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In diesen Schmerzen der Akklimatisation wurde Moorfeld von einem Ereignisse überrascht, das den stilleren Zug seiner geistigen Gärungen grell unterbrach und ihn schrecklich vorbereitet fand, das Unglück mit offenen Armen zu empfangen.
Die Geschichte, von der wir sprechen, findet sich in Briefform an Benthal gleich seinen übrigen Aufzeichnungen. Wir haben keine Ursache, für die Form dieser Erzählung eine andere zu wählen; mit traurigem Danke vielmehr nehmen wir das Bild hin, so wie es ist, wie es von dem schwerbeteiligten Herzen sich unmittelbar losgelöst, mit allen eigenen Zügen des Selbsterlebnisses. Keine Kunst der Darstellung soll dieses Blatt entweihen. –
Wir erinnern uns, daß die Methodistengemeinde zu Lisbon unter Vortritt ihres Predigers einen Waldgottesdienst, ein sogenanntes Campmeeting, zu veranstalten beschlossen. Die Zurüstungen zu diesem Feste lagen bisher gänzlich ab von dem Kreise unseres Interesses; sie zu verfolgen fanden wir uns ohne jede Veranlassung. Dieses Campmeeting aber ist es, welches in unserer Aufmerksamkeit jetzt plötzlich seinen unheilvollen Platz begehrt. Es rückte heran, es war da, und erst indem die Sonne seines Tages aufgeht, reißt uns das Schicksal unvorbereitet in seine Mitte.
Unvorbereitet – nach der Ordnung jedes bekannten Naturgesetzes. Aber Moorfeld spricht von einer Vorahnung, die zu merkwürdig scheint, als daß wir den schmerzlichen Bericht jenes Ereignisses nicht mit ihr selbst schon beginnen sollten.
Moorfeld erzählt:
... Tags vor dem Campmeeting hatte ich eine meiner melancholischen Visionen. Es war am hellen, heißen Mittage, da sie mir widerfuhr. Ich war frühmorgens ausgeritten, den Tischler Rapp zu besuchen, der einen kleinen Fieberanfall bekommen. Ich plauderte eine gute Weile mit ihm, denn sein Zustand schien großenteils deprimierte Gemütsstimmung und die ganze Indikation – ein teilnehmendes Herz. Die Sonne brannte schon ziemlich heiß, als ich ihn verließ. Ich wollte hierauf zu Vater Ermar hinüberreiten, oder zum »Meier«, wie er nach westfälischem Landesbrauch sich gerne noch nennt. Der Weg war mir nicht so geläufig als von meiner eigenen Farm aus, ich hatte mich daher bald verirrt. Die berühmte Herbstpracht des amerikanischen Waldes beginnt schon und tat das Ihrige, mich kreuz und quer herumzunarren. Das Auge des Neulings schwelgt in einem Farben-Kaleidoskop, wovon der Europäer schwer eine Vorstellung hat, – das Gemüt freilich klingt wenig mit. Die stille geschlossene Ruhe eines deutschen Herbstwaldes ist mir lieber. Es ist ein rastloses Effekthaschen in dieser Fülle von unvermischbaren Tinten, – später scheint es sich zur erklärten Musterkarte auswachsen zu wollen. Von dem grellen Gepränge sprang ich daher bald ab und vertiefte mich über eine Strophe, die mir schon seit Tagen zu schaffen macht. Inzwischen knusperten in den Walnüssen Scharen von Eichhörnchen rings um mich her: da schoß ich bis zum letzten Pulverkorn darein. Endlich fing stomachus an, seine Spieluhr klingen zu lassen, und auch Cäsar schnaubte und schnobberte wenigstens nach Wasser. Ich wäre herzlich froh gewesen, ein Ziel meiner Irrfahrt zu finden. Ich spannte meine Aufmerksamkeit nach allen Richtungen, umsonst. Tiefe, unberührte Waldfremde rings – keine Spur, kein Merkzeichen eines Menschen. Wäre ich noch Herr eines Pulverkörnchens gewesen, so hätte ich's jetzt zu Notsignalen verschossen; dagegen verführte mich lange Zeit eine hiesige Spechtart, der wood-cock, der mit einem menschenähnlichen Klopfen die Bäume behackt und dessen Treiben ich selbst für Signale hielt. So geriet ich immer tiefer ins Waldöde. Einmal stand ich an einer gräßlichen Stelle. Der Boden war bedeckt mit Gerippen von Hornvieh; die Schädel der Tiere glotzten fürchterlich in allen Lagen und Richtungen aus dem verworrenen Beinhaufen. Schaudernd starrte ich das Rätsel dieses gespenstischen Bildes an, bis ich mich auf seine Erklärung besann. Die Herden überwintern bekanntlich im Freien hier; aber in diesem aus Skandinavien und Italien zusammengebackenen Klima erfriert das Vieh oft massenhaft in kalten Winternächten. Der Leichenanger solch einer verunglückten Herde war's, der mir da aufgestoßen.
Krankenbesuch – Waldschattierung – Gedicht – Eichhörnchenjagd – Hunger – gefallenes Vieh – ich skizziere diese Szenerie, um darzutun, wie sehr ich mit meinem Sinnenleben am Äußerlichen beteiligt war und nichts weniger als zur Schwärmerei aufgelegt. Zuletzt brachte mich das Geläute einer weidenden Herde wieder auf die rechte Bahn. Sie weidete zwar nach Landesart frei im Walde, aber indem ich ihren Spuren folgte, erreichte ich den Rand desselben. Vor mir lag ein Ackerfeld, in der Ferne entdeckte ich eine Hofstelle, doch konnte ich nicht erkennen, welche. Ich setzte mich auf einen der niedergebrannten Baumstämme am Waldessaum und ruhte aus.
Die Sonne stand im Zenith; es war die Panstunde. Der Himmel glühte in einem grau-rostigen Dunst. Die Luft vor mir zitterte wie über einem Kalkofen. Auf dem Acker knisterte das Stroh, als würde es langsam geröstet. Der strohene Acker war ein häßlicher Anblick. Indem man hier nur die Ähren absichelt, das Stroh aber stehen läßt, so sieht sich das Besenfeld an, als hätten Buben die ganze Ernte mutwillig geköpft und gemeuchelmordet. Später brennt man das Stroh nieder, und die Asche ist der einzige Dünger des Feldes. Die Sonne schien es aber schon jetzt anzuzünden. Die Glühhitze leckte so lüstern über das blanke Stoppelfeld, als wäre ihr die Speise wohlbekannt. Ich erwartete wirklich, es in jedem Augenblick aufflackern zu sehen.
