Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Aber jetzt war auch der Tag für Anhorsts Marktfahrt herangekommen. Allerorts begannen die Ernten, und wenn Anhörst die Chance nicht verlieren wollte, so hatte er keinen Augenblick zu versäumen. Er brach auf. Ungern sah Moorfeld ihn scheiden. Anhörst war offenbar, wenn auch langsam, geistig wieder aufgelebt, Moorfeld dagegen meinte an praktischem Sinne ihm näher gerückt zu sein. Es schien ihm wie eine Sünde gegen Natur und Kunst zugleich, den beginnenden Fluß der Melodie jetzt mit einer Pause zu zerhacken. Es war unschön, es war widersinnig. Moorfeld hatte fast das Gefühl, als müßte sich hier etwas strafen, als geschähe den Mächten des Gemütes Gewalt durch die Mächte der Materie. Aber freilich war dieses Gefühl unaussprechlich. Wie sollte Moorfeld die ahnungsvolle Spürkraft des ästhetischen Sentiments in einen so rechtwinkeligen, unvermischten Charakter wie Anhörst hinübertragen? Er schämte sich, die alte Melodie zu variieren: Bleibe bei mir, Max! und darauf lief seine Regung doch wohl allein hinaus. Es war fast rührend, wie Anhorst am Vorabend seines Auszugs mit einem langen, starken Mann vor das Blockhaus gerückt kam, Moorfelden versicherte, das sei weit und breit der zuverlässigste »Knecht«, den er auftreiben gekonnt, und nun treuherzig überzeugt war, er habe seinen Remplaçant gestellt! Da blieb denn unserm Freunde nichts weiter übrig, als dem braven Gesellen glückliche Reise zu wünschen und nur schüchtern hinzusetzen, wenn er etwa in Detroit schon guten Absatz fände, so möge er für diesmal nicht weiter schweifen und hübsch bald wieder heimkehren. Das versprach Anhorst und ging.

Moorfeld stand jetzt in seiner Waldhütte allein. Es fehlte wenig, daß die Schauer des ersten Momentes von neuem über ihn herfielen. Die nächsten Tage und Stunden brachten ihm ganz das bodenlose Gefühl der Fremde wieder zurück. Wie flüchtiger Goldschaum ging von den Dingen seiner Umgebung der Hauch der Gewohnheit hinweg, woran er noch allzu zart gehaftet. Bestürzt wurde Moorfeld inne, daß er nicht mit einem Ruck, wie er schon gewähnt, Herr seiner Situation geworden: – nein! sein Zustand war wie das Treiben in einer Meerenge, und Anprall und Widerprall extremer Stimmungen mußte noch lange hin und her zerren an ihm, bis ihm feste Richtung gewonnen war.

Wer freilich die äußere Lage Moorfelds in diesen Tagen betrachtete, der hätte leicht in einen Spiegel der seligsten Idylle zu schauen geglaubt. Von dem Theater-Apparat des sogenannten »angenehmen Lebens« fehlt wenig oder nichts. Eine elegante Doppelflinte, – ein stattliches Reitpferd, – ein Waldrevier hinter dem Hause, in welchem unser Backwood-Baron nicht nur das Jagd recht, sondern – nach der pfiffigen Version eines modernen Junker-Anwalts – ganz eigentlich die Jagd pflicht hatte, denn sein Wildstand war vor allem reich an Eichhörnchen, welche, wie wir gehört, eine Landplage des amerikanischen Farmers sind. An dieser Jagdpflicht konnte unser Held in Amerika hier vollauf zum Ritter werden. Daneben konnte er mit Zirkel und Winkelmaß in der Hand Baupläne entwerfen, Felder, Gärten, Häuser und Dörfer abmessen, Straßen bahnen, Parks einhegen, kurz das Bewußtsein des Grundbesitzes in tausend hübschen Faltenwürfen sich umlegen und zwischen Projekt und Spiel angenehme Halbträume träumen. Dürstete er nach den Wonnen dichterischen Schaffens – hing nicht das Abendlicht wie eine goldene Harfe dort auf dem Riesenwipfel der Weymouthtanne, dieser Lurlei der Pflanzenwelt, griffen nicht Morgennebel mit ossianischen Geisterarmen durch das Gezack der windungsreichen Lebenseiche, ließ nicht der Mond an weißen Birkenstämmen sein bleiches Silberlicht hängen, zog nicht ein mystisches, wehmütiges Elfengeflüster durch die zitternden Grasrespen der Prärie, und sprach nicht rings um ihn her die große freie Wildnis das Wort aus, das ein fühlender Mensch nur nachzusprechen braucht, um langen Reihen von Geschlechtern und Zeiten unvergeßlich zu bleiben? Ja, die Szene stand. Aber wenn die gefangene Königin ihre fühlende Kennedy auf Augenblicke beiseite setzt, um nach Wind und Wolken ihre Arme zu breiten, so eilte hier der Gesellschafter von Wind und Wolken, von Bäumen und Graswogen wieder und wieder ans Schreibpult in die Arme eines Menschen, selbst eines abwesenden, und aus dem Tiefsten heraus schrieb er an Benthal einst das Wort nieder: Ich bin nicht einsam hier, sondern nullsam! –

In der Tat, so war es geworden. Moorfeld saß in seinem Urwald, und sein liebstes Urwald-Vergnügen war – sein Schreiben an Benthal! Es verging kein Tag, kaum eine Stunde, daß er nicht schrieb. Eine Unzahl von Blättern und Blättchen datiert aus dieser verhältnismäßig so kurzen Spanne Zeit. Wir können sie unmöglich, so wie sie liegen, mitteilen: denn wer sollte sich nicht wiederholen, wer, der so gärend und gierig in sich hineinlebt, sollte ein Gedächtnis dafür haben können, was er geschrieben, wie er's geschrieben, wie oft dieselbe Welle an die nämliche Stelle zurückrollte? Und doch lebt Moorfeld nach außen hin ein so spurloses, stillstehendes Leben jetzt, daß wir, da es einen fortlaufenden Erzählungsfaden nicht zuläßt, gerne in jene Blätter zurückgreifen werden, um Figur und Farbe dieser Tage uns bildlich zu machen. Freilich wird dazu nur die kleinste Auswahl genügen, wenige werden die Dienste aller tun, und indem wir die äußere und innere Landschaft unseres Einsiedlers nur an einzelnen Punkten beleuchten, wird Gemüt und Phantasie es nicht als Abbruch, sondern als sein Recht empfinden, die dazwischenliegenden Partien selbsttätig zu beleben.

Vor allem wollen wir denen, welche im Handeln, nicht im Empfinden Heil sehen, Bericht davon geben, daß Moorfeld nicht in »schöner Muße« allein seinen Genuß suchte. Der Notschrei des Fiebers erscholl jetzt im Lande, und unser Held trug zwar einen adoptierten Namen, doch sein Dr. nicht umsonst davor. Unaufgefordert bot er Nahen und Fernen Hilfe. Leider werden wir belehrt, daß auch die Tat des Tätigen nicht Zufriedenheit gibt, wo der Boden fehlt, das Schöne schön zu empfangen.

Beginnen wir in seinen Aufzeichnungen unsre Lese:

*

Es ist Hochsommer, das ganze Land liegt im Fieber. Ich reite weit und breit herum und bin, wie man sagt, nützlich: Aber ich habe keine Freude daran. Der Amerikaner versteht den europäischen »Rettungsengel« nicht. Er honoriert ihn mit seinen Dollars, und wenn's der Engel ausschlägt, so hält er ihn für einen Simpel. Oder es kommen die giftigen Kannegießer und Medisance-Pächter, die auch bei der dünnsten Urwaldsbevölkerung in diesem Claquen- und Cliquenlande nicht fehlen, die stecken die Köpfe zusammen und munkeln: Was will der Kerl? gebt acht, der will was. Er macht Partei für die Dutchman, er ist ein Papist, er bringt die Cholera ins Land und ähnlichen Unsinn. Und dann – hab' ich am Ende doch die Arzneikunst verlassen, weil ich Poet bin und der Anblick der leidenden Materie den Geist zu Boden drückt, statt ihn zu erheben. Bin ich nach Amerika gegangen, um dunstige Bettdecken aufzuheben und belegte Zungen zu sehen, – dieselben Zungen, deren geübteste Muskelbewegung das »damn'd Dutchman« ist? So komme ich oft abends nach Hause – mit einer langen Schatten-Queue von Melancholie hinter mir her, ich könnte zehn Schlemihls damit versorgen und bin am Ende selbst einer.

