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Siebentes Kapitel

Benthal wendete sich dem Sprecher dieser Worte zu und erkannte denselben schneller, als es zuvor umgekehrt der Fall gewesen. Freudig erstaunt lüftete er den Hut, womit er sich eben bedeckt hatte, und erwiderte Worte wie diese oder ähnliche: Herr Doktor, die Ehre, Sie wiederzusehen, ist mir eine unschätzbare. Moorfeld antwortete lebhaft: Nicht so, mein Bester! Lassen wir diese Sprache, wenn's beliebt. Die Höflichkeit kommt mir vor wie die Mönchsschrift auf alten Pergamenten: sie erbaut, solang nichts Bessers da ist, aber man beseitigt sie, wenn ein guter Dichter unter ihr entdeckt wird. – Ich wette, Sie sind selbst Dichter, erwiderte Benthal auf dieses Bild. Moorfeld lächelte schalkhaft: Um Verzeihung! keine Wette ohne Gegenwette; aber eine solche wünschte ich nicht.

Die beiden jungen Männer nahmen sich unter den Arm. Benthal behielt seinen Hut in der Hand, trocknete sich die Stirn und lüftete der geringen Nachtkühle ein paar Knöpfchen. Moorfeld sagte: Klopstock meint, die Unsterblichkeit ist des Schweißes der Edlen wert, ich möchte gerechter sein und es umkehren: der Schweiß der Edlen ist der Unsterblichkeit wert. Aber leider, daß der edelste Schweiß just am wenigsten auf die Nachwelt kommt! Darum bewundere ich immer von neuem Männer wie Sie, welche die entsagende Größe haben, das Beste an das Vergänglichste zu setzen.

In das Vergänglichste! wiederholte Benthal; – freilich! aber wer weiß denn, was vergänglich ist? Bis dieses Wissen kommt, handelt man im Glauben an dauernde Erfolge. Das kann unter Umständen sehr lange währen. Der Glaube ist dann das eigentlich Unsterbliche an der Sache.

Recht so! recht so! rief Moorfeld mit Wärme, der Glaube! der ist überhaupt alles! Er ist die größte Heldentat des Menschen. Ich werde nicht müde, das zu behaupten. Der Glaube ist der Vater der Menschheit; die Skepsis ist eine alte unfruchtbare Jungfer.

Benthal warf einen besorgten Blick auf seinen Begleiter. Moorfeld bemerkte es und fuhr lachend fort: Seien Sie ganz ruhig, Bester. Ich bin weder Jesuit noch Kapuziner, noch Konsistorialrat. Von jenem Glauben ist ja hier nicht die Rede. Oder vielmehr von ihm nicht allein. Glaube ist Selbstgefühl. Ich frage keinen Tischler, was er glaubt: er glaubt an seinen Hobel. Ach, Europa wimmelt von Tischlern, die nicht mehr an ihren Hobel glauben! Darum ergriff ich Ihre Hand, weil ich Sie so imposant glauben sah.

Benthal antwortete: Ach wohl! ich glaube wie jener Jude, der in Rom Christ wurde, der schlechten Christen wegen. So glaube ich hier an unser Volkstum. Wenn ich dem zerfahrenen Leben der Deutschen zusehe und wie eifrig sie sich ihren eigenen Untergang angelegen sein lassen, so möchte ich mir oft mit Glüheisen meine deutsche Haut vom Leibe brennen. Es ist ein Schauspiel zum Rasendwerden. Wenn ich aber erstaune, daß ihnen ihre Selbstzerstörung doch nicht gelingt, daß sie immer wieder lebendig vom Boden aufstehen, auf dem sie tot hingesunken; wenn ich die hiesigen Nativisten betrachte, wie sie im Besitze des mächtigsten Staatslebens der Erde Bollwerk um Bollwerk auftürmen gegen diese armen verlorenen Söhne; wie sie in ihrer Presse die raffiniertesten Gifte destillieren, um uns zum Teufel zu befördern; wie sie mit offenen Judenverfolgungen in unsre Quartiere einfallen; wie unsre Fehler ihnen winzig dünken müssen, weil sie nur Herschel-Teleskope in Gebrauch nehmen, wenn davon die Rede ist; kurz, wie die eitelste Nation der Welt ihr Frösteln und Beben nicht los wird vor einem Menschenhaufen, der noch gar keine Nation ist; wenn ich mitten unter diesen Wahrnehmungen täglich aufstehe und mich niederlege: so härtet sich mir, wie im zehnfachen Feuer, die Überzeugung: es gibt nur einen Gott, und die Deutschen sind sein auserwähltes Volk! Für diesen Glauben könnte ich dann ebensogut spießen und braten lassen, wie Torquemada für den seinigen.

Moorfeld sagte: Und Ihre Ketzer, glaube ich, wären noch etwas straffälliger. Ich hörte hier von schändlichen Proben des Humbugs. Kaum glaubt' ich sie, wenn ich persönlich nicht auch schon Erfahrungen über diese Galeerenmoral hätte.

Eigentlich betrügt der reine Amerikaner nicht um der Beute willen, antwortete Benthal; kein Volk ist weniger habsüchtig und leichter geneigt, das erworbene Privatvermögen zu wohltätigen und nützlichen Zwecken der Öffentlichkeit wieder zurückzugeben. Seine Listen und Tücken sind's, die den Yankee nicht ruhen lassen, auch wenn er wollte. Er kann nicht leben ohne das Gefühl der Überlegenheit über andere. Diesen Kitzel befriedigt er im Guten wie im Schlimmen. Seine Beute ist nicht sowohl ein Raub, als vielmehr ein Preis; denn stillschweigend besteht im ganzen Volke eine beständige Wette, wer es dem andern an Kniffen zuvortut. Tropf, paß auf! ist die allgemeine Losung. Sie betrügen nicht, sie gewinnen nur die Preise ihrer ewigen Nationalwette. Sie sind mehr Schelme als Schufte. Freilich hat auch der gemeine, echte Betrug um so leichteres Spiel unter diesem Schutze der öffentlichen Meinung. Und wieder ist der böseste Betrug der Verzeihung gewiß, wenn er gegen den Deutschen geübt wird. Den Deutschen herunterzubringen, ist gleichsam Nationalsache. Viel verzeihen sich die Amerikaner einander, was nirgends sonst durchginge; aber – leider darf ich es sagen! alles verzeihen sie sich dem Deutschen gegenüber. Es ist ein Deutscher! hat ihnen ungefähr die Bedeutung wie den alten Spaniern: es ist ein Moriske! Hier fehlt jede Grenze. Vor kurzem wurde in New York ein deutscher Familienvater erschlagen. Ein Amerikaner tat's, mit dem der Deutsche Wortwechsel hatte; aber die brutalen Seevölker wechseln überhaupt nicht Worte wie der denkende Deutsche: sie antworten mit Hieb und Stich. Der Mörder wird vor Gericht gezogen. Zufällig steht sein Name in der Klageschrift nicht ganz korrekt, der Beklagte sieht es und wendet dem Gerichtshof mürrisch den Rücken. Warum man ihn seine Zeit versäumen lasse, fragt er den Anwalt, hier sei eine Person mit einem Doppel-m zitiert, was gehe das ihn an? er schreibe sich mit einem einfachen. Vor dem englischen Gesetzbuche war das ein vollgültiges Argument. Der Beklagte wird freigesprochen. Eine neue Anklageschrift mit korrektem Namen ist nicht mehr zulässig, denn niemand kann desselben Vergehens wegen zweimal belangt werden. So geht der Mörder ungekränkt seinen Geschäften nach, alle Welt kennt ihn als solchen – aber was schadet das? Er hat ja nur einen Deutschen umgebracht! und in seinem Schul- und Kirchenvorstand bleibt er das respektable Mitglied, als hätte er ein Schwein von Cincinnati geschlachtet.