In diesem Mittagsbrande dachte ich an die Miasmen, die er ausbrütet. Wie aus der Vogelschau überblicke ich die amerikanische Erdfläche: aus allen Flußtälern, aus allen Niederungen, Sümpfen und Neubrüchen ringt sich das Fieber los. Wer hat diesem Präsidenten der Sommermonate seine Stimme gegeben? Arme, arme Freiheit der freien Erde, er nimmt die Stimmen! Oh wie sie matt hinsinken mit ausseufzenden Brusthöhlen; ihre Stimme ist auf ewig dahin! Wer zählt die Tausende? Ich treibe die schöne Spiegelfläche des Ohio hinab – was wimmert aus den Blockhäusern des Landes Hunderte von Meilen entlang wie aus einer langen Katakombe? »Matt, matt, lieber Herr, o einen Trunk Wasser!« Ich folge der langen Wellenbahn des Missouri hinauf – was flüstert über die dürren Grasrespen der Prärien? »Die Ernte ist eingetan, Herr, Väterchen auch!« Ich taumle mit den Wirbeln des Mississippi der Vergessenheit des ewigen Meeres zu, – auf welche Länder seh' ich herab! Nennt man sie Alabama, Arkansas, Louisiana, Florida, – Pèrelachaise? Ein Volk von Äthiopiern seh' ich geschäftig, sie häufen moderne Pyramiden aus Reis, Zucker und Baumwolle zusammen – aber wie geschieht mir? Sind das die langlebenden Äthiopier des Herodot? Seht, wie sie Reihen auf Reihen sich am Boden gruppieren! Wenig Anmut ist in diesen ruhenden Gruppen. Jetzt kommt der Massa und berührt sie mit dem Lebensstab seiner Peitsche, aber das Leben bleibt aus. Er macht kleine Striche durch sein Namensverzeichnis und geht weiter. – Auf einmal flogen von sämtlichen Kirchen des Landes die Dächer ab, und ich sah die schwarzen Pastoren auf ihren Kanzeln. Sie dankten Gott für die gesegnete Ernte. Ein Schauer überlief mich. Denn die schwarzen Pastoren waren niemand anders als das verkleidete Fieber, und das Fieber dankte hohnlachend für seine Ernte. Gott mußte sich's gefallen lassen. – Von den Fieber-Pastoren kam ich auf das morgige Campmeeting. Ich wußte jetzt ganz bestimmt, daß die Methodisten pseudonyme Teufel seien. Was sie seit Wochen rüsteten und schürten war ein Menschenopfer. Diese Sonnenglut und dieser Religionsbrand konnten nicht anders, als eine versengende Ehe eingehen. Es war ein Fackeltanz in einer Pulverkammer. Das Unglück ging so deutlich vor meinen Augen vor, ich konnte sogar das Opfer nennen, wenn ich nur etwas genauer hinsah. Auf einmal sah ich es auch. Ein Kindesbild, zart und leicht, stand meinem Auge gegenüber auf dem Stoppelfeld. Es war Annette. Sie lächelte und war jugendlich glücklich. Plötzlich griff sie sich an die Stirn, ein blauer Funke sprang aus ihrem Scheitel, sie schrie durchdringend auf, dann war sie weg! Ich lief in die Stoppeln, um das verschwundene Körperchen aufzufinden; das heiße Stroh geißelte mich wie mit glühenden Ruten, ich rief Annette! – umsonst; nirgends eine Spur des lieben Mädchens.
In diesem Augenblick rief die Glocke der Hofstelle das Vieh zur Maisfütterung. Ich wunderte mich, denn die Glocke war von Meiers-Farm. An welcher Stelle des Waldes war ich herausgekommen, daß mir die Farm hier so ganz eine unbekannte Ansicht bot? Aber froh dieser Entdeckung rannte ich sogleich dem Gehöfte zu. Die Familie setzte sich just zu Tische, als ich eintrat. Annette hatte an einem Kleidungsstück für das Campmeeting genäht und war über den Eifer der Arbeit ganz rot geworden. Ich nahm das liebliche Köpfchen zwischen meine Hände und sagte: Schwester, wenn du mich lieb hast, so bleibst du morgen zu Hause. Es kommt ein Gewitter, und du wirst vom Blitz erschlagen. Das Kind sah mich verwundert an, und der Meier murmelte mit dem bekannten Ausdruck seiner düstern Resignation: Wir haben nicht Geld genug für den Blitz. Der Blitz wird vom Geld angezogen, wie die ganze Welt.
Nach Tische regten sich alle Hände im Hause zur morgigen Waldfahrt. Ich suchte meine Stimmung zu übermannen, indem ich nach Kräften mithalf. Annette war voll Jubel. Sie freute sich auf die große Gesellschaft von Menschen, sie hoffte Mädchen ihresgleichen als Gespielinnen zu finden, sie wollte nach Blumensamen umfragen und handeln und tauschen, kurz ihr kleines Leben war im Rotglühen. Ich hörte zu mit unbezwinglicher Wehmut. Sie fragte: Herr Bruder, bist du bös? Ich zog sie an mich und sagte, indem ich mich ganz meiner Trauer überließ: Siehe, Schwesterchen, ich bat dich, zu Hause zu bleiben, und du liegst mir mit der Reise im Ohr. Du hast kein Gemüt zu mir. Wenn dir morgen ein Unglück widerfährt, so sage nicht, daß du unschuldig zugrunde gehst. Du solltest ein Liebesopfer bringen können und bringst es nicht, – das ist deine Schuld. Mir war die Seele so voll, ich mußte dieses oder Ähnliches aussprechen, unbekümmert, ob es verstanden wurde oder nicht. Aber das Mädchen hatte immer einen Begriff des Gesagten, sie brach in Tränen aus, legte weinend ihren Kopf auf meinen Schoß und sprach: Ich will ja alles, was du willst, aber warum willst du denn? Darauf hatt' ich freilich nichts zu antworten. So angeboren ist den Deutschen die Logik! Die Italienerin Mignon hätte sich fraglos hingegeben; die Deutsche gibt sich zwar auch hin: »sie will alles, was ich will«; aber, fragt sie deutsch-protestantisch, »warum willst du denn?« Warum wollte ich denn? Ich schalt mich selbst, das arme Kind so zu quälen und sagte zuletzt, gewaltsam-heiter: ich prüfte dich nur, Schwesterchen, und bin ja zufrieden mit dir; sei wieder ruhig.
Abends ritt ich nach Hause und schlief nach der Ermüdung des heißen Tages gut und traumlos. Dies war der Vorabend des Campmeeting. Tags darauf nahm mich beim Erwachen das ganze trostlose Gefühl von gestern wieder in Besitz. Auch an meine Vision glaubt' ich wieder, und so lebhaft, als stünde sie noch einmal vor mir. Daß eine Stimmung ohne äußere tatsächliche Ursachen so mit uns nächtigen kann, war mir sehr ernsthaft zu erfahren. Ich wurde nun erst über meine Trauer traurig, griff aber zu meiner Violine und strich mit die lustigsten Sachen, die mir einfielen. Dazu tanzte ich in der Stube herum. Kurz, ich machte Opposition. Hierauf ging's aufs Pferd. Meinem Schottländer übergab ich die Aufsicht des Hauses und ritt hinüber auf Meiers Farm, wo ich schon alles zur Abreise bereit fand. Ein großer Zeltwagen stand bespannt, mit Vorräten und häuslichen Notwendigkeiten versorgt. Die kleine Familie war in ihrem Sonntagsstaat. Amerikanischer Sonntagsstaat! Ihre guten westfälischen Stücke verbrauchten die Deutschen zu Hause, um öffentlich der langweiligen Landestracht die Ehre zu geben. Um der Frauen willen tat mir diese Probe der deutschen Selbständigkeit besonders leid. Ihr halb-städtischer Kleiderschnitt drückte so gar nichts aus! Ein Manschetten-Bauer ist ein übler Anblick, aber eine Manschetten-Bäuerin – doch freilich, Bäuerinnen sind sie nicht, die Myladies der Hinterwäldler! – Und der Dutchman mißhandelt seine Frau, wenn er sie nicht zur Lady travestiert.