*

Das ist deutlich. Aber vollends ins Zerrbild gezogen fand Moorfeld den Wert seines guten Willens, wenn er auf demselben Gebiete frivolstem und frevelhaftestem Unwert begegnete und die Affenliebe amerikanischer National-Eitelkeit kein Hehl hatte, was für ein Prinzip sie hielt und begünstigte. Wir lesen: Am Krankenbette Mr. Gulls, des County-Clerks zu New Lisbon traf ich heute mit einem wandernden Arzte zusammen. Zur Zeit der Fieber sind nämlich die Schüler Äskulaps hierlandes stark unterwegs, indem sie in dünn bevölkerten Strichen von Farm zu Farm, von Städtchen zu Städtchen ziehen und den gesteigerten Bedarf bei äußerst unzureichender Lokal-Deckung durch das System der Ambulanz befriedigen. Gerechter Gott, was nennt sich hier Arzt! Ich sah einen Burschen vor mir mit einem Busineß-Gesicht, wie man sie, die Hand in der Hosentasche, den Yankee-Doodle-Pfiff auf den Lippen, beim Wollballen, beim Pferdehandel, bei der Mock-Auktion, kurz in allen Branchen der Dollar-Macherei stereotyp findet. Ein Ausdruck von Leichtsinn und Unverschämtheit lag auf diesem Gesichte, der mich schaudern machte. Die Art, wie sich der Mensch um den Zustand des Kranken erkundigte, verriet mir, daß er die medizinischen Kenntnisse ungefähr so besaß, wie ein Bücherverleiher die Literatur-Kenntnis. Es waren leere Repräsentations-Fragen, womit er ein Viertelstündchen ausfüllte, um sodann eine exorbitante Dosis China zu verordnen, welches Medikament er aus seiner mithabenden Apotheke in möglichst großen Quantitäten gegen möglichst viele Dollars zu verabfolgen, offenbar für seinen Hauptberuf hielt. Ich sah dem Treiben in laienhafter Verwunderung zu. Noch hatte ich keinen Begriff von dem ganzen Umfange der Schlechtigkeit, deren Verkörperung vor mir stand. Beim Anblicke seiner Chinarinde, die überdies zu der schlechtesten Sorte gehörte, bemerkte ich daher, – bloß auf die Empfehlung und Ausbreitung des Guten bedacht – daß sich Amerika, wo dieses Medikament eine so große Rolle spiele, mehr und mehr den Gebrauch des Chinins aneignen sollte. Es sei freilich eine teure Arznei, aber man erspare dem Kranken die Verdauung vieler nutzloser Stoffe, indem man die größere Masse der Chinagabe auf das Volumen des eigentlich Wirksamen reduziere, auch setze Chinin uns in den Stand, mit genau bestimmbaren Gewichtsmengen auf den Körper zu wirken, während in demselben Gewichte der Chinarinde sehr wechselnde Mengen des. wirksamen Stoffes vorhanden seien. Der Humbuger erblickte mit einiger Bestürzung einen Fachmann in seinem Bereich, faßte sich aber sogleich und antwortete schnell: Ganz Ihrer Meinung, ganz Ihrer Meinung, Herr Kollega; nichts über Chinin, ja wohl, Chinin, – good, very good! ganz Ihrer Meinung. Aber, setzte er mit gedämpfter Stimme, mich an das Fenster ziehend, hinzu – verdammter Unsinn wär's, Mister, für mehr Geld weniger Arznei zu bieten. Die Leute wollen das Maul recht voll. Ich entzog mich kalt dieser empörenden Vertraulichkeit und sprach von der Würde der Therapie. Überdies, fuhr ich fort, – denn meine Beobachtung des Kranken hatte mir inzwischen sehr deutliche diagnostische Resultate geliefert, – überdies sollte es scheinen, daß hier vor allem anderen Aderlässe indiziert seien, welche bei der hohen Expansion des Blutes, den gewaltigen kongestiven und entzündlichen Affektionen, sowie der bedeutenden Hirnerregung, deren Symptome wir offenbar vor uns haben, jedenfalls der China vorauszugehen hätten, wenn anders von einer rationellen Behandlung die Rede sein sollte. – Gewiß, gewiß, antwortete der Äskulap so rasch und heimlich wie zuvor, aber die Leute hier glauben, nur das Geben kuriere, nicht das Nehmen. Und lauter setzte er in einem ganz andern Tone hinzu: Ich habe über Blutentziehung meine eigenen Ansichten, mein Herr. Blut ist der Träger der Lebenskraft, wie wir wissen; das Heilbestreben der Natur liegt vorzüglich im Blute, es äußert sich am kräftigsten und wirksamsten durch dieses. Mit welchen Waffen sollte die Natur den Krankheits-Dämonen bekämpfen, wenn nicht mit dem Blute? Das Blut ist gewissermaßen das ganze aktive Vermögen der Natur; um dem Bankrott, d.h. dem Tode zu entgehen, kann sie die Passiva, d.h. die Krankheit nur allein aus der Blutmasse decken. Das ist klar. Auch wissen wir ja, daß die neueren Schriftsteller unsrer Wissenschaft von der Theorie der Blutentziehung mehr und mehr zurückkommen. – Mir stand der Verstand still. In der Verlegenheit, daß Worte nicht Haselstöcke seien, fehlte mir einen Augenblick lang das Wort. Einzig im Interesse des Kranken verschonte ich ihn mit einer Szene, die er verdiente, und beschränkte mich darauf, mit äußerster Kälte zu antworten: Was immer der Wert des Blutes sei, es sei zunächst wert, daß der Heilkünstler es kennen lerne. Was neuere Schriftsteller über Aderlässe in remittierenden Fiebern sagen, empfehle ich ihm nachzulesen bei Shapter, bei Irvine und Burnett, bei Esmarsch in Hufelands Journal, Band sechsundsiebenzig, Heft sechs, Bericht über die Marsch-Epidemien zu Eiderstädt aus den Jahren achtzehnhundertsiebenundzwanzig bis -neunundzwanzig, was hoffentlich »neu« heißen wird. Diese neueren Autoritäten hätten den letalen Verlauf des Fiebers nur durch Öffnen der Adern verhindert, Burnett selbst durch die der Arteria temporalis. – Der Papagei plapperte sogleich, wie folgt: Arteria temporalis; ja, ja, ich kenne sie wohl, die Arteria temporalis. Aber ich rate, mein Herr, die zeitliche (!!) Arterie würde bald eine ewige sein, wenn ich sie öffnete. Darum nenn' ich auch die Dinge beim rechten Namen und nicht lateinisch. Ich verschmähe es, mein Herr, vor Laien lateinische Ausdrücke zu gebrauchen, sei's in Wörtern oder in ganzen Phrasen; ich halte es für unpassend, für gelehrtes Übernehmen. Sonst bediene ich mich wohl auch dieser Sprache der Wissenschaft, und zwar so gut wie einer, aber aufrichtig gesagt – nunquam opinavi, ut lingua latinum aliquot est, quod maladum potest sanare.

Ich brauche Dir nicht zu sagen, wie wir noch weiter auseinander kamen, und wie ich meine Pflicht, Diebstahl und Meuchelmord vom Hause des Mr. Gull abzuhalten, zu erfüllen bestrebt war. Es gelang mir nicht einmal. Frau, Töchter und Sohn ließen mich nicht undeutlich merken, zu welcher Partei sie standen, denn der Ruf des Doktors Meakhead sei ja ein weltbekannter, und man habe längst gewünscht, er möchte in hiesiger Gegend sich bleibend niederlassen, was, wenn auch nicht so lukrativ für ihn, doch für die Wissenschaft desto wünschenswerter sei, denn bei einem stetigen home (eine der Misses errötete) könnte er mit mehr Bequemlichkeit als jetzt »Lehrlinge« annehmen und seine Kunst weiter verbreiten.

Also dieser Mensch wird noch »Lehrlinge« annehmen! Nun, ich bin ja ruhig. Denn viele Dinge können einen hier verwirren und in Widerspruch setzen; aber der blanke einfache Totschlag ist bis zur Erquickung faßlich. Und siehe! jetzt weiß ich auch, warum die Einwanderung nach Amerika im Plane der Vorsehung liegen muß. Ohne sie würden die Amerikaner innerhalb einer Generation von ihren Ärzten ausgerottet sein. Du kannst mir diesen Satz keck nachschreiben, wenn Du wieder über Amerika schreibst. Sogar durchschossen oder mit fetter Schrift. Ich verantworte ihn.

*

Wir finden es gewiß menschlich, wenn Moorfeld den Beigeschmack der Bestie, der unter diesen Umständen seinen ärztlichen Tugendübungen beiwohnt, nicht beseligend genug findet, um ihn – quand meme! zu suchen. Diese Art Tätigkeit war ihm verleidet. Er zieht sich wieder dumpf auf sich selbst zurück oder widmet die besseren Kräfte seines Herzens fast ausschließlich auf seine »Flucht nach Ägypten«.

