaten, mein Herr! O, lassen Sie mich schweigen! Von welchen Stürmen, von welchem Tränenmeere rede ich da! Papa, sie werden mit Steinen nach mir werfen! jammerte das verzweifelnde Mädchen. Laß sie werfen, mein Kind, aber die letzten Steine werden Edelsteine sein! antwortete der Papa.

Ja, das ist ein griechischer Gott, in einen Yankee gefahren! rief Mrs. Bennet mit Bitterkeit und Bewunderung zugleich. Jede Ader voll Poesie – aber diese Gewalttätigkeit gegen das Leben, diese Nichtachtung der Natur, dieser grausame, unerbittliche Vertilgungstrieb gegen alles, was frei wachsen, was sein eigener Zweck auf seiner eigenen Bodenspanne sein will, – das ist Kulturtrieb in amerikanischem Stil! Absolute Unfähigkeit zu schonen und zu lieben – neunziggradiger Egoismus! Und doch – dieses Ich, welch ein schönes, herrliches ist es! Er macht unglücklich, nur weil er die Welt für unglücklich hält, die nicht seines Sinnes ist. Auch war ich weit entfernt und war es lange, mich selbst und meine Kinder für berechtigt zu halten neben ihm. Es ist was Überzeugendes, Hinreißendes in seinem Temperament, etwas Faszinierendes, das in Tat und Willen den Widerstand irre macht. Man fühlt sich beschämt von solcher Größe, man glaubt immer von neuem, daß sie möglich ist. Erst als ich die bleichen Wangen, die erloschenen Augen, die schleichenden Pulse, die kränkelnde Zartheit und Durchsichtigkeit von den jugendlichen Gestalten meiner armen Kleinen mit keinem Vorwand hinwegleugnen, mit keiner Geduld zu Ende warten konnte, fing ich an, die Erstlingseinwürfe meiner Mutterangst zu stammeln. Ah, Bennet belehrte mich eines Besseren! »Das ist die Flamme des Genies, welche die Materie aufzehrt; man muß ihr Luft schaffen!« und nun kamen Bücher zu den Büchern, und Lehrer zu den Lehrern, und Aufgaben zu den Arbeiten, und Luft wurde geschafft, daß uns der Atem stockte!

Das ist unser Familienleben, mein Herr. In Unterwerfung zugrunde zu gehen oder uns zu retten – durch Rebellion, diese traurige Wahl bleibt uns allein. Die Kinder nähern sich dem einen oder dem andern, je nach der Verschiedenheit ihrer Inklinationen. Mein Sohn Edgar empörte sich zuerst. Als ein Knabe von elf Jahren lief er in die Kriegsschule nach West-Point, und keine Macht der Welt wäre imstande gewesen, ihn zurückzuführen. Dort studiert er nun, – mein mütterliches Auge entbehrt seinen Anblick. Erst seit kurzem sehen wir uns öfter; lange hießen meine Besuche Konspiration! Der Meißel, der ihm bestimmt war, ging auf Jenny, meine zweite Tochter über. Die duldet, soweit sich dulden läßt. Charakterfester wieder ist mein viertes Kind, Cöleste. Ihre Spezialität ist die Poesie. Die Entscheidung dafür datiert von einem Zufalle. Wir erwarteten den Papa von seiner zweiten europäischen Reise zurück, es war im Jahre zweiundzwanzig. Cölestine stand im siebenten Jahre. Ma, sagte sie, ich will den Pa mit einem Gedichte empfangen. In der Tat schrieb das Kind in diesem Alter ein paar französische Strophen, an denen ich wenig oder nichts zu korrigieren fand. Bennet aber kam direkt von Genua, von der poetischen Hofhaltung Lord Byrons. In welchem Zustand seiner Imagination, mögen Sie selbst denken. So trat ihm nun ein kleines, stammelndes Kind an der Schwelle seines Hauses entgegen, mit einem Orangeblütenzweig in der Hand, mit dem Wohllaut selbstgedichteter Verse auf den Lippen – verhängnisvoller Eindruck! Wer dieses Kind nicht für den ersten Genius seiner Zeit hielt, der verlor seinen Anspruch auf Bildung. Bennet war außer sich. Auf, auf, Bücher! Lehrer! Studierlampen! welche Vaterpflichten sind hier zu erfüllen! Schlaf, Spiel, Erholung, – gemeine Einreden! Der versteht den Genius schlecht, der nicht weiß, daß er an sich selbst sich erholt. Es gibt nur eine Erholung von der Arbeit, – die Arbeit!