Ich hatte also, diesem Fuhrwerk zur Seite reitend, die größte Ähnlichkeit mit Don Quixotte, indem er eine seiner sonderbaren Herzoginnen begleitet. Dieses Bild war mir willkommen, und ich malte mir's aus, um von der Heiterkeit desselben zu profitieren. Mein Meier hatte unterdessen heiligere Gedanken. Während der Knecht (ich sehe ab von dem hiesigen Euphemismus »hand« –), während der Knecht kutschierte, machte der Meier Miene, das Gesangbuch aufzuschlagen und einen biblischen Psalm anzustimmen. Ich gestehe, daß mich diese Aussicht wenig erquickte. Glücklicherweise war Annette zu lebhaft. Sie war ganz Kind. Alles kam ihr neu vor, ich mußte durchaus jedes Stämmchen und Zweiglein für ein Wunder erklären. Wie gerne tat ich's! Entrannen wir wenigstens dem Morgensegen, nach welchem Vater Ermar lechzte wie nach einem guten Schluck. Was für ein prächtiges Morgenlied sein eigenes Kind war, fühlte er nicht. Leider dauerte mein Feld- und Waldduett mit dem kleinen Mädchen nicht lange. Die Andacht ereilte uns doch. Ein Wagen mit Männern, Frauen und Kindern kam in unsern Fahrweg eingelenkt und alle überraschten aus vollen Kehlen ihren lieben Gott mit einem Frühgesang, wobei es mir merkwürdig blieb, daß die Pferde nicht scheuchten davor. Zwischen eine spielende Batterie und dieses Geheul gestellt, hätte ich jedenfalls bei den Kartätschen Sicherheit gesucht. Wie wenig kann man sich doch das höchste Wesen nach dem menschlichen Bilde vorstellen, wenn ein amerikanischer Chor im Himmel angenehm klingt! Das ganze Volk hat keine einzige musikalische Note in seiner Kehle. Daß sich diese Sangeslust nun unfehlbar unserm Wagen mitteilen würde, war ein Gedanke, der mich sehr beunruhigte. Ich ließ dem Cäsar die Zügel und erwartete mein Schicksal. Auf einmal galoppierte es seitwärts zum Walde heraus, ein Kerl kam zum Vorschein mit aufgestreckten Hemdärmeln und einem kupfernen Kessel als Sonnenschirm überm Kopf, – nie saß was Tolleres zu Pferde, selbst den Barbier mit Mambrins Helm nicht ausgenommen. Der Bursche hatte kaum den singenden Wagen wahrgenommen, als er den Vorsänger mit heller Stimme anrief: He Jones, sing' gegen den Wind, daß niemand merkt, wieviel Maisbranntwein heute schon den Weg deiner Nieren ging. Der Spötter war eine jener verwegenen Rowdygestalten und bezog das Campmeeting offenbar als Skandalmacher und Boxer. Für diesesmal unterblieb aber noch ein Hahnenkampf zwischen dem Herausforderer und dem Geforderten, wahrscheinlich der Ladies wegen, welche bereits Zion und Israel um Gnade ankreischten. Der Beleidigte begnügte sich damit, daß er zu unserm Wagen herüberrief: Nathanael Cutter spricht nur mit seinen Pferden die Wahrheit, mit den Menschen nie. Nathanael aber machte sich an uns und erzählte uns, wie jener psalmsingende Wagenlenker, ein eifriges Mitglied der Mäßigkeitspropaganda, nichts so sehr liebe als ein volles Whiskyglas, das bei gehöriger Tiefe die entsprechende Breite habe. Jüngst sei ihm ein artiges Abenteuer passiert. Der Mann unterhalte ein Croceryshop auf seiner Farm, das er natürlich mit einem Schilde versehen habe: Hier werden keine Spirituosen verkauft. Nun war es aber Nacht, das Schild nicht mehr zu lesen oder vielleicht schon eingezogen, kurz, ein später Wanderer hält mit seinem Wagen vor dem Laden und fordert in aller Unschuld ein Quart Whisky. Der Fromme war in einiger Verlegenheit. Er führte allerdings Whisky, aber nur für sich selbst und seine guten Freunde; er sieht sich also den fremden Kunden ein wenig bedächtig an. Dabei geriet aber dieser in Verlegenheit. Er steckte sich, um dem Mantel der Nacht unter die Arme zu greifen, möglichst tief in seinen eigenen und drehte sich mit der allergeringsten Fläche dem Inhaber des geforderten Labsals zu. Trotzdem erkannte ihn dieser, denn der Fremde war Ehrn Joe Johnson, der Mäßigkeitsmissionar des dasigen Townships, derselbe, der den Farmer sogar persönlich affiliiert hatte. Bei so bewandten Umständen wurde das Quart Whisky mit aller Diskretion verabreicht und ebenso schweigsam genossen, die beiden Frommen verloren kein Wort über ihr erkanntes Inkognito, und am hellen Tage im Missionshause beglückwünschen sie sich als die auserwählten Kinder dieser gottlosen Welt. – Mit dieser Schnurre galoppierte der Spottvogel wieder von dannen, der singende Wagen aber hatte schamvoll einen Seitenweg eingeschlagen und ließ noch lauter als zuvor seine Lungen arbeiten. – Der Waldweg wurde inzwischen immer lebhafter. Von allen Seiten kamen Farmer von ihren einsamen Hofstellen herangefahren, hielten aber nie dauernd unsere Richtung ein, denn jeder schlug sich nach eigenem Gutdünken durch den Wald – Kunststraßen hat unsere Gegend noch nicht. Auf der letzten Strecke bekamen wir ein längeres Geleite. Ein Farmer schleifte seinen Reisekasten neben uns her – ein echtes Dollargesicht. Ich hatte das Glück, daß er mich in seine besondere Affektion nahm. Er erteilte mir über amerikanischen Landbau und Produktengewinn eine Fülle der nützlichsten Ratschläge, die mir nur leider verloren gingen, denn sie blieben ihm zwischen der Zunge und einem ungeheuren Tabakspriem in der Gaumenhöhle stecken. Dazu salivierte er überreichlich: mit der Uhr in der Hand zählte ich, daß er in fünf Minuten vierzigmal meinem Pferd in die Mähne spuckte. Desungeachtet erkannte ich gegen Nachbar Ermar seine seltene Dienstwilligkeit bewundernd an, aber der Meier antwortete: Denken Sie, das spricht er fürs schöne Wetter? Auf den ersten Blick sah er, daß Sie ein Lateinfarmer und trüber Laune seien, und indem er letztere mißratenen Wirtschaftsverhältnissen zuschreibt, fürchtet er, Sie möchten Ihre Hofstelle eingehen lassen und fortwandern, da uns doch Zuzug, nicht Abzug willkommen sein muß. Darum bemüht er sich so kräftig um Ihre Rente. Bei dieser Enttäuschung schlug ich vor, dem Manne aus der Nähe zu fahren, aber der Meier machte mich darauf aufmerksam, wie er mit einem eigenen Kennerauge das beste Niveau der ganzen Waldregion befahre. Eine blumige Stelle, mit den prächtigsten Astern übersät, erregte das laute Entzücken Annettes. Und mitten in diesen Juwelenhain trieb der Farmer sein plumpes Fuhrwerk. Ich machte ihm Vorwürfe darüber, da antwortete mir der Verwüster folgendes: Hören Sie, mein Herr, die Lokomotive, die hinter uns nachbraust? In zehn Jahren ist meine Wagenspur eine Eisenbahn, und ich war der erste Ingenieur, der sie absteckte! Was macht man mit diesen Leuten? Sie formulieren ihre Prosa mitunter doch großartig! Dann begreift man wenigstens den Charakter darin, und für die nächste Minute sind sie wieder amnestiert!
Arme Annette! daß ich so ruhig all das Geschwätz niederzuschreiben vermag! – Aber freilich – ich bin ruhig, sehr ruhig! Geßner schrieb so ruhig nicht seine schweizerischen, als ich diese – amerikanische Waldidylle!