So nenne ich nämlich – schreibt er – die kleine westfälische Familie des Vaters Ermar. In der Tat, Annette ist wie ein weibliches Jesus-Kindlein, ihre Eltern entfernen sich nicht allzusehr von einem Joseph- und Maria-Modell, und auf der Flucht sind sie auch, denn es liegt ein so elegischer, heimatloser Hauch über diesem Hause – Du solltest diese Luft hier atmen! Man sieht den Deutschen überhaupt nur in zwei Formen diesseits des Ozeans: entweder Renegaten-Fratze, hyper-yankeesiert, oder –

»Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hieher!«

Zeitlose Herbstwiesen-Blumen, auch unter dem fließendsten Sonnenstrahl von der Ahnung durchschauert: wir sind der Vergänglichkeit geweiht, wir gehören nicht in die Welt! Aus dieser Flora sind meine Westfälier!

Der Mann hält an sich, stockt und trotzt. Soviel ich errate, hat er schwere Verluste erlitten, ist viel betrogen worden; aber keinen Augenblick öffnet er den Mund, zu klagen darüber. Nicht den Yankees schreibt er's zu, sich selbst. Er fordert ohne weiteres von sich, er hätte als Mann den »Bubenlisten« gewachsen sein sollen. Daß die Büberei ein großes ausgebildetes System, daß sie »Industrie« ist, darüber fehlt ihm jede Anschauung. Er sieht nur den einzelnen Clerk, den einzelnen Mäkler. Mann gegen Mann, meint er, sei alles gekommen. So liegt er offenbar noch gegenwärtig in den Netzen der Blutsauger, ohne es zu wissen, ja, ohne es wissen zu wollen. Seine Farm ist hundert Acres groß, die er scheinbar zu einem billigen Preis überkommen. Aber nur zehn davon sind geklärtes Land, die übrigen neunzig Waldboden. Denn das ist einer jener unzähligen Kunstgriffe der Land-Jobberei, eine kleine Parzelle urbaren Bodens nie apart zu verkaufen, sondern stets mit einem große Zuschlag von Waldboden. Nach geklärten Parzellen aber geizt jedermann, da das Klären ein furchtbares, Gesundheiterschütterndes und bei verfehltem Erfolg oft die Existenz einer ganzen Familie gefährdendes Unternehmen ist. So hat nun Ermar von seinen zehn urbaren Acres nicht nur seinen Lebensunterhalt zu ziehen, sondern auch die Zinsen für die neunzig übrigen Acres aufzubringen, und der übliche Zinsfuß ist hier 12 bis 20 Prozent! Sein Kaufkontrakt aber lautet so, daß er Teile des Grundstückes nicht wiederverkaufen kann, bis das Ganze bezahlt ist, selbst wenn ihm eben dazu der Erlös mehr als reichlich verhülfe. Es bleibt ihm also nichts übrig, als die neunzig Waldboden-Acres nach und nach abzuklären und aus ihrem Ertrag den Kaufschilling zu tilgen, wenn er ihn als Zins nicht zehn- oder hundertfach inzwischen zahlen will. Das Klären geht aber so leicht nicht ohne fremde Beihilfe, und diese unterliegt gleichfalls wieder den Manövern der Landspekulanten. Denn kaum ist der Knecht oder vielmehr »hand« auf solch eine Hof stelle zugezogen, so währt es nicht lange und irgendein unschuldiges Ding, das ein wandernder Hausierer, Arzt, sogar Seelsorger zu sein scheint, in Wahrheit aber ein Agent der allgegenwärtigen Landspekulation ist, – ein solcher Emissär spricht dann auf dem Hofe ein, nimmt den Knecht beiseite, was er doch für ein Tor sei, auf dem freien Boden Amerikas in einem Dienstverhältnisse zu leben, er könne sein eigener Herr sein, man wisse ihm hier und dort eine hübsche Lokation, Geld brauche er nicht, der Boden überfließe von Fruchtbarkeit, er könne schon mit den ersten Ernten den Kaufschilling herausschlagen usw. usw. Der Unselbständige geht natürlich mit Freuden in diese Falle der Selbständigkeit, läßt sich einen geschickt geknüpften Kaufkontrakt über den Kopf netzen und ist nun kein Knecht mehr, – nämlich kein Farmersknecht, sondern ein Fronknecht der Landkapitalisten. So bestocken diese Vampyre weite Landstrecken mit sogenannten freien Grundbesitzern, die aber alle ihre gedrücktesten Leibeigenen sind. In diesem Systeme der Exploitation ist nun auch mein steinstarrer Westfale befangen. Er fühlt, daß ihm der Genuß des Lebens dabei fehlt, daß er mit eisernem Fleiß nicht von der Stelle rückt; aber er meint, er könne immer noch eiserner sein. »Da stehe der Mann vor! bete und arbeite!« sagt er, und das übrige sperrt er in sich hinein und keine Seele hat Schloß und Riegel dazu. Es ist etwas Turmhaftes um den echt deutschen Mann, um seinen Selbstbegriff, um seine Forderung an sich, und – um seine Beschränktheit! Der Mann zieht mich an in seinem Charakter; aber will ich wirken auf ihn, so kann ich's nur durch die Frau.

Ich strebe nämlich danach, die Lage dieser Familie, laß mich den knuffigen Ausdruck gebrauchen – zu entamerikanern. Zunächst handelt es sich darum, das Grundstück freizuzahlen, was eigentlich keine Aufgabe ist. Da es aber dann aus einem zehrenden erst in ein müßiges Kapital verwandelt ist, so handelt es sich ferner darum, ihm einige tüchtige und vorzüglich treue Knechte zu werben, die es ihm klären helfen. Dazu kannst Du vielleicht Hand bieten. Und endlich kommt es darauf an, ihn zu bewegen, das alles – anzunehmen. Hier liegt wahrscheinlich die unüberwindlichste Schwierigkeit. Er wird stolz genug sein, einen Vorschlag zurückzuweisen, er wird eigensinnig genug sein, Knechten, die er nicht selbst gewählt hat, zu mißtrauen, ja, den ganzen Wirtschaftsplan, den er nicht selbst erzeugt hat, kurzweg abzulehnen. Hierin hab' ich es nun mit der Frau. Sie soll mir helfen, ihn vorzubereiten, ihn zugänglich zu machen. Die Frau ist über diese Sachen vernünftig, wie in der Regel die Frauen, nur fehlt es ihr fast gänzlich an Selbständigkeit. Auch glaube ich ihr tiefer auf der Seele Grund zu schauen und – diese Seele ist mit ihren zartesten und festesten Fasern noch in Deutschland. Sie erschrickt eigentlich vor meinem Projekte. Es tut ihr weh, mit diesem Boden sich tiefer einzulassen. Ihr Verstand möchte wohl, aber das Herz dazu fehlt.

Dieser Zug nach der Heimat ist's, was mich auch an dem Kinde, an der kleinen Annette, rührt. Natürlich, daß sie die Heimat nur unter dem Symbol des – Spielzeugs in sich trägt. Ihr Spielzeug aber waren Blumen. Sie hatte »zu Hause« ein paar Ellen Gartenland, das ihre »Grafschaft« hieß, und das, sooft sie den Eltern eine besondere Freude gemacht, um ein paar Spannen vergrößert wurde. Die Grafschaft avancierte nach und nach zum Fürstentum, Großfürstentum, Herzog- und Großherzogtum, und eben war es daran, Königreich zu werden, als »der Hof« verkauft wurde und sie ans große Wasser reisten. In diesem schnell entwickelten Staatsgebiete nun zog sie Blumen. Wenn sie darauf zu sprechen kommt, so glaubt man einen Fürsten zu hören, der seine Souveränität verloren. Ich finde sie auffallend bewandert in dem Bereiche der Botanik, das sie dabei umspannte. Sie zeigt einen fein unterscheidenden und individualisierenden Sinn für diese Seite des Naturlebens, sie scheint ihre Blumen-Stöcke und -Büsche mit einer Aufmerksamkeit, ich möchte sagen mit einer Geschwisterlichkeit gehegt zu haben, wie ich es einer kleinen Annette auch tausendmal eher glaube als einer heiratsfähigen Sakontala. Wohlan, ihre Grafschaft kann sie freilich hier wieder haben, aber ihre Blumen nicht mehr. Die sind ihr verwandelt in fremde, duft- und gemütlose Schaustücke, die keinen Anspruch an ihre frühere Liebe haben. Als sie mir zum ersten Male dieses Leid klagte – doch nein! ich kann nicht einmal sagen, daß sie klagte; sie sprach bloß von Unterschieden, sie kontrastierte bloß, nach ihrer Art, die deutsche und die amerikanische Flora: aber die Wahl ihrer Ausdrücke, die Mittel, sich deutlich zu machen, Ton, Mimik, die ganze Schwingung ihres Naturgefühls gab einen so elegischen Klang, daß mich die bitterste Wehmut dabei ergriff. »Das ist ein Traubenkropf, hier steht Hartheu, dort Schafgarbe, dort Weidenröschen am Sumpfrand der Wiese; aber sehen Sie, wie verelendert das alles am Boden kriecht! Und wie sie bei uns zu Hause in die Luft wachsen! Es ist wie eine Schule, wo die einen in der Strafe stehen, die anderen haben Fleißzeichen bekommen und sind lustig.« – »Haben Sie im Frühling den Goldlack gesehen? Er riecht nicht und hat auch kein Gold; er ist bleich und garstig – wie ein Spielzeug, von dem die kleinen Kinder die Farben abgeleckt haben.« So steht sie, wie eine Heliotrope nach der Sonne ihrer Heimat gewendet, verliert kein Wort der Sehnsucht, und ist nichts als die Sehnsucht verkörpert. Ein Blumenkelch voll ungeweinter Tränen!