Entsetzlich! rief Moorfeld; Sie haben diese Geschichte im besten Henkerstil erzählt: kurz und kalt, wie ein Fallbeil. Ich träume heute davon, vorausgesetzt, daß sie mich schlafen läßt. Und nach einer Pause fuhr er fort: Sagen Sie, zu welcher Schönheit blickt man hier auf, wenn die Erde ihre wüstesten Fratzengesichter schneidet?

O weh, rief Benthal, Schönheit und Amerika! Aber Sie antworten sich selbst. Blicken Sie immerhin auf, droben wohnt überall die Schönheit, drunten nie. Der Schwindelnde macht's ja nicht anders: aufwärts sieht er, nicht abwärts, um sich zu halten. Darum haben sie auch die Sterne zu ihrem Banner gemacht. Sie errieten's instinktmäßig, ihre Erde hat weniger Schönheit, ihr Sternenhimmel wird dringender gesucht als irgend sonstwo. Ja, fassen wir's fest ins Auge: nicht was dieses Volk ist, sondern was es bedeutet! Es bedeutet Höheres als Griechen und Römer, es bedeutet die Weltfreiheit! Von einem andern Sterne gesehen ist nicht Rom, nicht Athen der lichteste Punkt unseres Planeten – Washington ist's. Amerikas Schönheit ist Amerikas Idee!

Das sagt' ich mir auch, als ich herfuhr, antwortete Moorfeld, aber ich komme hinter den Fehler meiner Definition. Die Schönheit ist nicht eine Idee, sie ist eine sinnliche Form. Die Idee wird nur vom abstrakten Geiste erfaßt; das ist eine Mühe, kein Genuß. Wie existiert hier das Herz?

Das Herz existiert nicht in Amerika, war Benthals Antwort.

Das ist ja nicht möglich! Wovon leben denn die Weiber?

Vom Putz und von der Bibel.

Leider, Sie scheinen recht zu haben. Aber Sie – wovon leben Sie selbst.

Von meiner Pauline.

Gott segne sie! Es muß ein herrliches Mädchen sein, das Sie bei soviel Heldenkraft erhält. Ich bitte, erzählen Sie mir von ihr.

Es war einmal ein schönes Mädchen. Ich habe erzählt.

Klassischer Lazedämonier! Kleindeutschland hat Ihnen diesen Stil angewöhnt? Ein wahrer Pallisadenstil. Schroff, starr, Männer dahinter! Indes der Frühling fragt nichts nach Pallisaden. Brauchen Sie zur Freundin einen Freund? Sie haben sich ihn heute erworben. Dann aber – Herz um Herz! Gilt's?

Benthal antwortete: Es hat gegolten, in jenem ersten Augenblicke schon, als Sie in Mr. Mockingbirds Schule eintraten. Ihre ganze Erscheinung war mir ein Freimaurerzeichen, das ich zu beantworten dürstete. Ich bin stolz darauf, daß Sie das, was ich in Kleindeutschland zu wirken versuche, für meine Antwort halten wollen. Aber von Paulinen wollten Sie hören. Sie ist, wie Sie leicht schließen werden, keine Amerikanerin, sie ist eine Deutsche. Auf dem Auswandererschiffe wurde ich bekannt mit ihr. Und da es mir schwer werden dürfte, von einer so verschlossenen, nur in Taten sich äußernden Natur Ihnen ein Bild zu entwerfen, so will ich lieber das Geschichtchen dieser Bekanntschaft selbst erzählen.

Sie finden den dankbarsten Zuhörer, antwortete Moorfeld.

Benthal fuhr fort:

Meine Geschichte spielt auf dem Verdecke des Kauffahrers, der mich von Havre nach New York bringt. Da zähle ich die Schritte auf und nieder, und sehe in das viele Wasser hinaus. Möven, Delphine, fliegende Fische und das übrige Etcetera der See ist die einfache Ausstattung der Szene. Bei heiterem Wetter kriechen aus Kajüte und Zwischendeck nacheinander all die wohlbekannten Gesichter hervor, die man täglich mit stiller Freundlichkeit, mit resignierter Geduld grüßt, indem sich jeder inwendig denkt: Ich wollte, ich sähe einmal was anderes. Unter den Passagieren der Kajüte wandelt dann mit ihrem stillen, sittigen Frauenschritt eine ältere Dame – unendlich ruhig, unendlich mild: wie ein Sabbat unter den Wochentagen. Spuren der feinsten Schönheit ihres Geschlechts verklären noch die zarten, blassen Züge der Matrone. Aber sie führt ihr einstiges Selbst lebendig an der Seite in einem jungen Mädchen von etwa achtzehn Jahren, welches seinerseits wieder ein Schwesterchen von fünf Jahren an der Hand führt. Beide Töchter sind das reinste Ebenbild der Mutter. Das ältere Mädchen hat braunes, schlichtgescheiteltes Haar, ein tiefes braunes Auge unter dämmerungsvollen Wimpern, ein edles Oval des Gesichts und in ihrer ganzen Erscheinung einen so ergreifenden Ernst, daß mir, so oft ich sie einherwandeln sah, immer dieselbe Vorstellung zurückkehrte: ich sähe ein Mädchen zur Konfirmation gehen. Man kann die weibliche Modestie in keiner andern Personifikation denken. Ich sage absichtlich Modestie, und nicht Bescheidenheit: das Wort mit seinen zwei breiten Diphthongen klänge ganz unmalerisch für diesen Charakterausdruck. Modestie muß es heißen.

Wie artistisch empfunden! rief Moorfeld mit der Freude des Kenners, sagen Sie noch, daß Ihnen ein Bild schwer wird, ohne geschichtlichen Grund! Ein rein dichterischer Zug, eine Nuance voll Plastik!