Nun ist aber Cöleste eigen geartet. Die ganze Wucht der väterlichen Erziehungstyrannei drückte auf sie überwiegend, und doch war sie es zugleich, die am wenigsten klagte. Sie hatte Ehrgeiz. Was immer ihr auferlegt wurde, sie verrichtete es nicht nur, sie tat noch drüber. Sie rivalisierte gleichsam mit ihrem Vater. Die Tränen traten mir oft ins Auge, das Mädchen zu sehen. Statt mit dem Rot der Gesundheit, mit der feinen geistigen Glut des Wetteifers auf den Wangen saß sie da, überbot ihre Aufgabe, überbot sich selbst und brannte vor Begierde zu überraschen. Nicht der Vater, der Gentleman nur allein, hätte seinen Degen senken müssen vor der Galanterie seines Kindes. Leider! Bennet war nicht zu überraschen. Seine Ansprüche wuchsen mit der Befriedigung, und das arme Kind erarbeitete sich nur Mißhandlungen. Da wandte sich ihr Herz. Mit dem Stolze des beleidigten Adels trat sie in sich zurück. Ihre Stimmung wurde eine gereizte, feindselige. Sie ließ alle Forderungen über sich ergehen und schärfte sich trotzig die Lippen dazu. Sie machte nicht den Eindruck einer leidenden Natur, sondern einer, die ihren Tag abwartet. Bennet verstand sie nicht. Er hielt den Himmel für ruhig und glaubte, er sei der Donnerer darauf, nicht sie, der kleine reservierte Trotzkopf.

In dieser Verfassung waren die Gemüter, als der Tag von Saratoga anbrach. Ich hoffte von der veränderten Hausordnung, von dem heiteren Naturgenuß, von dem ganzen Schwung dieser Ferien einen heilsamen, mildernden Einfluß. Das Gegenteil kam. Wir waren direkt in die Löwenhöhle getreten. Die Saison von Saratoga war eine der glänzendsten: man sah, daß die Pairskammer Karls X. und die Fürsten der polnischen Nation Nomaden geworden. Bennet begrüßte von seinen drei europäischen Reisen her viele alte Bekanntschaften und machte noch mehr neue. Die Albumsblätter wanderten im lebhaftesten Austausch hin und wieder. Kein Tag verging, daß nicht mehrere Unsterblichkeiten zu stiften waren. Denn so faßte es Bennet auf. Welch eine Gelegenheit! Europas Pforten waren dem Dichterruhm seiner Tochter geöffnet. Die haute volée aller Länder gab sich zur Kolportage ihrer Verse her. Wen diese Gelegenheit nicht begeisterte, das war ein Kretin, kein Mensch! Bennets Forderungen kannten keine Grenzen mehr! Er hatte alles Bewußtsein verloren, was menschlich zu leisten. Sechsmal zerriß er Cölesten ein Albumsblatt für einen griechischen Palikarenhäuptling. Welche bassesse in Form und Gedanken! Das muß anders tönen, meine Gute! Dieses Volk ist an die Solitäre eines Byron gewöhnt, und Apoll selbst nennt es seinen Landsmann. Er vergaß sich so weit, daß er sie einsperrte und ihr die Nahrung entzog, bis sie so klassisch geworden, wie es ihm vorschwebte. »Singvögel und Jagdhunde muß man kurz halten!« Sie sehen, es eilte zum Ende.

Und just an diesem Tage kam der Pudel Omar mit seinem Verehrer, Lord Ormond, an. Der edle Herr war inzwischen zwar nicht wirklich Lord geworden, aber er hatte einen Seitenverwandten aus der Gentry beerbt und konnte wieder standesgemäß in England auftreten. Er verabschiedete sich von uns. Bei dieser Gelegenheit beobachtete er es als eine Form der Höflichkeit, meiner Tochter die Hand zu bieten. Racheglühend, ich muß das Wort betonen, mein Herr, racheglühend nahm Cöleste an. Augenblicklich setzte sie sich hin und schrieb – an Mr. Bennet ihre Verlobungskarte! Es ist dieser Gebrauch kein seltener zwischen Kindern und Eltern in Amerika – leider! kam er jetzt auch in meiner Familie vor! Hohnlachend stürzte der Vater vor seine Tochter. Gut gemacht, Lady, gut gemacht! Und das soll Bennets Blut sein! – Es ist's, Sir! Eine Bennet ist lieber die Herrin eines Narren, als die Sklavin eines Genies! Bennet erblaßte. Es ahnte ihm zum ersten Male, daß sein Kind ein Charakter. – So, mein Herr, ist Miß Cöleste Braut geworden.

In diesem Augenblicke fiel ein Schuß auf der Straße.

Werther! rief Moorfeld emporfahrend.

Es ist seit gestern und heute ein wenig unruhig in der Stadt, ein Riot scheint im Anzuge, sagte Mrs. Bennet mit tiefer Gleichgültigkeit.