Das Kind geht vor mir herum wie eine Monade von mir. Nicht Muskel, Nervengeist. Reines, passives Gefühl dessen, was bei uns als Bewußtsein, als Geist- und Leibeskraft seine Wellen schlägt. Welch ein Zauber dieses bescheidene, unschuldige Leiden! Wir beflecken mit unserm Haß die Welt, die unsere Ideale befleckt. Dieses Kind – laß mich den neuen Ausdruck gebrauchen – haßt platonisch, wie man platonisch liebt, d. h. sie erwidert das Häßliche nicht, sie empfindet es bloß.

Ich nenne sie mein Schwesterchen, da ich sie nicht meine Monade oder Psyche nennen kann. Sie sollte mich Bruder nennen. Das ging dem westfälischen Hartkopf erst nicht ein, zuletzt erreichte ich doch, daß sie mich Herrn Bruder nennen darf. Die Hauptsache ist, daß wir uns duzen. Ich kann mich von der Vignette meines eignen Ich nicht »Sie«, oder gar »Herr Doktor« anreden lassen.

*

Mein braver Anhorst! Was er mir diesen Knecht, den Schottländer Adin Ballan, mit Sorgfalt ausgesucht hat! Und wie undankbar bin ich! Der Mann ist fleißig, nüchtern, treu, wachsam, exemplarisch bis zur naturhistorischen Merkwürdigkeit. Seine Tugenden gehen wie eine Uhr. Er hat keine Bedürfnisse, keine Wünsche, keine Genüsse, – man kann ihn mit nichts glücklich machen. Ein Priemchen Tabak, ein Quart Zider und gerösteter Speck – für diesen Preis hält er die Erde aus. Das ist heute wie morgen der Uhrschlüssel, womit er aufgezogen wird. Nichts drüber. Nie! Meine feinen Rumflaschen könnten ebensogut mit Sand gefüllt sein. Wie oft bot ich ihm davon, in der Absicht, ihm die Zunge zu lösen, denn er ist zu seinen übrigen Tugend-Lastern so gesprächig wie ein Fischteich. Umsonst. Selbst in Gesellschaft hält er nicht mit. Unlängst hatte ich den Tischler Rapp zu einer Bowle Punsch gebeten, und ihn ein paar wackre Bekannte mitnehmen lassen. Wir waren aufgeweckt wie das Salz der Erde; mein Ballan aber trank sein Quart Zider, und absolut nichts weiter. Er ist nicht Temperance-Mann, er bildet sich keine Krankheit ein, die Enthaltsamkeit ist eine Art Monomanie bei ihm. Er ist ein Mann in den mittleren Jahren, hat einen Sohn in den Kohlengruben von Newcastle verloren und seine Frau auf der Überfahrt. Unglück genug, um eine Anlage zur Melancholie auszubilden. Er ist aber auch nicht melancholisch. Möglich, daß er es war und auch dieses Stadium schon überwunden hat; wenigstens kannt' ich als Knabe einen Siebenbürger Sachsen, der im Hause meiner Eltern öfter von seinen traurigen Lebensschicksalen erzählte und stets damit schloß, wie gefaßt er sei und wie christlich er überwunden habe. Ich erinnere mich deutlich, wie peinlich mir der Mann war. Daß man nach seinen Schicksalen, anstatt wahnsinnig oder tot zu sein, mit Leinwand handeln könne, verwirrte und demütigte mein eigenes Mensch-Bewußtsein. Bei meinem Schotten spekulierte ich anfangs auf Ossian und alte Balladen – und es war mein krassester Fehlschluß, den ich getan. Er sagte, in seiner Jugend habe er wohl zum Dudelsack gesungen. Er sagt' es in einem Ton, als ob ohne Jugend und Dudelsack so wenig Schall im Menschen wie in einem ausgeweideten Leib. Auch meine Geige machte ihm keinen Eindruck. Es scheint, Musik sind ihm nur die schrillen, schnarrenden Klangfarben – Klarinette, Dudelsack. Welch' ein Gesellschafter für mich! Der brave Anhost! Hätt' er mir einen liederlichen, aber lustigen Irländer zugebracht, – meine Rumflaschen würden leerer, aber meine Einsamkeit voller. Welch eine Gesellschaft!

*

Und wenn ich nun nachts im Bette liege und aufwache und mich besinne, ich bin in Amerika, dem Lande meiner langen, alten Sehnsucht, so komme ich mir vor – wie eine ägyptische Mumie, die unter Mehmet Ali die Augen aufschlägt! Seit ich in den Hafen von New York einlief, dünkt es mir Jahrtausende und doch – wenn ich einen tüchtigen Brocken, einen guten Schluck Lebensgefühl haben will, kann ich nur daran anknüpfen, und alles Dazwischenliegende ist verdünnt! so unsättlich! Wenigstens in der hohen Erregbarkeit einer schlaflosen Nacht. Ja, mitten in der Finsternis, wo ich nichts sehe, empfinde ich die Fremde noch weit empfindlicher als am hellen, bildervollen Tage. Die feineren Sinne kommen dann ins Spiel. Denn das ist richtig, die Nacht hat ihren Geruch, ihre Akustik, wie der Tag; nur sind die Sinne dafür schärfer, etwa wie die eines Blinden. Wach' ich in Europa aus dem Schlafe auf: ein bellender Hund – ein Hahnschrei – ein Flämmchen im Nachbarhause, – ein Posthorn auf der Landstraße – den klassischen Nachtwächter nicht zu vergessen, – das alles hat seine eigene, dem Gemüt fest verwachsene Staffage. So atmen, wie bekannt, auch die Pflanzen stärker des Nachts, und der eigentümliche Geruch eines ganzen Landes, ja Weltteils, kann nur in der Nacht vernommen werden. Es geht ein schwärmerischer Zug durch die europäischen Nächte, eine zaubervolle, geistige Hellseherei, – was sind sie denn sonst, die Elfen, als diese spielenden körpergewichtslosen Regungen? Hier dehnt die Nacht nicht aus, sie drückt zusammen, ist kalt – schrill – hart. In meinem Kamin bläst sich eine Kröte auf, in den Wandspalten des Blockhauses klemmt sich eine Natter ein und pfeift in Todesangst, – das sind die Nachttöne, die mich hier wecken. Ich stiere zur Fensterluke hinaus, ob die Sonne Homers schon komme oder die rosenfingerige Eos, und im Finstern, statt kühlender, weichwehender Lindenschatten, glotzen mich verkohlte Baumstrünke an. Und nebenan schläft mir der Schottländer und träumt von dem erstickten Sohn im Kohlenschacht und von der versenkten Leiche seines Weibes am Meeresgrunde, wacht auf, und – schweigt! Ach! ich werde Opiate nehmen müssen. Dormi, che voi tu più!

*

Jetzt, nach der Erntezeit, wird's geselliger. Für unsere Gegend ist ein Campmeeting angesagt, das allernächst seinen Anfang nehmen soll. Auch die »Frolics« mehren sich jetzt, d. h. Fröhlich- oder Lustbarkeiten, namentlich in den deutschen Bezirken. Zu einem solchen Frolic ritt ich vorgestern nach Pennsylvanien hinüber. Noch sind mir alle Glieder zerschlagen, – nicht nur des Leibes, der Seele noch mehr.