Es war wirklich idyllisch. Wir fuhren in eine tiefe geräumige Wiesenbucht wie in einen Hafen: der Wald umdämmte uns rings mit seinem kräftigsten Stammholz. Die hohen Laubkronen schliefen kapuanisch wollüstig in der samtenen Himmelsbläue, – aber wenn sie abendlich zu rauschen anfingen und die Wachfeuer der Versammlung aufloderten und ein feierlicher Bußgesang dreinschwoll, so mußte – den Standpunkt in halbdeutlicher Ferne genommen – das Bild eine gewaltige Wirkung tun. Die Waldwiese, auf der wir jetzt hielten, war bereits das Lager des Campmeeting. Auf ihrer Mitte sahen wir die Fuhrwerke der Pilger in ein längliches Viereck zusammengestellt, eine Art Wagenburg. Näher am Waldsaume waren Zelte und Laubhütten zur profanen Haushaltung aufgeschlagen, das Innere der Wagenburg aber war das Allerheiligste, der penn. An der Längenfronte desselben in der Mitte stand aus Brettern und Baumästen gezimmert die Tribüne des Predigers; horizontal vor dieser liefen die Bänke der Zuhörer, ein Querschnitt durch dieselben bildete einen Gang, welcher die Geschlechter trennte. Die acht Ecken der beiden Vierecke, in welche durch diesen Querschnitt das oblonge Quadrat des penn zerlegt wurde, sah ich mit Herdstellen versehen. Das Brennmaterial lag schon jetzt darauf in Bereitschaft zum Anzünden für den Nachtgottesdienst. Noch war die Wagenburg leer; alle Hände tummelten sich, die Waldstelle erst häuslich in Besitz zu nehmen. Daß der ganze Ort übrigens ziemlich ab von dem ungesunden Lisbon lag, versteht sich unter smart mens von selbst.
Wir Neulinge sahen sonderbar drein. Da standen wir nun in der Mitte des fremden Volks – es mochten wohl einige Tausende da sein. Ich musterte mir die Versammlung, – auf den ersten Blick war's kein reiches Charakterbild. Was ich schon im einzelnen bemerkt, fand ich hier ausgedehnter bestätigt: ein Amerikaner sieht dem andern ähnlich. Es ist ohne Übertreibung wahr: Amerika, das größte Ackerbauland der Erde, hat keinen Bauernstand. Diese Gesichter sieht man auf unsern Börsen. Jedes drückt List und Sorge aus, ihre spitzen, pfiffigen Nasen stecken gleich Widerhaken in der Zukunft – nirgend ein bäuerliches Sattsein in der Gegenwart oder Vergangenheit. Satt ist Amerika überhaupt nicht, trotz seiner größten Fleischkonsumtion. Ich sah noch keine Korpulenz. Alles spindelt und schlottert, namentlich sind die Köpfe so dürr, wie es die edelste Rasse, mindestens bei den Pferden, bedeutet. Hier aber bedeutet es das Fieber.
Wir betrugen uns still und einsam in dem Menschenhaufen. Das Campmeeting, so manche Woche zuvor der Gegenstand unserer Unterhaltung, gab uns in dieser ersten Stunde nicht zu reden von sich. Indem wir mitten drin standen, verloren wir keine Silbe darüber. Annette machte große offene Augen zu allem, aber der Blick drückte fast Schrecken aus. Sie sah überall umher und lief nirgend hinzu. Sie entfernte sich keinen Schritt von unserer Seite. Es kam mir nicht vor, als ob sie viel nach Gespielen und Blumensamen Lust hätte.
Als die Sonne den höchsten Stand hatte, bestieg ein langer, schwarzer Reverend die Predigerkanzel, sein Clerk neben ihm zog die Glocke. Alles strömte in die Wagenburg. Ein Mensch im geistlichen Rock trennte am Eingange die Geschlechter, insofern sie der Ordnung unkundig waren – Annette wurde fast gewaltsam in die weibliche Abteilung gezogen. Als schiene ihr der Schutz einer schüchternen deutschen Frau nicht genügend in dieser Verbannung, blickte sie angstvoll nach uns hinüber und zeigte sich sehr aufgeregt. Mein dumpfes Ahnungsgefühl wurde bei diesem Anblicke um nichts deutlicher, aber um vieles schwerer und drückender. Ich sagte dem Meier (nur mit andern Worten), sein zartes Kind scheine mir nicht gemacht, diese Feierlichkeit wochenlang auszuhalten. Er antwortete, man hätte ihm gesagt, später lasse die ganze Zeremonie nach, und in den letzten Tagen sei es nur eine Geschäftsbörse der Landschaft.
Der Prediger auf der Tribüne verkündigte den Leuten, daß er bei Gelegenheit des Mittags sie zum Tischgebet versammelt habe, und mit dieser ersten Andacht erklärte er denn das Campmeeting für eröffnet. Hierauf stimmte er ein Lied an, in das die Gemeinde einfiel – was soll ich sagen? Wenn ich in diesem Lande der Graßheiten noch erstaunen könnte, so wäre ich aus den Wolken gefallen. Die Methodisten sangen ihren Bußgesang nach der Weise
Mihi est propositum
In taberna mori!
Es ist bekannt, daß das sangesarme Volk der Yankees seine Kirchenlieder den weltlichen Melodien der eingewanderten Deutschen nachbildet. Diese musikalische Anleihe setzte mich aber doch außer Fassung. Der Ermar wurde lutherisch rot dabei und brummte mir zu: Das Predigen wäre die Hauptsache bei den Methodisten. Als das Lied zu Ende war, sagte der Geistliche, er überlasse die Frommen ihrer stillen Betrachtung, und trat ab. Folgte die stille Betrachtung. Jeder Kopf sank auf seinen Brustknochen, die Blicke schlössen sich oder starrten so vor sich hin. Schwere Seufzer, dem Tone des Schnarchens nicht unähnlich, gingen durch die Versammlung. Über das Ganze brannte die Mittagssonne, – es war getreu das Bild von gestern mittag. Die gesenkten Köpfe, das abgesichelte Stoppelfeld – die Seufzer, das glühheiße Geknister im Stroh – warum mußte ich unwillkürlich mitseufzen? – Ich blickte nach Annetten hinüber: – sie war an der Seite ihrer Mutter eingeschlafen.
Die Andächtigen erhoben sich nach und nach aus der stillen Betrachtung und zerstreuten sich durchs Waldlager zu den Verrichtungen des Mittags. Frau Ermar sah ängstlich um sich; sie fühlte offenbar die gleiche Pflicht dieses Berufes, aber sie gönnte auch ihrer Schlummernden die Ruhe. Wir konnten bemerken, wie verlegen sie war, einen Entschluß zu fassen. Endlich weckte sie das Mädchen, aber der Augenblick war übel gewählt. Denn eben wandelte der lange, schwarze Reverend den Gang hinab. Indem Annette verwirrt und erschrocken aus dem Schlafe fuhr, erregte sie seine Aufmerksamkeit. Er blieb flüchtig vor ihr stehen und maß sie mit einem finstern Blicke. Mich überlief's. Das »böse Auge« des Volksglaubens fiel mir ein. Wäre ich Mutter gewesen, ich hätte mein Kind bedeckt gegen diesen Blick. Ohne ein Wort zu sagen, wandelte er weiter, aber ich hatte das Gefühl, als wäre hier eine Entweihung vor sich gegangen.