Ich bin kein Dichter, sagte Benthal mit einer gewissen Genauigkeit der Definition, ich habe nicht die Imaginationskraft, zu schaffen, höchstens, das Geschaffene zu empfinden. Aber Moorfelds Sympathie war in ihrem Kern getroffen, Benthal selbst hätte es nicht mehr ändern können. In Kleindeutschland hatte ihn Moorfeld achten gelernt, wie ein Mann den Mann achtet, dieser Zug befriedigte das Besondere in ihm, das Eigene. Er drückte unwillkürlich Benthals Arm brüderlicher an sich; dieser fuhr fort: Die Matrone verkürzte sich von Zeit zu Zeit die Langweile der Seefahrt mit Lektüre. Eines Tags sah ich sie mit einem alten Zeitungsblatt in der Hand an mir vorübergehen. Wie wurde mir, als ich, nach dem Kopfe des Blattes schielend, eine liberale Pfälzer Zeitung erkannte, an welcher ich unter dem bewegtesten Wechsel von Privat- und öffentlichen Geschicken ein Hauptmitarbeiter gewesen! Mein Blick mochte lebhafter, als er sollte, meinen Rapport mit diesem Stück Papier ausgedrückt haben, denn die Dame reichte mir es, zwar nicht als Neuigkeit, wie sie sich entschuldigte, aber solch kräftiges Stammholz halte sich lange, sagte sie, man schnitze sich jetzt erst mit gehöriger Andacht Reliquien daraus. Sie fügte dann zum Lobe des leitenden Artikels noch mehreres bei, aber ich unterbrach sie mit den Worten: Madame, ein gewisses Gefühl sagt mir, daß ich Sie nicht fortfahren lassen soll, ohne Sie aufmerksam zu machen, daß hier von keinem Abwesenden die Rede ist. Der Verfasser dieses Artikels hat die Ehre, sich für Ihre Güte persönlich zu bedanken. Die Überraschung der Frauen war groß. Natürlich lag für mich die Aufforderung vor, von meiner Geschichte so viel mitzuteilen, als schicklich war, die erregte Neugierde von Damen zu befriedigen. Ich erzählte das Drama des Hambacher Festes. Meine Beteiligung daran verstand sich von selbst. Meine Flucht durch Frankreich und Einschiffung in Havre war eine Folge jenes Mißlingens. So stand ich an Bord des Auswandererschiffes. Als Gegengeschenk erhielt ich nun auch von den Verhältnissen der drei weiblichen Passagiere einen Abriß. Die Matrone war Witwe eines preußischen Beamten aus der Schule Steins. Die Vexationen der politischen Gegenströmung haben ihn aus der Aktivität gedrängt, vielleicht selbst seinen rascheren Tod mit verschuldet. Die nächste Verwandtschaft schien dem jenseitigen Lager so rücksichtslos anzugehören, daß es die verwaiste Familie bis ins Innerste ihres Privatlebens empfand. Die Matrone berührte den Punkt der Vermögensverhältnisse mit keiner Silbe dabei; doch hielt ich's für wahrscheinlich, daß sie namentlich auch hier viele Kränkungen erlitten und empfindliche Opfer gebracht. Mein Anerbieten, die Töchter im Englischen vorzubereiten, wurde mit ausweichendem Danke beantwortet; ich glaubte zu bemerken, daß es nach einem Gesetze entsagendster Ökonomie geschah. Leider verbot mir eben dieser Umstand die Anspruchslosigkeit meines Offertes so weit zu betonen, daß ich die Ursache jenes Verzichtes zu erraten schien. Das Vertrauen der Matrone war überhaupt nicht leicht zu beanspruchen. In der angeborenen Fähigkeit ihres Geschlechtes, mit dem schicklichsten Mute jene bebende Blumenscheu zu verbinden, welche schon vor der Berührung sich schließt, war sie wohl einzig. Was sagen Sie dazu, wenn der Hauptgrund ihrer Auswanderung der Gedanke war, daß die Heilighaltung des Weibes in Amerika ihren Waisen einen besseren Schutz verspreche als in Europa? Ist es nicht großartig, eine ganze Nation zur Hüterin seiner Haussitte zu machen? – Indes – eine Art Bekanntschaft war immer eingeleitet, und wir begegneten uns jetzt nicht mehr auf dem Verdecke, ohne daß sich irgendein Gespräch anknüpfte. Eines Tages war von der Wortkargheit der Schiffsleute die Rede; ich bemerkte bei dieser Gelegenheit, wie eigentümlich mir's mit dem Kapitän ergehe: ich könne von ihm nur die geographische Breite erfahren, nie die Länge, unter welcher wir segelten. Meine Fragen nach der Länge seien ihm stets verdrießlich, aber sein Stillschweigen darüber mir noch verdrießlicher. Ich vergaß nämlich nicht, den Damen zu bemerken, daß nach den Längengraden der eigentliche Fortschritt der Fahrt angezeigt werde. Bald darauf kam ich aufs Verdeck und fand Paulinen allein oben, was wohl zuweilen, aber nur auf Augenblicke vorkam. Ich hatte bereits aus der Ferne gegrüßt und wollte nähertreten, da ging just der Kapitän an ihr vorbei. Er grüßte und blieb stehen, sie schien ihn mit irgendeiner Ansprache festgehalten zu haben. Es entspann sich eine Konversation, von welcher etwa folgendes in meine Nähe herüberscholl. Werden wir diesen heitern Himmel behalten, Herr Kapitän? – Es ist wahrscheinlich, mein Fräulein. – Was war das für ein Fisch, den Ihre Leute gestern harpunierten? – Ein junger Hai, white shark heißt die Art. – Die Matrosen schienen sehr erfreut; ist das Tier so kostbar? – Doch nicht, mein Fräulein, aber kleinere Fische einer andern Gattung begleiten ihn, und halten sich wohl auch in seinem Rachen auf; die haben prächtige Farben und schmecken wie die besten Forellen. – Die Tierwelt des Meeres scheint nicht weniger interessant als auf dem Festlande und noch viel reicher. Schade, daß man sie nicht in so bestimmten geographischen Grenzen überblicken und behalten kann wie etwa die Regionen der Gemse oder des Rentiers. – Das möchte ich in vielen Fällen doch sagen. Wir kennen so ziemlich die Landschaften und Provinzen, um den Ausdruck zu gebrauchen, in welchen jede Gattung vorkommt. – Das sagt viel! Ich glaube, Sie sind auf Ihrem Ozean zu Hause, wie wir in unsern vier Wänden? – Das geschmeichelte Lächeln des Kapitäns machte einen breiten Riß durch sein muskulöses Gesicht. – Paulinen aber hörte ich fortfahren: In welcher Länge z. B. segeln wir jetzt, Herr Kapitän? Der Seemann riß die Augen auf und maß das junge Mädchen mit einem verblüfften Gesicht. Er blickte auf dem Verdecke umher, gleichsam als suchte er die Quelle dieser gelehrten Frage irgendwo außer der Fragenden. Zuletzt sagte er zögernd: Sie meinen doch von Ferro gezählt? – Ja, stotterte das Mädchen verwirrt, und wurde über und über rot. – Der Kapitän murrte ihr eine Antwort zu, die ich nicht mehr vernehmen konnte, und zog sich dann ziemlich brummig zurück. – Wir segeln im vierzehnten westlicher Länge von Ferro, berichtete mir hierauf Pauline, indem wir einander entgegengingen. Ich empfing das Wort, wie man eine süße verbotene Frucht empfängt. Ich ergriff ihre Hand, küßte sie und behielt sie noch in der meinigen, als ich sie schon längst geküßt hatte. Wir segeln im vierzehnten westlicher Länge von Ferro, wiederholte ich, – und klang mir das Wort nicht wie der seelenvollste Vers eines Dichters? Sie sehen, selbst die Mathematik ist nicht trocken, wenn – wenn es anders sein soll! So wurde ich mit Paulinen bekannt, schloß Benthal mit einer veränderten Stimme; – ich lehrte sie von da an Englisch, und sie lehrt mich: Amerika ertragen, wo möglich – es besiegen!