Der Schauplatz der ländlichen Orgie war mitten in einem der wildesten Waldstriche, denn Wald und Wildnis starrt noch überall, und selbst nach kürzestem Aufenthalt in Amerika kommt man bald dahinter, daß die sogenannten alten Kulturstaaten noch immer Einöden sind, wogegen die rheinische Eifel, oder der ungarische Bakonyerwald an wahrer Überbevölkerung leiden. Erst hier im Hinterlande merkt man, was New York oder Boston für große Lügen sind, – ungefähr wie Petersburg und Odessa. Auch die Straßen, – man ist bei mir zu Hause an der untern Theiß eben nicht verwöhnt in diesem Artikel, – aber auf meinem ganzen Ritt fand ich keine einzige Wagenspur. Wenn das keinen Schluß auf Geisteskultur zuläßt, so gibt's keine Logik.

Aber freilich, Geist zu sehen, war ich nicht ausgeritten. Und ich fand ihn auch nicht. Gott ist mein Zeuge! Das Erntefest ging in einer Kneipe vor sich, zu der ein Kramladen gehörte – Store mit Privat-Entertainment. Da mir unterwegs weit und breit keine Bauernfuhr aufgestoßen, so schloß ich, daß der Spektakel schon angefangen. Und so war es. Als ich mich dem Neste näherte, schlug mir von Musik und Stimmen ein Lärm daraus entgegen, der nicht mehr abscheulicher sein konnte. Die Leute hier haben eine Art zu jauchzen, so barbarisch, so fremdartig, daß ein Europäer ganz außer Fassung gerät. Ich vermute, diese eigentümlichen, nicht zu definierenden Schreie sind dem Kriegsgeheul der Indianer entlehnt. Wenigstens findet man sie durch ganz Amerika; auch jene Schiffsgesellschaft, die mich auf dem Susquehanna so unvergeßlich molestierte, stieß genau die nämlichen Mißtöne aus. Es ist ein schrilles, blutrünstiges Gellen, wie von befriedigter Mordgier. Man begreift die Gemüter nicht, die den Naturlaut der Freude daran finden. An steierische Alpenjodler darf man nicht dabei denken.

Die Waldherberge schwitzte aus allen Fugen vom Andrang eines verehrungswürdigen Publikums und weit und breit standen die Equipagen umher. Ich sah bunt durcheinander Wagen und Karren, mit Pferden, Ochsen und Kühen bespannt, dazwischen Fuhrwerke, von denen sich die Schulweisheit eines Offenburger Stellmachers nichts träumen läßt. Über allen Ausdruck wild war aber der Anblick der Menschen. Männer, Burschen, Knaben und Frauen wimmelten, kaum unterscheidbar, in Anzügen umher, von denen sich schwer eine Vorstellung machen läßt. Ihre Röcke und Hosen, ihre Mäntel und Jacken waren aus selbstgewebtem Tuche selbst zusammengeschneidert, mit Flicken und Flecken übersäet, von Farben oder Mustern, was sag' ich, oft von der Grundform des Kleides selbst keine Spur. Kappen aus selbstpräpariertem Pelze von wilden Katzen, selbstverfertigte Schuhe aus wilden Tierhäuten, hohe Wasserstiefeln, indianische Mokassins, phrygische Mützen und Karbonari-Mäntel der jüngsten Emigration, – das alles mischte sich zu einem sinnverwirrenden Höllenbreughel untereinander. Die Gesichter blickten verwittert, verwildert, vertiert mitunter, und ließen mich häufig, unterstützt zumal durch die zigeunerhafte Unbestimmtheit der Kleidungsstücke, zwischen männlichen und weiblichen irren. Desto merkwürdiger scharf zeichneten sich die Nationalitäten. Der spintisierende Amerikaner, der phlegmatische Deutsche, der heißköpfige Irländer wurden auf den ersten Blick herausgefunden. Ebenso bestimmt erkannte man die Neueingewanderten von den alten. Und da leugne noch einer die transatlantische Entartung der Rassen! Die geknechteten Europäer sahen wie geistige Menschen, die freien Amerikaner wie verdummte Heloten.

Ich betrat den Tanz-Salon. Es war ein langer, schmaler Kasten, rauh gedielt, vierwändig-kahl und durch nichts ausgezeichnet als durch die Art, wie das Orchester angebracht war. Das Orchester bestand aus zwei Künstlern, Onkel Tom und Onkel Jim, d. h. Negern, welche hier überall die Rolle der Dorfmusikanten spielen. Aus Raumersparnis nun hätte man dieses Götterpaar auf ihren Sesseln, wie in Vogelbauern, oben an die Wand aufgehängt, indes ihre verehrlichen Beine über den Köpfen der Tänzer baumelten. Bei diesem Anblick ergriff mich eine Art satirische Begeisterung; ich hätte für nichts in der Welt es unterlassen, auf dem Frolic jetzt mitzutanzen. Die deutschen Farmerstöchter waren gigantische Schönheiten: Rosen und Rosetten, ohne Zweifel, aber aus Stein gehauen, wie am Stephansturm oder Straßburger Münster. Ich forderte eine dieser ziegelroten Grazien auf, und tanzte – was? weiß ich bei Gott nicht! Die Aufgabe ist gar nicht so leicht, Takt und Rhythmus jener Valse americaine oder vielmehr africaine zu beschreiben, die wir zu Banjo und Pikkolo-Pfeife der zwei Neger hopsten. Doch brachte ich die Tour mit Ehren zu Ende, ein Beweis, daß ich viele Anlage zur – Barbarei habe. Ich suchte sodann meine Schöne nach schwachen Kräften zu unterhalten und bei der Gelegenheit möglichst viele ethnographische Notizen einzuheimsen. Settchen war in Amerika geboren und verstand doch kein Wort englisch. Das machte mir anfangs deutschtümelnde Freude, die aber bald gedämpft wurde. Denn sie wußte auch von Deutschland nicht mehr, als daß es hinter einem großen Wasser liege und Bremen die Hauptstadt davon sei. Auch wußte sie noch, daß die »Deutschländer« nicht einen König hätten, sondern sehr viele. Von der Schlacht von Leipzig aber wußte sie nichts. Den Namen Napoleon hatte sie nie gehört. Ich schauderte bei mir, indem ich an Annette dachte. Ich will alles tun, das feine Kind vor solcher Verwilderung zu retten. – Desungeachtet war Settchen zur Schule gegangen, und zwar, wie ich mit Erstaunen hörte, besuchen die Farmerskinder ihre Waldschulen bis in das Alter hinauf, wo sie heiraten, was fast unmittelbar von der Schule weg geschieht. Auch für die Burschen gilt das. Freilich währt der Schulgang nur drei bis vier Monate im Jahre, und die Lehrgegenstände sind einzig: Bibel und amerikanische Geschichte. In letzterer war Settchen genau bewandert. Den Unabhängigkeitskrieg z. B. kannte sie so im Detail, als ob jedes Vorpostengefecht wichtiger als die Schlacht bei Leipzig gewesen wäre. Verdammte Prahlsucht dieses Volks, das alle Geschichte zu verachten affektiert, nur nicht sein eigenes Geschichtchen! Den deutschen General Steuben hingegen kannte sie wieder nicht. So redigiert der Yankee seine Schulbücher! Ich knirschte. Settchen knirschte auch, aber in ihre Pics, was eine Art schlechter Obstkuchen ist, die sie mit erstaunlichem Appetite verzehrte. Dazu trank sie Quantitäten von Zider, daß mir nichts übrig blieb, als sie in stiller Andacht zu bewundern.

Das Depot dieser Genüsse war der Storeladen, der unmittelbar mit dem Tanzlokal in Verbindung stand. Er hatte sich heute zu einer Art Büfett travestiert, ohne daß es indes möglich gewesen wäre, die verschiedenen Talg- und Butterfässer, Tabakkisten, Wollballen, Kohlesäcke usw. usw. in eine rücksichtsvolle Entfernung zurückzudrängen. Sie wurden indes sehr sinnig als Tische und Bänke benutzt, an welchen alles schmausend und zechend »umhergegossen« lag, was das Tanzvergnügen nicht teilte. Es waren ungemein plastische Gruppen. In der Menge fielen mir auch zwei »Gebildete« ins Auge, und siehe da! eine derselben war eine mir bekannte Gestalt. Es war der junge Apotheker Poll aus Kleindeutschland. Er trug nicht mehr sein fadenscheiniges Samtröckchen, klagte auch nicht mehr über die unverdauliche amerikanische Küche und schien überhaupt seinen Geschmack mit den Reizen des Hinterwaldes in Einklang gesetzt zu haben. Der andere war sein Prinzipal, Doktor Althof, an den du ihn damals empfohlen. Diese zwei Stadtröcke unter den rauhen Waldjobben leuchteten mir wie freundliche Heimatsterne. Wie armselig belügt sich doch der Stubenpoet, der Waldbrünnlein und Köhlerhütte über die Kultur setzt! In diesem Storeladen hier schlug der Kontrast ganz anders aus.