Der Prediger – nicht der Lisboner, sondern ein auswärtiger Matador – war ein widerlicher Mensch. Seine gemeinen Züge stempelte sinnliche Roheit. Die breite Anlage seiner untern Gesichtshälfte, die starke Muskulatur der Eßorgane gab ihm sogar etwas tierisch Brutales. Sein ganzer Charakterausdruck wies keine Spur von Geistlichkeit auf, selbst nicht von geistlichen Lastern. Ich kann nicht sagen, daß ihn das geheimnisvolle Schrecken des Fanatismus umkleidete; die gänzliche Abwesenheit jeder Gemütskraft, selbst einer verirrten, war vielmehr das Schreckliche seines Bildes. Sein leeres blaßgraues Auge sprach eigentlich gar nichts aus; wie bitterböse er damit blickte, schien's die giftige Mißlaune eines Geschäftsmannes, der sich nicht schnell genug reich melkt an seiner Geschäftskuh. Das war das Grauen seines Daseins, daß er nicht da war in der Welt, die er leitete. Er machte zittern, aber nicht wie ein europäischer Torquemada, sondern wie ein Tölpel, der durch ein Kunstkabinett geht. Er wird Unheil stiften aus platter, blinder Flegelhaftigkeit. Er wird die Spieluhr anfassen wie einen Mühlstein.
Wir gingen an unsere Feldmahlzeit. Ein eigentümliches Mißbehagen drückte unsern kleinen Kreis. Den Waldraum durchwürzte das traulichste Parfüm unter der Sonne – Küchen- und Bratenduft: auch ein Überfluß von lebendigen Gliedern war da, der dran herumarbeitete. Aber das alles wollte noch keine Versammlung werden. Jedem einzelnen fehlte das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Man überblickte diesen Menschennumerus wie einen aufgelösten Rosenkranz, ja, wie einen bloßgelegten Kirchhof, dessen innern Bestand eine Überschwemmung aufdeckt. Das Campmeeting schien ein Haufe von Schnecken, die dicht zusammenrücken, aber sie erwärmen sich doch nicht. Das Ganze bleibt so kalt wie das Einzelne. Die Sonne zerfloß in Erbarmen und gab sich alle Mühe einer äußern Erwärmung. Umsonst. Wie mochte sie sich wundern! drüben in Neapel gelang ihr's so trefflich. Fünf Menschen machen den Lärm eines Volkes dort. Hier Tausende nicht. In welchen Verhältnissen leben Sonne und Erde auf ein und demselben Breitegrad? Ist sie dort die Geliebte und hier die Verschmähte, die um so kälter macht, je heißer sie wird? Unglückliche, wie tragisch bist du in deiner Unschuld! Du brennst herab, eine Tarantella zu zeitigen und zeitigst das Fieber. Da waren meine Verwesungsgedanken von gestern wieder! Wen soll man hier anklagen? die Sonne, die Erde, die Menschen? Ich hätte in die Schöpfung schreien mögen, wie König Lear: Mach' mich nicht toll!! –
Viel Volks war in der stillen Betrachtung zurückgeblieben: entweder im ersten Drang seiner Andacht oder aus pfiffiger Konkurrenz um den Frömmigkeitsruf. Das nötigte auch die andern, schleuniger nachzukommen, und ebenso trieb es den Prediger vorwärts. Kurz, ich erlebte die Raserei, daß statt eines gesunden Mittagsschläfchens das Meeting in der ärgsten Hitze zusammenrannte und die Wagenburg füllte. Da gab denn der Clerk das Zeichen, der Prediger stieg auf die Kanzel und der Nachmittags-Gottesdienst fing schon am Mittage an.
Die Erbauung eröffnete wieder ein Gassenhauer-Psalm; ich kannte zwar diesmal die Weise nicht, aber denke dir etwa: »O mein lieber Augustin« oder dergleichen, es verschlägt nicht viel. Dem seelenvollen Liede folgte die Predigt. Also die erste Methodistenpredigt! »Rede, daß ich dich sehe!« sagte Sokrates. Amerikas Idealismus hat sich auf die Religion zurückgezogen: hier sollt' ich ihn jetzt sehen. Er fing zu reden an.
Aber schon nach den ersten Perioden verging mir Hören und Sehen im barsten Sinne des Wortes. Wie soll ich dir diese Predigt beschreiben? Nichts Amerikanisches ist zu übertragen, du weißt es. Annähernd ein Urbild ist in Heinrich IV. die Stelle, wo Falstaff eine Szene am Hof zwischen Vater und Sohn repräsentiert. Er spricht im vermeintlichen Charakter eines Königs: »Es gibt ein Ding, Heinrich, wovon du oftmals gehört hast, und das vielen in unserm Lande unter dem Namen Pech bekannt ist; dieses Pech, wie alte Schriftsteller versichern, pflegt zu besudeln. – So idealisiert ein Falstaff den Satz: Wer Pech anrührt, beschmutzt sich! So machte es die Predigt. Und doch ist mit diesem Beispiel nur der geringste Teil des Ärgernisses angedeutet. Falstaffs Grundgedanke ist gemein; zu verderben war bloß die einfache Form daran. Hier aber war das Einfache zugleich das Erhabene; die gänzliche Ohnmacht des Methodisten, aus seiner Gemeinheit sich zu erheben, schändete Form und Inhalt zugleich. Der elendste aller Gottesknechte ersetzte diesen geistigen Abgang durch physische Mittel. Nichts konnte alberner sein als die Art, wie er einzelne Grundsilben betonte und durch eine übermäßige Länge ihre Feierlichkeit nach dem Klaftermaße dehnte. Ein halbhundert Pendelschläge z. B. dauerte das Längenmaß der ersten Silben in holy oder glory. Solche Götterworte legte er förmlich unter Streckwalzen und quetschte sie zu Ewigkeitsdraht. Wenn er auf den devil zu sprechen kam (und er sprach von nichts anderm), so versank die Streckmaschine in einen Keller. Zu der Dehnung kam dann eine fürchterliche Hohlheit und Tiefe des Tons – in der Wirklichkeit ist kein Gleichnis dafür. Man muß es aus der Möglichkeit holen und sich vorstellen, eine ähnliche Klangfarbe gäbe es vielleicht, wenn ein Bär in das Spundloch des Heidelberger Fasses brummte. Aus diesem Bauchrednerbasse in die kreischendste Fistel umzuschlagen, war eins seiner beliebtesten Kunstmittel. Man glaubte einen verzweifelnden Hahn zu hören, der zwischen Mardern und Iltissen um die Integrität seines Harems schreit, wenn er im schneidendsten Falsett auf einmal den Aufschrei einer verdammten Seele losließ. Kurz, der Weihevolle schlug sich in Gedanken, Worten und Gebärden über alle Hindernisse der menschlichen Grenzen direkt zum Pavian durch.