Moorfeld ergriff die Hand des Erzählers, und drückte sie lebhaft: Ich danke Ihnen mit meinem ganzen Herzen für Ihr bereitwilliges Vertrauen! Noch liegt Kleindeutschland nicht weit hinter uns, aber um wie viel näher sind Sie mir wieder gerückt! Wird einem doch erst recht wohl am Menschen, wenn man ihn heben sieht!

Ich wenigstens, antwortete Benthal, erkenne meinen günstigsten Stern darin. Vielleicht säß' ich selbst unter der verirrten Herde Kleindeutschlands, schleppte in einem empfindsamen Tränensack das Hambacher Andenken herum und schliche als ein müßiger Schatten durch die Jahre der Kraft. Mein Glück hat mich bewahrt davor. Es zeigte mir schon im Ozean, wofür ich am Ufer ringen sollte. In jener Wüste von Ekel, Langweile, körperlichem und geistigem Siechtum, welche eine Unmasse von Auswandererkräften schon vorweg aufzehrt, und welche man eine Zwischendecks-Seefahrt nennt, – in diesen mattesten Jammertagen eines menschlichen Erdenwallens legte es seine Lunte an mich, und entzündete meine brennendsten Energien. Ein Glück nenne ich das, denn es ist das einzige, das den Namen Glück verdient. Nicht mit einem großen Lotterietreffer die menschlichen Kräfte zu pensionieren, sondern sie im rechten Augenblicke mit einem Ziele heißer Begehrung aufzuregen, das ist das Glück!

Moorfeld erwiderte: Im Namen der europäischen Poesie müßte ich eigentlich Einsprache tun gegen diese Auffassung der Liebe. Sie erscheint wie ein Nützlichkeitsprinzip, wie eine dynamische Kraft nach Ihren Worten. Aber freilich sprechen Sie nicht von der Liebe, sondern von einer Liebe. Uns lyrischen Luxusmenschen ist Liebe nicht Preis und Ziel eines Kampfes, sondern in sich selbst Kampf, ja, der Siedepunkt jenes Kampfes, welchen Geist und Natur (denn das sind ja Mann und Weib) in ihrer ewigen Gegensätzlichkeit miteinander auszukämpfen haben. Das ist eine heiße Bataille. Es ist etwas Dämonisches um die Liebe; was sag' ich, geradezu Feindliches, auf gegenseitige Vernichtung Ausgehendes; aber darin hegt eben der Genuß; das ist die berühmte Süßigkeit der Liebe, daß sie eine Extremität bezeichnet, eine Affäre, wo's um den Hals geht. So versteh' ich von Europa her die Liebe, wo man seine Kräfte hat, um den Himmel zu stürmen und die Hölle zu verdienen. Hier, wo es gilt, die Erde in Besitz zu nehmen, ist's freilich was anderes. Hier gibt's außerhalb Kampf genug; hier sind allerdings Sie im Rechte, wenn Sie die Weiblichkeit als etwas Fertiges empfinden, als reine einfache Beseligung.

Ich nehme Ihren poetischen Protest doch nicht ungern zu Protokoll, antwortete Benthal. Ach, so wohltuend ist die Erscheinung hier, die Sie lyrischer Luxusmensch nennen! Überhaupt macht der Europäer in Amerika den vornehmen Eindruck eines Grand-Seigneurs. Da ist so viel Überfluß, so viel Unnötiges, Unfruchtbares! Seine ganze moralische Landschaft ist wie eine Parkanlage; ein Sperling findet kein Kirschchen darin, aber ein Torquato Tasso die Stanzen des befreiten Jerusalems.

Bravo, rief Moorfeld, einen Lorbeerkranz für dieses Wort! Ich glaube, Sie werden vollständig die Aufgabe lösen, die Sie unsern Landsleuten dort proklamiert haben: deutscher Geist, amerikanischer Arm!

Ich möchte es versuchen, sagte Benthal. Ja, lassen Sie mich's machen wie der Ruderer: – das Ufer, dem er zusteuert, hat er im Rücken, wovon er abstößt, im Angesicht. Lassen Sie mich in Amerika anlanden, das Auge geheftet auf Europa und seine besten Vertreter. Er drückte seinem Begleiter die Hand.

Was mich betrifft, antwortete Moorfeld, so bin ich fast in gleicher Lage, nur umgekehrt. Wir müssen notwendig miteinander gehen.

Unsere neuen Freunde waren während dieses Gespräches wieder in der Nähe des Theaters, von welchem Moorfeld ausgegangen, angelangt; sie standen nämlich in dem Square an der City-Hall, welcher der Park heißt. In diesem Mittelpunkte New Yorks, von welchem nach Norden und Süden die große Schlagader der Stadt, der Broadway, auslief, fand sich Moorfeld vollständig orientiert. Er dankte für das fernere Geleite Benthals, dessen Weg gegen den Ostfluß zu, so wie sein eigener westlich an den Hudson hinab, also in direkter Entgegensetzung auseinanderging. Die jungen Männer verabschiedeten sich hier und tauschten ihre Adressen gegeneinander aus zum Unterpfande fortzusetzender Freundschaft. Benthal gab die seinige mit den Worten ab:

Es ist die Wohnung der Frau von Milden, meiner Schwiegermutter in spe, die ich Ihnen hier mitteile. Ich pflege meine freien Stunden dort zuzubringen, und wenn Sie es nicht verschmähen, der vierte in einem Bunde zu sein, der sich einander nicht kreuzigt und erdolcht, sondern bloß eine Partie Whist spielt, so ist Ihnen das Lorettohäuschen meiner Frauen, das ich sonst niemandem öffnete, mit aller Bescheidenheit auf getan. Gewissermaßen sind Sie ohnedies schon eingeführt dort, denn Ihr Besuch in Mr. Mockingbirds Schule war mir eine zu wohltuende, für Amerika zu seltene Erscheinung, als daß ich ihn nicht auch unter meinen Frauen gefeiert hätte. Ja, und sind Sie nicht der Ritter unsrer kleinen Malvine geworden, der Sie so freundlich aus der Not halfen, als sie auf einem Botengang zu mir sich verirrte, und von halb New York in Stich gelassen wurde? Unser Haus wird sich freuen, Ihnen zu danken, es war ein Ereignis in der kleinen Idylle! Das Kind fand seinen Weg sonst spielend zu Mr. Mockingbird, er ist auch kurz genug; aber damals war das arme Schneckchen ein Opfer der Politik geworden; es lief einem Straßenaufzug der Clay-Partei und seinen Fahnen und Standarten nach, da trieb es im Umsehen mitten in New York wie eine Bachforelle im Ozean. Die kleinste der Damen Milden ist nicht wenig liebenswürdig, wenn sie von Ihnen spricht – was sollen die großen dabei tun? Am Ende sind's doch die Kinder, welche den Ton angeben!