Moorfeld kam zu sich. Glücklicherweise – wußte er – klingt Werther zumeist Worther im Englischen; das gräßliche Streiflicht über sein Inneres konnte unzündend abgeblitzt sein.

Er kehrte an seinen Platz zurück.

Die gebeugte Frau war mit ihrer Mitteilung zu Ende. Mühsam nahm Moorfeld das Wort: Ich muß mich mäßigen, Madame, mein Mitgefühl Ihnen auszusprechen. Sie haben mir gezeigt, was an dem Fluche unserer Poesie der Anteil der Frauen ist; könnte es Ihnen zum Troste gereichen, so würde ich Sie auffordern zu einem Rückschluß auf uns selbst. Sie würden Schuld und Strafe, dünkt mir, in einer schauerlichen Harmonie finden. Doch nichts davon! Tragen Sie den Widerschein eines Unglücks als ein ganzes und volles Unglück, ich will nichts verkürzen daran. Nur noch meinen Dank für Ihre Schonung. Daß ich in diese Verhältnisse als ein verkörperter Nero über Ihre Schwelle trat, daß die Aussicht auf einen Winterkursus mit dem Kritiker von »Schäfers Botschaft« das Maß füllen mußte schon vor Saratoga – Sie haben es mir, verehrteste Frau –

Verzeihung, Herr Doktor, unterbrach Mistreß Bennet. Ihr Auge ruhte mit jener Anerkennung auf Moorfelds Gestalt, wie nur die Französin, im Besitze souveräner und berechtigter Geschmacksherrschaft, blicken darf. Allerdings konnte Ihre Erscheinung nicht ungezählt bleiben in unserm Hause. Aber gefürchtet wurde sie nicht. Das Gegenteil ist wahr. Cöleste, die sich zuweilen in Paradoxien gefällt, sagte gradezu: Ich vertraue diesem Europäer, er wird Poet genug sein, gegen die Poesie mich zu schützen.

Moorfeld schrak zusammen. Er überblickte den ganzen Wert dieses Mädchens. Wo hatte sie den höchsten Begriff der Poesie gefunden: Eigentümlichkeiten zu verehren, nicht umzubilden, wenn nicht in ihrer eigenen herrlichen Seele?

Und doch!

Und doch, fuhr Mrs. Bennet fort, für uns gibt es keine Hoffnung! Auf meinen Mann ist nichts anders zu wirken, als mit ihm. Keine Opposition ist einflußloser als gegen Mr. Bennet. Wir werden einen Freund gewinnen, sagten Doktor Channing und Doktor Griswold, das heißt: wir werden einen Mann mehr haben auf unserm Rückzuge. Leider ist es so. Wir haben unsern Freunden nur eine verlorne Sache zu bieten. Neue Opfer den alten hinzuzufügen, wäre nach unsern Erfahrungen grausam gewesen. Wir können uns nicht helfen, – mindestens nicht anders, ach! als es Cöleste getan.

Während Mrs. Bennet noch sprach, öffnete sich leise die Tür des Drawingrooms. Cöleste selbst war es. Als sie Besuch sah, trat sie sogleich wieder zurück, aber schon hatte ihr halb sichtbares Bild zwischen Tür und Angel Moorfelds Auge gestreift. Moorfeld sprang auf und ging dem Mädchen entgegen. Er nahm sie bei der Hand mit den Worten: Wir sprachen von Ihnen, teuerste Miß; schenken Sie uns einen Augenblick Ihre Nähe. Ich habe Ihnen meinen Glückwunsch zu Füßen zu legen. Sie werden, wie ich höre, in die große Welt eintreten. Auf diesem Wege werden Sie einen großen Schatz finden – das Bewußtsein, was für ein unermeßlicher Besitz es ist, sich selbst zu haben! Sie werden inne werden, daß die Welt, in welcher jeder sein eigener Mittelpunkt zu sein glaubt, nichts so naturgemäß sucht, als sich um den Hof einer edlen und schönen Selbständigkeit zu gruppieren. Dieses Glück zu finden, erwartet Sie unter allen Umständen, und dazu bringe ich Ihnen meine aufrichtigen Wünsche.

Ein tiefes, kraftgebändigtes Beben klang durch Moorfelds Stimme, als er diese Worte sprach. Cöleste selbst vermochte nicht anders zu antworten als mit stummer Gebärde.

Indem sie jetzt tiefer ins Licht vortrat, rief Mrs. Bennet bei ihrem Anblick: Aber welche Toilette, mein Kind? Das junge Mädchen trug ein schwarzes Atlaskleid mit einem Schmucke von Coque-Perlen. Es kontrastierte mit einer magischen Wirkung zu der stillen, marmornen Blässe ihres Antlitzes. War es eine Kaprice, so war es auch – eine Wahl.