Denn als ich, da es inzwischen Abend geworden, mit dem Storekeeper über mein Nachtlager verhandelte, erklärte mir der Mensch, daß ein Bett für mich allein eine Forderung wäre, auf die er nicht wohl vorbereitet sei. Er könne mir ein Bett nur mit Gesellschaft »einiger anderer« zusichern, aber, sagte er naiv, »im Parterre rückten ja auch Fremde aneinander, warum nicht im Bette?« Gestehe doch der Stubenpoet, daß unter diesen Umständen die Aussicht auf zwei gekämmte Schlafkameraden mindestens kein verächtliches Kulturgelüste war.

Übrigens beschlossen wir drei die Nacht zu durchwachen; der Doktor war ohnedies als Reserve da und hatte seine Bandagen, Charpien und Vomitive nicht unnütz mitgebracht. Er erwartete die Nacht über Prügel und morgen Indigestionen.

Wir machten etwas vom Hause weg eine Promenade am Waldsaum hin und tauschten aus, was Europäer bei solchem Begebnis sich zu sagen haben. Ich erzählte mein Rencontre mit dem Fieberdoktor nunquam opinavi und wiederholte meine Ansicht über den Untergang der amerikanischen Nation durch ihre Ärzte – und Apotheker, setzen Sie hinzu! fiel mir der Doktor sogleich bei; – Sie wissen, daß der Handel mit Medikamenten nach amerikanischem, leider auch englischem Rechte frei ist. Was nun die Ärzte übrig lassen, vergiften die Apotheker vollends. Von pharmazeutischen Studien ist bei den sogenannten Apothekern nirgends die Rede; sie sind einfach Materialisten und Drogisten. Wie diese Menschen, – entlaufene Schuljungen, verdorbene Schneider usw. – ein ärztliches Rezept malträtieren, darüber könnte ich unglaubliche Details niederschreiben. Bei mir zu Gadshill begegnete es einmal – als ich den jungen Poll noch nicht hatte – daß mir so ein Drogistenschwengel willkürlich einen versus strich und mit einem andern ersetzte. Das hat Mr. Althof wohl nicht recht verstanden, sagte er weise lächelnd dazu und schüttelte sein gekräuseltes Haupt zwischen dem feinen Hemdkrägelchen. Als mir die Geschichte wieder zugebracht wurde, eilte ich nach dem Laden, ohrfeigte das Bürschchen ein dutzendmal auf und ab, zog ein paar geladene Pistolen und sagte, wenn er noch besser bedient sein wolle, so möge er vors Haus kommen. Das wirkte. Ich habe in meinen ersten fünf Monaten drei Ärzte im Duell erschossen, das heißt Humbuger, die sich für Ärzte ausgaben und meinem Ansehen zu nahe traten.

Mit Weibern sich vertragen,
Mit Männern 'rum sich schlagen –

nirgends gilt's mehr als hier. Die Ladies hofieren wie Prinzessinnen, die Männer niederschießen wie Hunde: das setzt fest in Amerika, das macht Dollars! –

Unter solchen Gesprächen kehrten wir immer wieder zum bal champêtre zurück, der sich jetzt, bei Fackelbeleuchtung, besonders effektvoll machte. Freund Poll genoß sein junges Leben mit einer heißen, schwarzäugigen Irländerin, die dem hübschen Burschen gewaltig zusetzte und wohl auch stärker armierte Festungen mit Erfolg blockiert hätte. Aller Appetit verschwand aber, als ich das Mädchen wahre Schiffsladungen von Brandy trinken sah, womit sie ihr Tänzer traktierte. Das deutsche Settchen hatte dieselben Quantitäten doch nur in Obstmost vertilgt. So lernte ich nachträglich erst noch ihre Modestie schätzen. Auch machte mich Doktor Althof aufmerksam – ich hatte ihm das Verschwinden ihrer nationalen Erinnerung geklagt – daß die Mädchen deutscher Abstammung denn doch noch ihre Blumensträuße vor der Brust trügen; – irische und amerikanische nicht. Dieser deutsche Naturzug lebte wenigstens fort. Das gefiel mir wieder.

Da die Nächte schon länger werden, so vertrieben wir uns die Zeit – Doktor Althof und ich – gelegentlich wieder mit Tanzen. Dabei passierte es einmal, daß ein junger, baumlanger Pennsylvania-Deutscher mit einem besonderen Elan in die Höhe sprang, und auf einen Ruck die zwei Neger samt ihren Sesseln aus den Angeln hob. Der Arme stürzte mit blutendem Kopf zu Boden, die zwei Neger über ihn her, die ganze Tanzkette, die sich im Schwung nicht mehr zu halten vermochte, über die Neger, und im Nu lagen wir alle, wie die ehrsamen Lallenburger, aber nicht sehr ehrsam, in einem unentwirrbaren Knäuel durcheinander. Es wollte was sagen, bis jeder und jede aus dem verworrenen Inventar von Beinen das ihm zuständige Paar wieder herausgefunden; auch will ich gar nicht leugnen, daß manche Täuschung nicht absichtlich festgehalten wurde. Der Tanzlust tat dies kleine Intermezzo freilich wenig Eintrag. Nur meine Toilette kam übel dabei weg; namentlich hatte mir ein rüstiger Tabakkauer bei dieser Gelegenheit einen Kotillonorden an die Brust gespuckt, dessen Spuren weniger zu vertilgen waren als die Blutflecken der Lady Macbeth. Mit dieser Dekoration und einigen ähnlichen vermied ich denn für den Rest der Nacht die »Gesellschaft«. –

Am Morgen sah das Frolic nun traurig aus. Oder vielmehr abscheulich. Wie ringsherum in allen Lagen und Zuständen des menschlichen Körpers »die Bestialität sich gar herrlich kund gab«, – laß mich davon schweigen. Wahrlich, verdorbene Magen bedurften keines weitern Vomitivs, als sich einander nur selbst anzusehen. So sattelte ich, um ein amerikanisches Sittenbildchen reicher, meinen Cäsar, ließ das besoffene und stinkende Arkadien hinter mir und trabte mit sehr gemischten Gefühlen wieder heimwärts.

*

Du kennst gewiß auch den Ruf der Kentuckyer, der Männer »vom blutigen Grunde«? Sie sind als die Männer par excellence berühmt, sie sind der physische Adel Nordamerikas. Diese Nimrods-Ideale in ihrer Urpracht zu schauen, nahm ich mir lange schon einen Ausflug nach Kentucky vor. Einer New Yorker Soiree war' ich bald einst stehenden Fußes davongelaufen, so brannte mir Byrons effektvoll deklamierte Kentucky-Begeisterung an den Sohlen. Wohlan, diesen Wahn bin ich nun auch los. Einen einäugigen Kentuckyer traf ich auf meinem Pennsylvania-Frolic. Ohne was zu denken, gewissermaßen aus ärztlichem Instinkte, bracht' ich die Rede auf diesen Defekt und erkundigte mich um seine Ursache. Das hätte mir bald übel bekommen. Der Kerl nahm eine Miene an, als ob ich ihn foppte, so daß ich wohl merkte, dahinter steckte etwas. In der Tat belehrte mich Doktor Althof. Der Mann trug seine Niederlage von einer Boxerwette zur Schau. Aber der Ausdruck ist uneigentlich, denn die Kentuckyer boxen sich nicht wie die Engländer, sondern die Kämpfer wetten über die Geschicklichkeit, wer von ihnen dem andern ein Auge ausdrehen könne! Hat die Menschenkanaille je eine solche Scheußlichkeit ausgedacht? Augenausdrehen ein Geschicklichkeitsspiel! eine Bravour der männlichen Kraftübung! Aber dieser Zug geht durch ganz Amerika. Der frische Stahlbrunnen der Barbarei, den man hier zu trinken meint, schmeckt überall verdorben. Es ist Raffinement in der Wildheit! Bei den großstädtischen Rowdies merkt' ich das schnell, und hier bei den Hinterwaldshelden des blutigen Grundes find' ich's nun wieder. Sich boxen auf Augenausdrehen!

*

Noch ein Nachtrag von meinem Frolic. An der Grenze von Ohio und Pennsylvanien steht ein Posthaus, heißt Marlington und scheint eine Stadt werden zu wollen. Als ich im Vorbeitreiten mein Pferd hier fütterte, kam eben die Post von Erie an. Sie gab in Marlington ein paar Zeitungen unter Kreuzband ab, darunter auch eine deutsche, wie ich sehen konnte. Der Posthalter sonderte die deutsche von den übrigen aus und warf sie mit einem damd'd dutch! in den Entenpfuhl vor seinem Hause. So expediert man hier deutsche Blätter. –

Wir haben freilich gut sagen, das Volk fürchtet instinktiv die deutsche Geistesüberlegenheit, von der es schon jetzt in allen Zweigen seines Nationallebens zehrt, und sein Haß müsse uns eigentlich schmeicheln; aber Mensch ist Mensch, und es zückt einem wie Dolchesgier in den Fingern, dieser Brut nach ihrem Rechte zu tun.