Ich liebe die Kinder, sagte Moorfeld; in der ganzen weiten Welt sind sie's allein, zu denen ein uneigennütziges Verhältnis möglich ist. Die Natur unterwirft man der Kunst, die Kunst eifersüchtelt mit der Natur – wir mögen uns stellen, wie wir wollen: unser Leben ist Neid und Verzweiflung. Das Kind allein ist weder tote, objektive Natur noch bewußte und überbewußte Menschheit: es hat zwischen beiden den rechten Moment, diesen Moment lieb' ich. Neben dem Gespenst, das den Menschen draußen abstößt und dem Gespenst, das ihn innen zerfleischt, steht es in der Mitte, – ein anziehendes und versöhnendes Gespenstchen. – Verlassen Sie sich darauf, ich werde meine kleine Eroberung nicht vergessen. – Mit diesen Worten händigte Moorfeld auch seine Karte aus.

Die jungen Männer hatten sich eben getrennt, als Benthal, eh' er die empfangene Karte einsteckte, beim Lampenschein einen Blick darauf warf. Er rief den Hinweggehenden sogleich zurück und stellte ihm die Karte mit den Worten zurück: Um Verzeihung; ich habe hier keinen Dr. Moorfeld, sondern einen Herrn von –

Moorfeld ergriff hastig das dargereichte Blättchen und errötete. Eine Verwechslung mit irgendeiner fremden Karte, sagte Benthal. – Sie irren, antwortete Moorfeld, oder scheinen zu irren. Es war mein eigener Name in Europa. Nach diesem Geständnis folgte eine Pause zwischen beiden Männern. Von Benthals Bescheidenheit war nicht zu erwarten, daß er um Aufklärung bitten würde, obwohl ihn allerdings eine gewisse Empfindlichkeit anwandeln mochte – nicht über dieses Inkognito, als vielmehr über die ungenierte Weise, womit es sich eingestand. – Moorfeld nahm endlich gegen Benthal das Wort: Sagen Sie, wie ward Ihnen zumute, als Ihr Name zum ersten Male von amerikanischen Lippen ausgesprochen wurde? Vielleicht wie einem Badenden, dem seine Kleider gestohlen sind. Es war ein heilloses Gefühl, wie? In Europa unter bekannten Verhältnissen bezeichnete Ihr Name einen gewissen Wert, wie die Ziffer auf einem Münzstücke: hier waren Sie eine Ziffer ohne das Münzstück – Sie hätten ebensogut No. 20 heißen können. Ist es so?

Ich kann Sie vollkommen verstehen, antwortete Benthal. Die alte soziale und ideelle Bedeutung hat man am andern Ufer abgelegt, und doch bringt man noch den Träger derselben, den Namen, herüber. Da ist's nun ganz eigen, den Namen zu hören und zu wissen, daß dabei nicht mehr gedacht wird, was sonst gedacht wurde.

Sehen Sie! So trag' ich denn lieber einen angenommenen Namen für Amerika. Man kann ein und denselben Namen nicht zugleich unter Cottas Presse und in den Mund eines Waterclerks legen, der ihn mit seinem Kautabak ausspuckt. Das geht nicht.

Benthal antwortete: Sie sprechen von Cottas Presse und ich muß mit Bedauern ahnen, daß Sie mir kein bleibender Freundesbesitz sind. Sie gehören also nicht, wie ich, mit Ihrer ganzen Zukunft dem Lande an? Sie treiben's mit dem Schweden nur zum Schein?

Ich treib' es mit dem Schweden nur zum Schein! wiederholte Moorfeld mit einer Nachbetonung, welche eine Einkehr in sein innerstes Selbstbewußtsein verriet. Ein sonderbares Wort! Wie eigentümlich schicksalsvoll klingt es mir! Sie stellen mich mit dem Gemordeten von Eger zusammen?

Benthal erschrak fast über den Eindruck, den er so zufällig auf Moorfeld gemacht hatte, und nahm wieder das Wort zu Ausbeugungen, aber dieser fiel ihm rasch in die Rede: Nein, nein, Sie haben nicht weniger als der Pappenheimer das Recht, Ihre Frage zu stellen, wie es Ihnen einfällt. Hingegen die Antwort darauf! Das ist's, was mich so wunderlich hier berührt. Die gleiche Polarität mit dem Manne, der zwischen Kürassieren und Sternen die ideale und reale Welt in sich verbinden will. Steh' ich nicht ebenso zwischen Europa und Amerika? Ist mir's bestimmt, in Prag eine Königskrone, in Eger eine Todeswunde zu holen? Ja, ahn' ich denn nur, in welcher der beiden Welten mein Prag, mein Eger liegt? So habe ich in Ihrem Zitat eine jener Stimmen gehört, welche scheinbar von menschlichen Sprachwerkzeugen kommen, aber es sind keine Menschenstimmen. Sie faßte mich tiefer.

In diesem Augenblicke kam auf dem Giebel von Astorhouse ein roter feuriger Rand zum Vorschein, – es war der abnehmende Mond, der in dieser späten Nachtstunde aufging. Benthal streckte die Hand aus und rief: Sehen Sie, da kommt unser Landsmann! Der Mond ist ein geborener Deutscher. Dacht' ich's doch! wo zwei Deutsche beisammen sind, kann er nicht ausbleiben. Ist das nicht ein Zeichen, daß wir verweilen sollen? Der Park bekommt jetzt erst seine rechte Magie und das marmorene Stadthaus dort mit seinen schlechten Verhältnissen die beabsichtigte Noblesse. Der Marmor ist überhaupt nur ein Stein für die Mondbeleuchtung. Und die Gedanken, die Sie da anregten – setzte er hinzu – die sind erst recht geschaffen fürs Mondlicht! Wollen wir sie nicht fortspinnen? Ich werde dringender, seit ich weiß, daß ich Sie verlieren kann. Bitte, sprechen Sie von sich selbst, wenn ich so viel eintauschen darf für ein Gespräch von Paulinen.

Pfui! rief Moorfeld, man sollte die Geliebte selbst nicht im Scherze nachsetzen. Von ihr zu hören, machte uns beiden Freude; aber mein Verhältnis zu Europa und Amerika? Freilich ist's auch eine Dame, es ist eine Sphinx! Die sagt mir nicht, in welchen Längen ich segle – sie gibt mir selbst Fragen und Rätsel auf. Schlimm, wenn ich sie nicht löse, und schlimm, wenn ich sie löse – ein König Ödipus! Doch Sie haben recht. Profitieren wir von dem späten Mondbesuch, es plaudert sich ganz hübsch zwischen Mond und fahrendem Poeten, es klingt so en famille! Gebt dem Dämmer, was des Dämmers ist!