Das war der Hirt. Und diesem Hirten entsprach die Herde. Die Herde steht hier ganz ohne Allegorie da. Sie war es wirklich. Zwar in der ersten Viertelstunde hielt die mitgebrachte Menschenhaut noch ihre Nähte. Aber bald fing sie zu platzen an. Zuerst brachte die Bußpredigt eine sonderbare, gewitterähnliche Unruhe unter den Zuhörern hervor, ein Zappeln und Trippeln von einem Bein auf das andere, ein Stöhnen, Seufzen, Wimmern und Schluchzen, gemischt mit einem fast zornigen Murren, das einem Aufruhrgemurmel glich – Aufruhr gegen den Teufel. Diese Geräusche erhoben sich nach und nach zu der Höhe des Lärmes. Wie man in einem schwülen Raum die Kleidungsstücke ablegt, so begannen die Seelen, die ins Schweißtreiben gerieten, sich zu lüften. Man verzweifelte, man verfluchte sich, man schrie laut die Namen derjenigen Laster umher, von denen man sich am schwersten bedrückt fühlte, und forderte andere auf, das gleiche zu tun, man schrie dem Prediger Beifall zu, ließ sich die kräftigsten Stellen wiederholen, brüllte sie im Chor nach, kurz, man betäubte sich gewaltsam. Einer Versammlung von Tausenden gelingt das wunderbar schnell. Im Nu waren die menschlichen Stimmen verschwunden, und ein Heulen, Blöken, Bellen, Grunzen, Miauen und Schnarren hub an, als ob eine Noahsarche im Schiffbruch begriffen wäre und alle Tiergattungen der Erde um Hilfe schrien. Dazu strampften die Beine, die Arme fuhren in die Luft, die Hände schlugen um sich, man schüttelte die Leiber, stieß, rieb, trieb, zwickte und zwackte sich, um der Teufelsaustreibung so gewiß als möglich zu werden. In diesem Tumulte gingen endlich die Donner des Predigers unter. Nur in einzelnen langgehaltenen Pausen schlug noch sein hohler Weheruf durch wie Glockensignale in einer feuerlärmenden Stadt. Zuletzt verhallte auch das – der Brand war fertig, das Schüreisen ruhte.
Ich stand da, von Scham übergossen. Die Unkeuschheit dieser Szene ließ mich bereuen, ein Mensch zu sein. Darum also mähte der Würgengel der Zivilisation die eingebornen Naturvölker vor sich her, um dieses Christentum nachzupflanzen! Ich sah unwillkürlich nach Westen aus, als müßt' ich der Staubwolke des letzten abziehenden Indianerstammes mich anschließen können.
Aber hier war kein Ort zu Betrachtungen.
Auf einmal schoß ein Schrei neben mir auf – ich prallte zurück wie vor einer Explosion. Jesus komm' herab! Jesus komm' herab! lärmte ein Knabe in meiner Nähe mit einer Lunge aus Granit. Und es genügte ihm nicht etwa der ein- und zweimalige Anruf, sondern er wiederholte diese Formel fort und fort, ungefähr wie unsere Kinder ihr: Maikäfer flieg' oder: Schmetterling, buntes Ding! auf warmen Frühlingswiesen rufen. Erstaunt fragte ich meinen Nachbar, wie es komme, daß der Mutwillige diesen Unfug sich erlauben dürfe und kein Erwachsener ihm wehre. Der Angeredete maß mich mit einem großen Blicke, dann hub er an: Es scheint, Sie sind fremd, mein Herr. Dieser tugendhafte Knabe lag schon gestern im brünstigen Gebete und will es mit des Allbarmherzigen göttlicher Hilfe zu einer Wiederbelebung bringen. Gebe der Himmel seinen Segen dazu! Aber die Kräfte des Leibes müssen mit aller Tätigkeit mitwirken, wenn die gebundene Seele ihre Fessel sprengen soll. Brav arbeitet er, der Kleine! Sehen Sie, wie ihm die Halsadern schwellen! Wie das Gesicht ihm anläuft! Er wird den wunderwirkenden Blutdruck aufs Gehirn früher zustande bringen als wir trägen Gewohnheitssünder. Er bringt es zu einem der glänzendsten reviews, geben Sie acht. Methodistenprediger will er werden, der Sohn der Gnade. Wir wünschen uns Glück dazu. Nie hatte ein Kind des neuen Landes bessere Gaben für diesen Beruf. Welch eine Lunge, mein Herr!
Während dieser Worte hatte ich den Knaben nachsinnend betrachtet. Es kam mir vor, als ob diese Lunge schon öfter geglänzt hätte. Wie war ich überrascht, ihn endlich zu erkennen – es war Hoby der Straßenjunge! – Es war derselbe Lump, der auf der Battery Schandschriften verkauft, der im tragischen Theater als Chef du succès spektakuliert hatte – zwei Begegnisse, von denen ich dir erwähnt, wenn ich nicht irre. Und zum dritten Male fand ich jetzt diese amerikanische Jugendblüte in den Wäldern Ohios als Kandidaten des geistlichen Lehramts!
Bei dieser Entdeckung ertrug ich die Scham meiner Anwesenheit nicht länger. Ich drängte mich sachte nach dem Ausgange zurück und gewann, obwohl mit einigem Aufsehen, das Freie. Ich sattelte mein Pferd und bestieg es. Eine Stunde von hier lag die pennsylvanische Grenze und Gadshill, wo Doktor Althof wohnte. Dort wollte ich Aufnahme suchen für die kleine Annette. Denn daß ich das Kind von dem Campmeeting entfernen müsse, verstand sich nach dieser Erstlingsprobe von selbst. Den Meier nötigenfalls zu beherrschen, war mein Recht und meine Pflicht. Um ihm Fertiges zu bieten, säumte ich keinen Augenblick, die Sache mit dem Doktor gleich abzumachen. Ich ritt davon und hörte, glaub' ich, zischen und grunzen hinter mir. Hobys Geschrei: Jesus, komm herab! tönte mir vor allem nach.
Aber nahe vor Gadshill begegnete mir Doktor Althof selbst, mit Poll dem Apotheker. Er ritt eben auch zum Campmeeting. Ich verwunderte mich, daß ihm seine Praxis erlaube, solchen Schauspielen nachzugehen. Er sah mich groß an. Gerade dort ist mein Posten jetzt, Herr Kollege – war seine Antwort; – schöne Apoplexien, Konvulsionen, Ohnmächten, Krämpfe, Neuralgien in allen Sorten und Mustern, kapitale Paroxysmen – was denken Sie denn von einem Campmeeting! Dabei wies er auf ein drittes Pferd, welches mit einer Feldapotheke bepackt, hinter den beiden Reitern hertrabte. Ich sah mir den Gaul mit einer Art von Respekt an; dies also war die Person, die in diesem Konventikel das letzte Wort hatte!
Ich versagte mir nicht, meinen Gefühlen über die Szene, von der ich soeben kam, freien Lauf zu lassen.
Die Religion, sagte der Doktor, ist in Italien ein Ballett, in Spanien eine Verschwörung, in Deutschland eine philosophische Liebe, in Amerika ist sie eine Maschine von soundsoviel Pferdekraft.
Ich verwundere mich überhaupt, war meine Antwort, daß die hiesige Menschheit nicht längst sich eine neue Religion gegeben. Das Christentum ward der leidenden Welt verkündet, der Sehnsucht nach dem Jenseits; hier haben wir ein Reich der Tat, eine leidenschaftliche Befangenheit im Diesseits, eine absolute Unfähigkeit zur Vertiefung und Verinnerlichung. Lauter Gegensätze zum Christentum. Amerika braucht eine eigene Religion.
Ich glaube, es bekommt sie auch noch, sagte Althof; das Volk arbeitet an allen Punkten daran. Was bedeuten diese Hunderte von Sekten, die täglich entstehen und vergehen, anders, als das Suchen nach einer nationalen Form der Religion?