*

Heute nacht weckte mich ein Flintenschuß und Angstgeheul und Todesgeschrei wie von einer menschlichen Stimme. Ich stand mit Adin Ballan auf; wir zündeten Fackeln an, bewaffneten uns und ritten hinaus in die Waldnacht. Wir knallten unsere Doppelflinten ab und schrien dazu, um einem Hilfebedürftigen unsere Richtung, einem Mörder die Nähe von Rächern zu signalisieren. Schuß und Schrei von der andern Seite aber wiederholte sich nicht mehr, so daß wir ziemlich im unklaren trieben, wohin wir uns in der unermeßlichen Waldweite zu wenden. Wir setzten unsre Streife noch lange fort und wiederholten unaufhörlich unsre Alarmzeichen, aber nichts regte sich mehr. Endlich kehrten wir wieder nach Hause zurück. Ich war begreiflich in großer Aufregung und schloß kein Auge mehr. Im Laufe des Tags erklärte sich das Nachtabenteuer. Von der benachbarten Virginiergrenze hatte sich ein entlaufener Sklave über den Ohio gerettet. Aber die Verfolger waren ihm dicht auf der Fährte und zwischen meinem und dem Lisboner Gebiet erreichte ihn die tödliche Kugel. Farmer von New Lisbon fanden die Leiche im Walde. Die Lisboner behandeln die Untat wie etwas Alltägliches, von einer Fahndung auf den Mörder ist keine Rede. Jeder Sklavenbesitzer hat das Recht, entflohene Sklaven lebendig oder tot wieder einbringen zu lassen. Sie halten zu diesem Zweck eigene Leute und – Hunde! We are in a free country!

*

Vielleicht genügt es uns an diesen Proben. Blatt für Blatt würden wir so durchblättern, und auch nicht ein lichter Moment, auch nicht ein reiner, ungetrübter Strahl der Freude wäre die Ausbeute davon. Urwaldspoesie, Jugend- und Freiheitswelt, Menschheitsglück im Westen, Stern einer bessern Zukunft, immer unaufhaltsamer werden diese Worte zu – Wörtern, das große Diluvium der Enttäuschung ist nirgend mehr einzudämmen. Es wäre unter diesen Umständen eine ungerechte Parteilichkeit, von einer persönlichen Anlage zur tragischen Weltanschauung zu reden. Denn erstens ist diese Anlage das Erbteil jedes tieferen Menschen, und dann – bliebe sie eben nur Anlage, wenn nicht die Außenwelt sie weckte und nährte.

Zwar der idealistische Glaube an Amerika hat in der Brust unsers Helden längst ausgelebt. Wir erinnern uns, daß er schon auf seiner Pennsylvania-Reise sich die Umstimmung bezeugte: »in diesem Lande nicht Muster zu sehen, sondern Muster zu geben. Diese Freien«, hieß es, »müssen durch uns Verknechtete ein wenig freier werden«. Allmählich aber langen wir an dem Punkte an, wo es sich fragt, ob er auch dazu noch Lust und Kraft übrig behält.

Anhorst ist fort und Benthal noch nicht da. Ein schlimmer Umstand in einer Lage, die durch sich selbst so wenig Anziehungskraft übt! Daß aber diese beiden Geschenke des Zufalls unserm Helden so bald zur Notwendigkeit geworden, kann nicht gegen die Kraft und Selbständigkeit seines Charakters zeugen. Kein Mensch erträgt einen neuen Gedanken, geht einen neuen Weg ohne das Prinzip der Genossenschaft. Ohne Remus kein Romulus, ohne Cassius kein Brutus, selbst kein Kolumbus ohne die Pinzons.

Was Anhorsts Rückkehr betraf, so entzog sie sich einer strikten Wahrscheinlichkeitsrechnung; einem Briefe Benthals dagegen rechnete Moorfeld schon nach Stunden und Minuten zu. Zwar währt sein Aufenthalt in Ohio noch nicht so nennenswert lange, keinesfalls so lange, als es unter so vielen neuen Bildern und Eindrücken, welche überdies fast alle die Fähigkeit haben, sich rasch wieder auszuleben, den Schein gewinnen mag. Wir zählen kaum die achte Woche der Ansiedlung Moorfelds, und ging seine erste Briefsendung an Benthal von Pittsburg ein wenig früher ab, so datiert das Paket, welches erst seine Adresse enthielt, auch etwas später. Bedenken wir dazu, daß wir von einer Zeit sprechen, in welcher das Pennsylvanische Eisenbahnsystem zwar im Beginn, aber noch nicht am Ziele, und namentlich die großartige Alleghany-Portage-Eisenbahn Hudson und Ohio noch nicht mit Dampfeskraft verband, so wird in den Tagen, welche wir gegenwärtig darstellen, ein Brief von Benthal zwar ankommen können, aber eben nur können. Moorfeld überstürzte auch seine Berechnung keineswegs. Aber genug, daß eine Berechnung nie zur Beruhigung führt, vielmehr just an dem Punkte anfängt, wo auch die Unruhe anfängt. Wie ein Mensch, der sich ausnahmsweise frühes Erwachen vornimmt, seinen Schlaf nicht etwa um diese Morgenstunden kürzt, sondern den ganzen Schlaf sich verdirbt, weil die Seele im Traume rechnet und überhaupt nichts anders träumt als das Erwachen: so stört solch ein Rechnen den Genuß, die Perspektive, das ganze Leben des Tages, denn statt allem Gegenwärtigen setzt sich ein Abwesendes, statt allem Ersten ein Zweites, der ganze Vordergrund liegt in einem Schatten, aber die Ferne nicht im Lichte. Mit Benthals Brief hat Moorfeld einen Genuß, eine Freude zu erwarten, aber die Erwartung selbst ist Qual, ist Sorge. Der trübe Horizont des Einsamen wird um so vieles trüber. Mit jedem Sandkorn, das verrinnt, ohne die Erfüllung zu bringen, fühlt sich von neuem die Frage berechtigt: Ist er krank? Sind es die Seinen? Ging dein Brief verloren? Ist seine Antwort verunglückt? und siehe! wie erschrak Moorfeld, als er bei letzterer Frage sich an den Postmeister erinnerte, der die deutsche Zeitungsnummer veruntreute! Wie, wenn Benthal den Einfall gehabt, deutsch zu adressieren, der Brief einem ähnlichen Native-Fanatiker zu ähnlichem Frevel in die Hand geraten, und alles Hoffen für jetzt und für ewige Zeiten überhaupt vergebens? Also ein neues, geflügeltes Blättchen: englisch zu adressieren, und neues Abwarten des Postengangs hin und zurück!

Es ist eine beängstigende Pause. Unser europäischer Freund, umgeben von seinen Fähigkeiten, Gemütskräften, Strebnissen, Erwartungen und Entwürfen, macht uns in diesen Tagen den Eindruck einer vollen offenen Szene, welche ein plötzlicher Zwischenfall in Stockung versetzt. Mit reichem, breitem Wurf steht eine glänzende Gruppe mitten im gespanntesten Nerv der Handlung da, – eine Feder fehlt, sie stockt. Schnell versendete Boten sind nach prompter Ergänzung aus – wird sie gefunden? wird sie es nicht? Wird neues strömendes Leben durch diese gebundenen Organe rollen? oder fällt schrill und rasch der Vorhang über ein Fragment? Bis es sich entscheidet, führt uns der Held der Szene einstweilen ein anderes Bild vor. Er schaukelt ein kleines blondes Mädchen und lauscht einer stammelnden Zunge auf Klagen um europäische Blumen!