Die beiden Freunde faßten sich von neuem unter dem Arm und gingen in den Lindenalleen des Parks auf und nieder. Moorfeld begann: Als ich vor einigen Jahren anfing, meinen Dichterberuf zu fühlen, überkam mich eine unermeßliche Unruhe. Ich sah um mich her und fand, daß unsre gesamte poetische Literatur das nicht ausdrückte, was sie ausdrücken wollte und sollte.

Benthal machte eine überraschte Gebärde.

Das fand ich, wiederholte Moorfeld. Ich fand mich in einen Hexensabbat geworfen, in einen Maskenball, die ganze Poesie kam mir vor wie eine verabredete Vermummung, eine Verräterei, eine Verschwörung, und auf mich war's gemünzt. Ich fühlte einen starken und eigenen Inhalt in mir, und die Masken huschten in antiken und romantischen Lügengewändern um mich her, und wie das munkelte, zischelte, flüsterte, so ward mir nicht anders, als sie wollten mich verleiten, zuzuhorchen, damit ich meine eigene Stimme überhörte. Es war ein unnennbares Gefühl. Ich bin verlegen, es Ihnen ganz deutlich zu machen. Denken Sie sich einen Musiker, der mitten in einem rauschenden Konzert einen eigenen Einfall bekommt. Von dem Augenblicke an spielt ihm das Orchester in greulichen Disharmonien. Mit größter Anstrengung hält er den eigenen Gedanken fest, es gelingt nicht, die äußeren Sinne überwältigen ihn, der Gedanke sinkt, er geht unter, schon vernimmt er ihn nicht mehr, da ergreift ihn die Angst, er springt auf, rennt was er kann aus dem Bereich des Orchesters – und zu glücklich, wenn nicht der Nachklang noch fortfährt, ihm seine innere Stimme zu verwirren! Das ungefähr war mein poetischer Erstlingszustand. Ich machte eiligst eine Skizze von meiner Melodie, warf sie in Cottas Briefschalter und rannte auf und davon nach Amerika. In der Stille des Hinterwalds will ich sehen, ob ich die Skizze ausführe. – Moorfeld fuhr fort: Ich sagte zuvor: unsre ganze Poesie drückte nicht aus, was sie sollte und wollte: das befremdete Sie. Ich bin Ihnen, wie es scheint, eine Erklärung darüber schuldig?

Es interessiert mich, sie zu hören, antwortete Benthal. Ich meine es so, sagte Moorfeld: die ganze Literaturgeschichte zerfällt mir in zwei Perioden; die eine zähle ich von Homer bis Racine, die zweite von Racine bis in unbekannte Zeiten. Diese Perioden mögen Ihnen wunderlich dünken; in der ersten stehen z. B. die großen Gegensätze von antik und romantisch, christlich und heidnisch unberücksichtigt nebeneinander, – aber ich finde ein Merkmal der Gleichartigkeit für sie: den Ausdruck des nationalen Inhalts. Homer singt seine Griechen, Cervantes seine Spanier, Camoens seine Portugiesen, Shakespeare seine Engländer, bis herauf zu Racine, welcher seine Franzosen singt. Das ist das einheitliche Moment dieser Periode – die Poesie der Nationalität. Nach Racine folgt eine andere Periode – die Poesie der Individualität. Recht schlagend für diese Einteilung mag ich zwei Engländer nennen – Shakespeare und Byron. Was wäre Shakespeare außer England, was Byron in England geworden? Nichts. Jener hatte die Nationalität, dieser die Individualität zu singen. Ihre Poesie ist in der Wurzel verschiedener als die von Virgil und Tasso. Sie repräsentieren die alte und neue Zeit meines Begriffes. – In Deutschland hatten wir vor dem dreißigjährigen Krieg eine Nationalitätspoesie, aber sie wurde vergessen; desto ungestümer brach die Individualitäts-Periode an: – das war die Sturm- und Drangperiode. Man hat von einem Abschluß dieser Periode durch Schiller und Goethe gesprochen. Aber Sie sehen wohl, wie lächerlich das ist. Haben wir denn bis auf diese heutige Stunde schon einen andern Inhalt gewonnen als den der Sturm- und Drang-Periode – unser armes drangvolles Ich? Oder ist dieses Ich so versöhnt, in seinen tierisch-göttlich-menschlichen Widersprüchen so harmonisch gelöst, der Glaube so stark, das Wissen so weit, die Erde so himmlisch geworden, daß uns der Zustand von Sturm und Drang nicht länger mehr zukäme? Ich dächte! Als ob Faust nicht ein dissonierendes Fragment wäre! Als ob Wilhelm Meister nicht dadurch um die Pistole herumkäme, daß die gesamte Weiblichkeit weniger preziös vor ihm tut als vor Werthers armen lechzenden Sinnen! Eigentlich hätte er sich aus entgegengesetzten Gründen erschießen müssen. Das Problem der erfüllten Sinnlichkeit und Sittlichkeit ist auch in ihm nicht gelöst, denn Mignon stirbt und ist eine Abnormität. Kurz, das Weimarer Ministerial-Reskript mit seiner griechischen Kontrasignatur war eben eine Regierungsmaßregel wie die meisten andern: sie drang nicht ins Volk, sie war ein Willkürakt des Einzelnen. Und als die Olympier mit ihrer erkünstelten Griechen-Harmonie schon längst Ruhe und Ordnung gestiftet zu haben glaubten, – siehe, da schlägt uns das unterdrückte Feuer auf einmal in einem englischen Lord zutage, und wir hören das alte markzerreißende Pan-Geschrei aus Werthers brünstigsten Tagen. Nichts ist abgeschlossen, seit Werther gar nichts; höchstens die Lotten heißen anders. Die Freiheit und die Notwendigkeit, das subjektive Recht und die objektive Pflicht kämpfen miteinander nach wie vor. Unsre Religion, unser Staat oder der Weimarer reflektiertes Griechentum haben die Ausgleichungsformel noch nicht gefunden.

Die Weimarer haben die Sturm- und Drang-Periode nicht abgeschlossen, sondern bloß unterbrochen und verwirrt. Als sie von Werther und Karl Moor abfielen, fielen sie vom ganzen modernen Weltalter ab. Sie legten den Inhalt der Poesie aus der Individualität wieder in die Nationalität zurück; allerdings griffen sie nach der schönsten Nationalität – nach der griechischen. Aber es war immer eine willkürliche Wahl und andere konnten anders wählen. Das taten denn auch die Romantiker. Sie führten die Poesie in die indische, skandinavische, germanische, romanische, überhaupt in sämtliche Nationalitäten der Welt. Natürlich behauptet das Herz sein Recht, und selbst Münchhausen wird manchmal die Wahrheit sagen. So verriet sich im nationalen Kostüm gelegentlich das individuelle Herz. Aber sonderbar! bei solchen Gelegenheiten lachte man sich entweder selbst oder gegenseitig einander aus: es war, als ob man sich die Löwenhaut verschoben hätte und das Eselsohr durchgucken ließe. Andere erkannten dann in dieser kleinen Zerstreuung wieder einen neuen Toiletteneffekt, wie der junge Heine, und gingen auf absichtliche Verschiebungen und Entblößungen aus, um jenes ironische Gelächter häufiger zu erregen. Wieder andere wären dagegen am liebsten in ihrer natürlichen Stürmer- und Drängerhaut einhergegangen, aber die Mode war stärker als ihre Courage, sie entstellten sich wie Hölderlin mit einer griechischen oder wie Heinrich von Kleist mit einer romantischen Fremdartigkeit und verdarben die wahre Dissonanz mit einer falschen. So wurde überall der Lüge kein Ende. In diesem Zustande fand ich unsre poetische Literatur, als ich zum Bewußtsein derselben erwachte, und darum sagte ich: sie drückte nicht aus, was sie wollte und sollte.