Der Apotheker lächelte schalkhaft. Ich sah ihn befremdet an, da hier zunächst kein Anlaß zur Heiterkeit gegeben war; der Doktor bemerkte beides und gab mir mit der besten Miene folgende Erklärung: Herr Poll denkt an meine gewesene Braut, jetzige Prophetin im Killanytal. Wohlan, wenn Sie geneigt sind, ein Pröbchen von amerikanischer Religionsmache zu hören – die Geschichte ist diese: Ich hatte meine Mina aus Deutschland mitgenommen in der Absicht, unsere Ehe zu vollziehen, sobald mein Wirkungskreis ein gesicherter würde. In der Dauer dieser Wartezeit verschwand mir auf einmal das Mädchen. Niemand wußte, wohin? Sie hatte mir zwar Zeilen zurückgelassen von entweder freiwilliger oder unfreiwilliger Mystik des Stils; genug, ich konnte alles drin lesen, ich las aber, da ich überhaupt kein weibliches Motiv einer solchen Flucht kenne, gar nichts darin. Ich zählte das Mädchen zu jenen Entarteten, die den ungeheuren Übergang von der alten zur neuen Welt moralisch nicht bestehen, und vergaß sie. Die Kleine hatte sich aber, in aller Stille gereift an der hiesigen Humbugluft, folgendes Plänchen ausgedacht: Sie lief nach Philadelphia und nahm Kondition in einer Modewarenhandlung. Da sie in ihren neuen Verhältnissen nur Deutsch sprach, so war die unterste Stelle, die schlechteste Gage und eine demgemäße Behandlung ihr Los. Dieses Los schien ihr sehr nahe zu gehen. Nach reicherer Sprachkenntnis sah man sie das heftigste Verlangen tragen. Sie ließ sich berechnen, was englische und französische Lektionen kosten möchten. Sie sparte mit peinlicher Entsagung, verzweifelte an der Unzulänglichkeit ihrer Mittel, raffte sich wieder auf, erlahmte von neuem, man sah sie stundenlang ihr Unglück beweinen, sie rief die Kraft der Religion zu Hilfe, warf sich in die Arme der Konventikeln und Missionen, ja ihre Lippen fingen oft mitten im Verkaufsladen zu beten an. Da rauscht eines Tags ein glänzendes Bukett von Aristokraten des »alten Landes« in ihren Basar. Herren und Damen, Kinder und Bediente bezaubern ihr Ohr mit der Musik der heiß ersehnten Sprachen. Die arme deutsche Magd lauscht wie auf das Säuseln der Gottheit. Ihr Herz schwillt, sie vergißt sich, statt zu servieren, fängt sie zu beten an. Die Direktrice begegnet ihr streng, sie bricht in einen Tränenstrom aus. Die Direktrice weist sie voll Zorn und Verlegenheit fort, da wird das Maß der überreizten Seele voll. Ekstatisch fällt sie auf die Knie, ringt die Hände und fleht in dem imposanten, sinnlos-erhabenen Schwall ihrer Missionsmystiker den Himmel um seinen Beistand an. Das Wunder geschieht. Verklärt springt sie auf. Sieg leuchtet ihr seherisches Auge, sie öffnet den Mund, die Sprache der Staël und der Martineau sprudelt wie eine Kaskade über die gottbegnadeten Lippen. Der Salon erstarrt. In einer Minute hat Fama ihre Lauffeuer angezündet, das Volk sperrt die Straße, selig, wer zuerst die neuen Sprachlaute der neuen Prophetin vernimmt; Kranke lassen sich ihre Hände auflegen, der Saum ihrer Kleider wird geküßt. – In einem Tale Pennsylvaniens, wohin sie der Einladung eines Gläubigen folgte, ist sie jetzt Prophetin. Sie bewohnt einen Palast und fährt mit Vieren und zählt ihre Gemeinde nach Tausenden. Aus diesem Glanze heraus – denn wunderbar ist das Frauenherz – hat sie mir wieder ihre Hand angeboten; zum Danke für soviel Treue gelobt' ich ihr auf ewig jenes Mädchenpensionat zu verschweigen, in welchem sie Französisch und Englisch gelernt. Haben Sie aber Lust, einen Kopf voll Tiefsinn und Vernunft zu riskieren, so gehen Sie in das Killanytal und zweifeln Sie an dem Pfingstwunder der Miß Mina. Der Yankee schlägt sich für sie, wie nur ein Mensch für das Göttliche kämpft. Die witzige Ladenmamsell ist ein Teil des amerikanischen Logos geworden.
Ich antwortete: Wo die Menschheit in so verzerrten Zügen auftritt wie hier, da bleibt nichts anders übrig, als sie zu begreifen. Denn nur holde Rätsel läßt man sich gefallen, ärgerliche muß man wenigstens auflösen, um sie erträglich zu machen. Ich kann die Möglichkeit dieses plumpen Wunderglaubens einsehen. Das Volk hat nun einmal keine Vergangenheit. Warum sollte es vergangene Wunder haben? Es will gegenwärtige! Es ist zu praktisch, zu ungeduldig, um nicht selbst zu leisten, was andere Menschen, was andere Zeiten auch geleistet haben. Seine einzige Geistesnahrung, die Bibel, stellt ihm ein auserwähltes Volk mit seinen Propheten auf. Man denke sich dabei die Gärung in einer amerikanischen Brust! Bekanntlich ist Bruder Jonathan sich selbst das auserwählteste aller Völker. Der liebe Gott sollte mit Juden umgegangen sein und mit Amerikanern nicht umgehen wollen? Konkurrenz! Wahrlich, das Wort darf uns nicht zu profan sein, es ist auch hier das wahre Schlagwort der Sache.
Ich möchte sagen, der Amerikaner verhält sich zur Bibel wie Don Quixotte zu seinen Ritterbüchern – sans comparaison! – warf Poll juvialisch hin.
Sehr richtig! sagt' ich mit lebhafter Zustimmung. Don Quixotte fühlt sein eigenstes Wesen sich erklärt und enträtselt im Unschaun seiner romantischen Vorbilder. So sind auch dem Amerikaner die biblischen Wunder ganz aus der Seele gesprochen. Geht er doch allenthalben darauf aus, die Natur zu überwinden, und wo wäre sie gründlicher überwunden als im Wunder? Meine Herren, sehen wir genauer hin, es herrscht die natürlichste Wahlverwandtschaft zwischen den neuamerikanischen und altjüdischen Humbugern!
Sollte der künftige Islam dieses Weltteils nicht überhaupt Humbug heißen? fragte der Doktor.
Wenigstens, antwortete ich, ist dieser Ausdruck der erschöpfendste für den amerikanischen Nationalgeist; und um den Nationalgeist handelt es sich ja in der neuen Religion, von ihm sind wir ja ausgegangen. Das ist's, was die kleinen Sekten-Humbuger reüssieren läßt: daß sie diesen einen Nerv glücklich berühren. Es fragt sich dabei gar nicht, wie überall, um die Authentizität ihrer Wunder; ihr Wunder ist, die Eigentümlichkeit des Volksgeistes zu erraten. Nicht die Wahrheit ist glaubwürdig, sondern dasjenige Märchen, das den Märchengeschmack am besten errät. Tritt nun nach diesen kleinen Humbugern ein Groß-Humbuger auf, der nicht einen, sondern alle Nerven zugleich berührt, die ganze Klaviatur des Volksgefühls auf einmal spielt, so ist die neue Religion fertig, die Sekten münden in sie wie die Nebenflüsse in den Mississippi. Sie haben das Wort »Islam«, fuhr ich fort, glücklich gebraucht. Der Islam ist eine Redaktion der Bibel und des Evangeliums in arabischen Formen, gestützt auf die Überlieferungen des Volks und die Persönlichkeit des Propheten. Das ungefähr ist's, worauf es hier ankommt. Bibel und Evangelium werden auch dem amerikanischen Mohammed die Grundlage liefern: wesentlich wird aber immer die Umdichtung in amerikanische Formen, die Befriedigung des kolossalen amerikanischen Nationalpathos dabei sein. Und in diesem Sinne werden wir die hiesige Zukunftsreligion ohne alle Frivolität Humbug nennen dürfen. Sie wird eine Religion des Unternehmungsgeistes, der Eroberung, eine Religion go ahead sein. Sie wird das: liebe deinen Nächsten wie dich selbst, so lange nationalisieren, bis ein help your selp! daraus wird. Kurz, sie wird national sein. Dieses Moment darf keiner Religion fehlen, vielmehr ist es der innerste Kern und das tiefste Bedürfnis einer jeden. Die Römer und Griechen hatten kein Nationalgefühl mehr und die Germanen hatten's noch nicht, als sie ihre heutige Religion annahmen. Hier stehen die Sachen anders. Es ist eigentlich die größte Anomalie, daß das Volk nur die Stempelakte und nicht auch die Religion des Mutterlandes abwarf. In seinen Verhältnissen kann es gar nichts brauchen von Europa. Der Grund ist einzig, daß man Religionen nicht so schnell macht wie Konstitutionen, obwohl man auch diese mitunter zu schnell macht. Aber eben darum steht der Islam Amerikas noch bevor.