Cöleste hatte inzwischen die Fassung errungen, Moorfeld anzureden. Sie sprach ohne aufzublicken: Meine Mutter wird Ihnen gesagt haben, Herr Doktor, wie sehr es mich gefreut hätte, diesen Winter einen Teil meines Bildungsweges mit Ihnen zurückzulegen. Meine – plötzliche Reise nach Europa bringt mich um diesen Gewinn. Darf ich Sie jetzt bitten, mir ein Zeichen mitzugeben, das ich als Denkmal – selbst einer vereitelten Hoffnung noch wert halten werde? Darf ich mir erlauben, Herr Doktor, Ihnen mein Gedenkbuch vorzulegen?

Indem Moorfeld den Klang dieser Stimme wieder hörte, schauerte sein ganzes Inneres zusammen. Mit Mühe stotterte er eine übliche Formel der Bejahung. Cöleste holte das Buch. Moorfeld rückte an den Tisch und versuchte zu schreiben. Aber seine Hand zitterte heftig. Er setzte wiederholt an, – es gelang nicht.

Ich bitte, mit dem Blatte nach Zeit und Muße zu verfügen – sagte Cöleste – wir reisen wahrscheinlich erst in vierzehn Tagen.

Verzeihung, Miß, ich schon morgen, war Moorfels Antwort.

Cöleste blickte erschrocken-fragend auf.

Moorfeld war nicht imstande, ihren Blick zu ertragen. Er stand auf und machte einige Schritte durchs Zimmer. Der Moment wäre nicht zu bewältigen gewesen – da fiel Moorfelds Blick auf eine Violine im untersten Fach des Glasschrankes. Es mochte jene monumentale Violine sein, welche Mr. Bennet zum Andenken an den ersten amerikanischen Walzer aufbewahrte. Wie der Blitz auf seinen Ableiter, so stürzte Moorfeld auf das Instrument. Er tat ein paar Probegriffe, dann fing er zu phantasieren an. Die Geige hatte einen weiten großartigen Ton; der Spieler empfand sogleich ihren ganzen Geist. Er begann einen breiten heroischen Satz, schwebend, wie ausgebreitete Adlerflügel, hoch in der Höhe. Er zog Töne von hinreißender Beredsamkeit, es war Schmerz darin, aber der Schmerz eines Demosthenes um die schönste Weltrepublik. Nicht lange deklamierte er so. Dieser erste, volle Trunk der musikalischen Seele getan, schöpfte sie gieriger, wilder. Bald hackten sich kurze, scharfschnäblige Triolen in die breite Prometheus-Brust des Eingangssatzes ein, und die ehrbar-schöne Weltordnung der Antike zerfetzte romantisches Galgen- und Zwielichts-Gevögel. Auf einmal war der Jammer entschieden; in einem humoristisch-verzweifelten Tremolo sprang's wie ein Pudel, – ein wohlbekannter Pudel! – in die vier Saiten und apportierte dem olympischen Griechenland bulgarisches Zigeunergesindel. Schneller jagt Aprilschnee sich mit Aprilsonne nicht, als Glucks Stil in eine Fantasie nach dem Rákóczy-Marsch umsprang. Als Cöleste diese Rhythmen hörte, bedeckte sie ihr Antlitz mit beiden Händen und sank knieend in den Schoß ihrer Mutter. Der spornklirrende Kriegsgesang jagte über sie hin, unaufhaltsam. Zaum- und zügellos flog's haidewild dahin: Schlachtluft, Abschiedsweinen. Ein Narbengesicht in Tränen! In diesen Klängen atmete Moorfeld Heimatsluft. Schenkenlustige Tänze wirbelten, türkische Krummsäbel und ungarische Pallasche klirrten, man sah das Schlachtfeld der Völker, das Schlachtfeld der Herzen, denn immer und immer weinte es in jenen herzzerreißenden Molltönen dazwischen, und am Horizont des Kriegsgetümmels stand verlassene Liebe! So trieb's Moorfeld, bis der letzte Tropfen Herzblut herausgeschüttet war, dann warf er die Geige wild hin und rief nach der Türe stürzend: »Auch das ist ein Andenken!«

Nein, so dürfen Sie nicht von uns! rief Cöleste aufspringend, außer sich. Sie hielt Moorfeld zurück. Der weibliche Genius des Beruhigens flehte um einen Sonnenblick in seinem Auge. Dringend faßte sie Moorfelds Arm – so dürfen Sie nicht von uns! das darf Ihr letztes Wort nicht sein!

Es ist's nicht! antwortete Moorfeld, – ich werde den Frauenherzen noch manches Souvenir schreiben! Verfolgen Sie den Dichternamen Nikolaus –

Seine Stimme brach, – ein Blick, – ein Händedruck – er stürmte hinweg.


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