Ich floh. Sollte ich meinen Beruf erfüllen: eine moderne Individualität rein auszudrücken – so mußte ich das manierierte Deutschland fliehen wie Byron das verrottete England. Warum ich eben nach Amerika floh, das allein bliebe mir zu erklären noch übrig.

Es ist hier von den ernstesten Interessen der Menschheit die Rede. Sie dulden keine Frivolität, keine Übereilung. Man erschießt sich nicht, weil es hübsch knallt und ein wenig Lärm macht. Lotte kommt darum kein einzigmal weniger in die Wochen, es macht keinen bleibenden Eindruck. Unsterblich wird man nicht damit. Unsterblich ist nur das Leben, nicht der Tod. Das erkannten Schiller und Goethe, als sie die Partei des Todes verließen und sich fürs Leben erklärten. Ihr ewiges Verdienst bleibt es, daß sie mit Ernst und Würde nach dem suchten, was wir heute Weltordnung nennen. Die Beschränktheit ihres Zeitalters bleibt es, daß sie die Weltordnung nur im Reiche des Gedankens zu finden vermochten, daß sie auf eine absolute Trennung von Kunst und Leben antrugen und die Wirklichkeit preisgaben zugunsten »des schönen Scheins«. Aber wenn wir ihren Fund nicht annehmen dürfen, so müssen wir doch von ihnen lernen zu suchen. Diese Pflicht bleibt uns. Und wer möchte verkennen, wie sie sehr uns heute erleichtert ist, wie das Gebiet unsers Suchens heute ein viel weiteres geworden? Wenn die Lenze, die Hölderlins, die Stürmer und Dränger alten Stils am Leben verzweifelten, so war es das Leben ihres Schildas mit der Torsperre um acht, mit dem barschen Bürgermeister und dem süßlichen Stadtpfarrer. Darin gingen sie auf und unter, oder sie fanden im nächsten Schöppenstedt der Neuheit höchstens so viel, daß der Kirchturm rechts stand, statt links, und daß der Mühlbach nicht Schleien hatte, sondern Gründlinge. Das Deutschland, in welchem Werthers Pistolenschuß fiel oder Karl Moor Räuber warb, – und das Deutschland von heute sind doch verschiedene Welt Ordnungen. Es lehrt uns, daß der Unterschied von Ideal und Leben kein stehender ist, sondern ein wandelbarer. Wir sind dem Ideale näher gekommen. Das ist eine große Entdeckung, ein wichtiger Fortschritt seit Schillers und Goethes Jugendtagen. Darum – und nicht weil sie griechisch gelogen haben, – sind uns ihre Jugendexzesse nicht mehr so leichthin erlaubt. Man muß nicht in das erlogene Reich der Schatten flüchten, man kann dem Ideale auf Erden näher kommen. Diese Wahrheit zeichnet den Stürmern und Drängern von heute ihre neue Bahn vor. Sie wandern. Der Poet wird künftig Tourist sein. Er sucht das Ideal auf Erden, oder vielmehr er lernt die Realität gründlicher kennen, eh' er sie verdammt und zum Recht der Verzweiflung greift. – Byron ging nach Griechenland, ich nach Amerika. Er besuchte ein absterbendes Volk, ich ein aufblühendes. Ich glaube, den bessern Weg gewählt zu haben. Mag der große glänzende Lord ein beneidenswerteres Aufsehen erregen als ich, der kleine ungarische nemes-ember; eins habe ich vor ihm voraus: ein tieferes Gewissen. Es ist mir nicht um eine vorübergehende Emotion, um eine nationale Rage zu tun, die nach dem Friedensschluß zusammenfällt wie ein luftleerer Schlauch. Nicht wie die Menschheit ihre Freiheit erkämpft, sondern wie sie ihre Freiheit täglich, stündlich, in Haus, Kirche und Schule gebraucht – das muß mir die Menschheit auf ihrem Gipfel zeigen. Darum ging ich nach Amerika. Hier sind die größten Maßstäbe, die weitesten Perspektiven, hier ist das Leben eine Wahrheit, und die Toten werden alle begraben, nicht bloß teilweise, wie in Europa. Hier ist die Werkstätte des Ideals. Soll ich unsern Rationalisten glauben, daß die Menschheit die Gottheit ist – hier mußte sich's zeigen, wo mit jeder Erfindung, mit jeder neuentdeckten Naturkraft Gottheit entbunden wird; soll ich unsern Liberalen glauben, daß der Vernunftstaat im allgemeinen Stimmrecht liegt und die geschichtliche Gewohnheit ein Fluch ist – hier mußt' ich's erfahren, wo ich Gesetze sehe, die der Millionär und der Schuhputzer des Millionärs gemeinsam gemacht haben. Hierher bracht' ich den Prozeß zwischen Ideal und Wirklichkeit, die Entscheidung über Leben und Tod in letzter Instanz. Hier ist die höchste Appellation in göttlichen und menschlichen Dingen. Mißlingt auch auf diesem Boden der Sühneversuch unsrer widerspruchsvollen Geist-Stoff-Ehe, muß ich mich scheiden von Menschheit, Gottheit, Glaube und Liebe, und behält der teuflische Geist der Verneinung recht – wohlan, dann komm' ich zurück nach Europa, »und bin gescheiter als alle die Laffen«, die die Welt zertrümmern, weil ihr Röschen heiratet. Dann hab' ich mir meine Pistole, meinen Wahnsinn verdient wie ein Mann, nicht wie ein Knabe. –

Hier ließ Moorfeld Benthals Arm los und verabschiedete sich rasch. Bitten Sie mir morgen abend eine Tasse Tee bei Ihren Frauen aus, rief er im Weggehen zurück, seinen Besuch so nahe rückend gleichsam zur Entschuldigung für diese heftige Trennung. Gute Nacht, Freund; damit verschwand er in der Richtung gegen das Post-Office hinab. Benthals Schritte hörte er aber nicht sich entfernen; der Freund muß noch lange gestanden und ihm nachgesehen haben.