Die »Flucht nach Ägypten«, wie wir wissen, ist Moorfelds einzige Erholung in diesen Tagen. Eine gefährliche Erholung! Hier saugt er in milden, schmeichelnden Zügen die Melancholie in sich, die ihn zu Hause vielleicht unerträglich, aber eben darum zum Widerstand auffordernd, bestürmt. Flucht nach Ägypten! Mit welchem Gefühle für das schmerzliche Ungenügen einer menschlichen Lage hat Moorfeld nur dieses Bild gewählt! Aber was bedürfen wir den geheimen Zug der Selbstbespiegelung, der ihn an dieses Gegenüber fesselt, erst deutlicher aufzudecken? Hier hegt ja volles Bewußtsein. Seine Monade, – Psyche, – Schwesterchen, – Vignette seines eigenen Ich ist ihm das Kind, dem sich – wenn auch nur über Blumen – zu Amerika das Herz versperrt! Was sonst sucht er also dort als den Genuß seiner Selbstqual, das Echo seiner eigenen Verneinungen? Nur daß das Kind der einfache Ausdruck, er selbst der unbändigste für den gleichen Seelenzustand ist. Es läuft, dürfen wir ahnen, sogar ein Zug des künstlerischen Wohlgefallens hier durch. Das kleine Mädchen ist ihm die naivste Form dessen, was auf den höheren Stufen seines Gedanken-Lebens zerklüftet und widerspruchsvoll in unkünstlerischer Maßlosigkeit sich abmüdet. Wir würden daher ein tiefes Verkennen an den Tag legen, wenn wir an dieser Kindes-Freundschaft unsern Trost fänden. Ja, sie ist eine Davidsharfe in der Sauls-Melancholie unsers Helden. Aber hat die Harfe den Saul geheilt? So schmeichelt sich in Annetten süß und wohlklingend der schwarzblütige Dämon ein, den Moorfeld ohne sie vielleicht kräftig zurückstieße. Sie zerteilt die Gewitterwolke, welche stürmen, blitzen und – reinigen sollte, in ein weiches, nebelhaftes Geflör, das den Horizont leichter umschleiert, aber schwüler am Marke saugt. Diese zarte Geselligkeit lindert die Schmerzen des Einsamen – gewiß! nur daß mit den Schmerzen auch die Kraft zerstreut, auch der Wille aufgelöst wird, der vom Schmerz frei macht, nur daß am unschuldigen Mitleid mit seiner kleinen Verbannten Moorfeld schuldig wird an sich selbst, denn er leidet in ungleich größerem Stile mit, – er leidet gelinder, aber erschöpfend, schwächend bis zur Ohnmacht.

Aus dieser Ohnmacht blitzte dann plötzlich wieder das höchste Lebensgefühl auf. In Momenten, wo Moorfeld alles verloren zu haben schien, verlor er doch das eine nicht: die Erinnerung seiner selbst. Aber seine Täuschung war es dann, daß er Erinnerung zugleich für Besitz hielt! Er verkannte die Natur solcher Rückschläge, nahm als Begeisterung, was nur Stolz, als Fülle, was nur Glaube an Erfüllung. Mit einer Gier, welche die Stelle des gesunden Enthusiasmus vertrat, griff er dann in die Saiten und sang – wir kennen sein Thema. »In Ohio wird's eins deiner Gedichte!« hatte er sich schon im ersten Augenblick gesagt; – hier lag ein teurer, tiefgehüteter Schatz. Nur in seinen besten, überzeugtesten Dichterstunden kann die New Yorker Battery durch seine Leier rauschen.

Moorfeld griff wiederholt diese Melodie, aber – sie versagte. Mit tödlicher Verwunderung erfüllte ihn dieser Wortbruch der Musen. Vertrauen und Mißtrauen wechselten so in gleichmäßiger Selbsttäuschung. Wie ein plötzlicher Anflug ihm ausdauernde Kraft, so schien die versagte Gabe des Augenblicks ihm bleibender, unwiederbringlicher Verlust. Er glaubte an eine Abnahme seiner Geisteskräfte. Seine Blätter überflossen von Klagen eines Unglücklichen. Die Termiten der Selbstbeobachtung fielen ihn an, und jeder Zug wurde zum Zeugnisse seines Verfalls. So finden wir die Klage verzeichnet, daß er jetzt einen Nachmittagsschlummer halte, was er sonst nur Philistern überlassen und was ein verhaßtes Zeichen seiner ausgehenden Jugend. Daß er in Ohio um zehn Breitengrade dem Äquator näher als in Deutschland schlief, für dieses Zeichen nahm er es nicht. Auch die Beobachtung zufälliger Vergeßlichkeit schien ihm verhängnisvoll. Gestern – schrieb er – kommandierte ich meinen Schottländer nach New Lisbon, das Buch Postpapier zu holen, das ich nebst anderen Sachen in Mr. Clahanes Store eingekauft, aber in der Zerstreuung wieder liegen gelassen. Der Knecht kam zurück, das Papier hätte sich nicht gefunden, ich müsse es haben. Die Gauner haben es Euch verleugnet, aber hättet Ihr doch um Gottes willen ein neues Buch gekauft, ich will soeben schreiben, und soll nun passen, bis Ihr noch einmal hin- und zurückreitet. So fuhr ich auf. In demselben Augenblicke aber hielt ich inne, denn ich schrieb ja wirklich an Dich. Und erst daran merkte ich, daß ich das vermißte Papier vor mir unter der Feder hatte. So steht's mit mir. Das ist der Dämon der Einsamkeit. Wahrlich, die Klöster haben nicht verdummt, sie müssen selbst dumm gewesen sein. – Und ein anderes Mal lesen wir: Kennst du die Tragödie von dem elektrischen Aal? Man hat lange die Bemerkung gemacht, wenn der elektrische Aal von den Gewässern Süd-Amerikas nach England verführt wird, so kam er entweder tot oder todesmatt an, kurz, starb ab unterwegs. Man forschte vielfach über diese Erscheinung nach, zog Klima, Nahrung, Gewohnheiten des Tieres usw. in Betracht und erkünstelte ihm in allen diesen Stücken aufs genaueste seine Heimat. Umsonst; er starb ab. Endlich entdeckte man's. Holz und Eisen der Fässer, worin der elektrische Aal transportiert wurde, wirkten als Konduktoren auf ihn, und versetzten ihn in einen steten Zustand von Erschöpfung. In Geschirren aus Steingut kam er wohlbehalten nach England. Sind wir Menschen solche elektrische Aale? Ich bin's. Es ist etwas wider mich in der Natur, ein Feindseliges, Tragisches, das nach einem ewigen Gesetz auf mich einwirkt. Alles zeitliche Glück hilft nichts dagegen. Ich werde im Bann eines fatalistischen Elementes durch die Welt geschleift, das mich umbringt. Ich bin in einen falschen Raum gestellt, oder in ein falsches Jahrhundert – was weiß ich? Nur fühlen kann ich's, und in lichteren Momenten seh ich's. Ja, ich sehe das Unglück oft vor mir, wie eine Person. In Deutschland hab' ich einen Freund, der sieht Geister, wie Stammgäste im Kasino. Die Prosaischen zucken die Achseln über ihn, aber die Poetischen haben zu keiner Zeit sich auf den Sensualismus allein vereidigt. Nein, nicht unverhofft trifft mich mein Buttler! Ich habe Miragen von ihm, ich weiß, daß er kommen wird. Das ist's, was mich so traurig macht.

So schwelgte Moorfeld in den Foltern seiner Phantasie und erschöpfte den ganzen Reichtum eines Geistig-Reichen, sich unglücklich zu machen. Aus der Fülle dieser imaginären Leiden, aus dem innersten Drang dichterischer Selbstanklage entströmten ihm in dieser Periode die Verse:

Am Tage stehen meine Schmerzen,
Sie stehen nächtlich um mich her;
Ach, tönten sie mir recht vom Herzen,
So wären sie schon nimmermehr!
Doch keine Saite hält mir Spannung,
Kein Boden hält mir Resonanz, –
In grambeladner Geist-Entmannung
Verwelkt mir so mein Dichterkranz!

Das Leben lebt nicht! – wär's zu leugnen,
Die letzten Funken facht' ich an,
Und Wunder sollten sich ereignen,
Wie Puck und Ariel getan.
Ich flog wie sie – doch unterm Lumen
Des schlimmsten Sterns – ums Erdenrund,
Und ach, die alten Zauberblumen,
Sie stehn nicht mehr auf altem Grund!

Ja, die Klage um die Poesie brachte ihm die Poesie selbst wieder zurück. Diese Strophen waren sein erstes Gedicht in Ohio. Freilich blieben sie Fragment. Das gehaltene Aneinanderreihen elegischer Gedanken und Empfindungen zweiter Ordnung scheint den heftigen Affekt des Dichters nicht befriedigt zu haben; ungeduldig springt er ab davon, um in dem strafferen Schlußgedanken alles auf einmal auszusprechen: sein Geist erkenne sich in dem Spiegel größerer Zeiten, das Altertum hat die Fülle des Lebens erschöpft, der Epigone ist das Nichts! Wir finden zu jenem Fragmente nur noch die Schlußstrophe:

Leander küßte meine Hero,
Aus meinen Bechern trank Lukull,
Mein Satanismus gor in Nero,
Mein Herz floß über in Tibull!
Heut schaufeln wir mit Schulvergnügen
Nach dieses Daseins Span und Zoll,
Freu'n uns an alten Tränenkrügen
Und – weinen sie von neuem voll!


 << zurück weiter >>