 

Moorfelds Lebensgeister vermochten keineswegs die Ruhe zu suchen, als er in dieser späten Nachtstunde sein Zimmer erreicht hatte. Er lag noch lange im Fenster. Auf New-Jersey drüben flimmerte eine Villa in Illumination; der Bewohner mochte irgendein Familienfest feiern. Wie ein Busch voll Johanniswürmchen sah das Glück des reichen Mannes auf diese Entfernung aus. Ringsherum lag große, ernsthafte Nacht; die Baumanlage von Hoboken war eine majestätische Schattenmasse. Der Hudson rauschte, in der Finsternis doppelt breit, unter den Kielen der Schiffe hin, welche mit einer melancholischen Wachtlaterne an Bord schlaftrunken in ihren Piers vor Anker lagen. Man hörte in der Nachtstille das Plätschern der Wellen an ihren Flanken. Zuweilen durchschnitt auch ein Kahn die dunkelpolierte Wasserfläche, lautlos, mit umwundenen Rudern, sei's, daß er das nachtschleichende Verbrechen trug oder die nie ruhende Themis, dessen Verfolgerin. Unten im Süden, wo der Strom in die Bai übergeht, stand der Mond und umsäumte mit seinem vollen Glänze den Meereshorizont. Am äußersten Rande der Sehweite fand das Auge einen Ruhepunkt dort; ein dunkler Körper, anzusehen wie Harnisch und Gewaffen einer Heldentrophäe, lag großartig vereinsamt mitten im Meeresspiegel. Es war das Fort Gibson auf dem kleinen Eilande Ellis.

In diese Nachtszene träumte Moorfeld hinaus, aber sein Inneres war abgezogen von ihr. Die Bilder des heutigen Abends gingen an seiner Seele vorüber. Ein toller Menschenhaufe mit Ratten und Hunden durchwirkt steht als dramatische Kunstgenossenschaft vor ihm – wie verblaßt ist dieses übergrelle Bild schon! Der seltsame Engländer mit seiner Dogge, – Hoby, der Straßenjunge – ach, und mit diesem ein lichtes, lockendes Andenken – blast es hinweg wie ein Goldblättchen, jenes Mädchenbild von der Battery! Kleindeutschland breitet sich aus in seiner Stimmung. Diese Urne voll Nieten rauscht verhängnisvoll an sein Ohr. Unheimlich und doch wohltuend stellt sich dies Schicksalsgemälde vor ihn. Er sieht eine Reihe von Menschen, welche zugrunde gehen ohne moralische Schuld, bloß an der Unmöglichkeit der Tat. Er fühlt lebendiger als je, wie günstig das Los des Sterblichen sei, dessen innerer und äußerer Zensus ihm erlauben, sich selbst zu vertreten, der in jedem Augenblicke an der Urne seines Schicksals das Votum einer ganzen und vollen Freiheit abgeben darf. Er freut sich des Gedankens an seine Ansiedlung; was Menschen so selten schätzen, schätzt er jetzt hoch, nämlich das Glück, daß überhaupt etwas möglich sei.

Und nun Benthal! Der junge Mann ist ein Stück deutsche Arbeitskraft, das nicht unterzugehen verdient. Und doch – wer schützt ihn auf die Länge davor? Wenn Moorfeld mit weniger Poesie und mehr Wirklichkeitssinn die sonderbare Stellung dieses Propheten zu Kleindeutschland abwog, so mußte er sich fragen: was ist wahrscheinlicher? daß der gesunde Eine die kränkliche Mehrheit bewältige oder daß die Schwachen nach und nach den Starken sich einverleiben werden? Schien es doch jetzt schon, daß Benthals Adhäsion an Kleindeutschland eigentlich auf einer verhängnisvollen Verwandtschaft der Extreme beruhe! Es lag etwas nervöses, Ekstatisches in der Spannkraft dieses wackeren Ringers, das nicht bloß aufgeregte Manneskraft verriet, sondern zugleich einen gewissen weiblichen Zug des Charakters, ein reizbar-ungeduldiges, schmerzhaft-sehnsüchtiges Element, von welchem die Erweichung und Zersetzung dieses tüchtigen Kernes ausgehen konnte, wenn ihm nicht rechtzeitig Genugtuung ward. Und wer bürgte dafür, daß der junge Mann seine tätigen und strebenden Kräfte nicht erschöpfte, eh' er sein Ziel erreichte und dann um so unaufhaltsamer die Beute der weiblichen Seite seiner Natur wurde?

Wie, wenn Moorfeld diesem Retter auf dem Schauplatze seiner Taten begegnet wäre, um ihn selbst wieder zu retten?

Es liegt etwas Herzerhebendes in dem Gedanken, auf eine Existenz außer uns bestimmend wirken zu können! Ja, der sogenannte egoistische Mensch datiert eigentlich erst von da an sein Glück, wo es ihm möglich wird, einem Mitgeschöpf die Richtung zum Glücke zu geben. In neuen Perspektiven erblickt Moorfeld jetzt seine Ansiedlung im Urwald. Welchen Sinn gewinnt ihm dieses Projekt! Sollte es nicht berufen sein, der Ausgangspunkt einer Existenz zu werden, die, einmal in ihrer Wurzel befestigt, gar nicht absehen ließ, in welchen Radien der Palmenfächer ihrer Triebkraft sich ausspannen wird? Können denn überhaupt die neuen Freunde sich je wieder trennen? Benthal, die positive, handelnde Natur mit ihrer tiefen Andacht für das Ideale, Moorfeld, der Idealist, mit seinem tiefen Bedürfnis, sich realistisch zu erfüllen, – begegnen sich diese zwei Charaktere nicht gewissermaßen typisch, und ist nicht die ganze Menschheit hergestellt, wenn sich diese Individuen ergänzen? Welche Wirkungen lassen sich hoffen aus den Anfängen eines so naturgemäßen Bundes! Wahrlich, es wäre auf diesem Boden nicht das erstemal, daß zwei junge strebende Männer Väter einer Stadt geworden sind. Moorfeld brauchte nicht einmal Dichter zu sein, um so weit zu phantasieren.

Romulus und Remus! – Unternehme es, wer sich stolz genug dazu fühlt, die Nachtgedanken unsers Freundes zu Ende zu denken! – Solche Momente sind selbst für die Poesie zu groß. Die Poesie ist die Kunst des »schönen Scheins«, hier ist von schöner Wirklichkeit die Rede. Die Poesie ist die Sprache des Wunsches, hier winkt Besitz. Wir können von dieser Stunde kein Gedicht unsers Freundes überliefern. Er dichtet nicht. Der Dichter besingt die Geliebte: am Brautabend verstummen die Hymnen.

Moorfeld fühlt sich am Vorabend eines Unternehmens, das kein deutscher Dichter je vor ihm begonnen: kein deutscher Vers ist vorbereitet, sich zum Ausdruck eines solchen Inhalts zu erheben. Aber New York und die Rolle des Beschauenden reizt ihn nicht länger. Sein Gedicht ist: daß er unverzüglich zu reisen beschließt.

In diesem Augenblick erlosch die beleuchtete Villa auf New-Jersey, welche bisher der Augenpunkt unsers nächtlichen Träumers gewesen.

Moorfeld stutzte.

Dann aber blickte er am Himmel aus, ob nicht das Licht des Morgenrots anbräche. – –

Am Tage fand ihn Jack – das Bett unberührt – im Fauteuil eingeschlafen.


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