Bis dahin, sagte der Doktor, müssen wir freilich methodistische Tobsucht und puritanische Starrsucht für unser liebes altes Christentum gelten lassen. Unsereiner steht sich am besten dabei. Man wird ordentlich Doktor der Medizin und Theologie zugleich bei diesen christlichen Suchten.
So unterhielten wir uns, indem wir über dieses Stück amerikanische Erde ritten. Unsere Zungen lechzten, unsere Pferde suchten ohne alle Anleitung den kurzen Schatten am Wegsaum. Wir waren froh, das Waldlager zu erreichen. Das Geschrei: Jesus komm herab! ertönte noch immer. Fast zwei Stunden war ich abwesend gewesen.
Als wir unsere Pferde abgezäumt hatten und in die Wagenburg eintraten, fand ich vieles verändert. Die ganze Menschenwoge lag nicht mehr breit über den vorhandenen Raum ausgegossen, sondern zugespitzt wie zur Springflut; alles kulminierte in einem dichtgedrängten Kreis. Der Kreis war inwendig hohl; drinnen erscholl jetzt die Stimme: Jesus komm herab! aber die umgebende Menge verhielt sich schweigend. Hoby, der Straßenjunge, war zum Mittelpunkt der Andacht geworden. – Ich merke, er sitzt auf dem »Angststuhl«, sagte Doktor Althof – bitte, Poll, reichen Sie mir das Besteck, wenn ich etwa eine Ader schlagen müßte. Erschrocken machte ich Fragen, aber Althof antwortete: Wir werden sehen, mein Herr. Er und der studentische Poll betrugen sich auf einmal knapp und gemessen. Unter den Amerikanern nahmen sie ihre amerikanische Miene vor.
Wir drängten uns aus der Peripherie des Menschenknäuels mutig ins Zentrum durch. Die Szene hier war folgende. Hoby saß in der Tat auf einem niedern Stuhl, nach der vorigen Äußerung, dem Angststuhl. Der Prediger und sein Gehilfe standen ihm links und rechts zur Seite und hielten oder vielmehr rüttelten und schüttelten ihn wie ein Sieb, um seine wundertätigen Zirkulationen zu befördern. Er lag oder streckte sich in ihren Armen und tat, zwischen den Ausrufungen an Jesu, seine Wiederbelebungsbeichte. Ich habe gestohlen – Jesus komm herab! ich war unzüchtig – Jesus komm herab! – ich entweihte den Sabbat – Jesus komm herab! usw. So oft er eine Sünde nannte, stieß er heftig mit dem Bein, gleichsam unter Fußtritten sie verabschiedend; bei der Formel: Jesus komm herab! fuhr er dagegen mit der Hand in die Luft, wie Macbeth, der nach dem Dolche hascht. Diese Gebärden lösten sich fast kanonisch-regelmäßig einander ab: es sah aus wie Maschinenarbeit, wie Drahtpuppenbewegung. Ein ähnliches Manöver wiederholte er mit der Stimme. Das Bekenntnis einer Sünde stöhnte er dumpf und röchelnd wie ein Sterbender, den Refrain: Jesus komm herab! stieß er gellend heraus wie im aufschreienden Schmerzgefühl. Dabei atmete sein heiserer, offen stehender Schlund kurz und lechzend, seine Augen rollten wild, sein Gesicht war aufgedunsen, verdummt und verquollen, Schweiß und Schaum bedeckte es reichlich. Die Umstehenden blickten mit großer Andacht auf dieses Bild des Abscheus.
Ich wendete geekelt das Auge davon. Wäre es möglich gewesen, das dichte Gedränge von Menschen zu durchpirschen wie ein Walddickicht, so hätte ich sogleich die Familie Ermar aufgesucht. Ich brannte vor Ungeduld, mich zu überzeugen, daß ihre deutsche Natur entweder selbst schon abgeschreckt sei oder mindestens meine Sorge für Annette gutheiße. Zufällig standen sie mir näher, als ich ahnte. Indem ich den Kreis überblickte, sah ich Vater, Mutter und Kind an einem mir entgegengesetzten Punkte des Zirkels in den vordersten Reihen stehen. Annette hielt sich ihr Taschentuch vor die Augen, weil ihr die Sonne grell ins Gesicht schien oder um sich vor dem barbarischen Schauspiele der Wiederbelebung zu schützen. Ich mochte gerne das letztere glauben. Die Mutter stand etwas zurück, ich sah nur ihre vorgestreckten Hände auf Annettens Schultern ruhen. Ich suchte mich zu nähern. Ich rückte sachte aber beständig von meinem Platz dem ihrigen zu. Von Zeit zu Zeit gab ich Winke meines Daseins. Endlich wurde ich bemerkt. Annette fuhr bei meinem Anblick freudevoll auf, sie sprang aus der Reihe und rief mir voll Selbstvergessenheit zu: Ach, Herr Bruder, laß uns gehn! Ich erschrak nicht wenig. Fern, wie ich noch war, gab ich ihr ein Zeichen der Beschwichtigung. Aber das Unglück packte sie schnell. Der schwarze Prediger warf sich ihr entgegen und donnerte sie an: »Halt, junge Sünderin, wohin? Warum willst du fort? Steh' und verantworte dich: Bist du für Gott oder für den Teufel? Annette bebte zusammen. Sie wurde brennend rot, schlug das Auge nieder, zitterte heftig und antwortete wie ein erschrockenes Kind: mit Tränen. Das sinnloseste aller Tiere hielt diese Stummheit für Verstocktheit. Schreib' sie in das Buch des Teufels! brüllte der Pfaff seinem Schreiber zu. Da fuhr sich das Mädchen an die Stirne, ein durchdringender Schrei, ein Riß durch alle Gesichtsmuskeln, sie stürzte zu Boden.
Man sagte mir, ich habe wie eine Tigerkatze an der Kehle des Methodisten gehangen, und zwei Parteien haben mich wechselweise beschützt und geprügelt.
Ich kam wieder zur Besinnung; Annette nicht mehr. Der Schlag hat ihr Gehirn gelähmt; sie deliriert.
Man will das unglückliche Kind in das Irrenhaus zu Columbus bringen. Das Irrenhaus zu Columbus hat eine Fassade von Säulen und Pilastern, eine prächtige Marmorbekleidung und ist, wie alle Narren- und Zuchthäuser dieses Landes, das schönste Gebäude seiner Stadt. Wenn dich der Direktor darin herumführt, so wird er sein respektvollstes Nationalgesicht vorlegen und in seinem langweiligen Englisch feierlich perorieren: Dieses Haus ist errichtet worden und ausgestattet von den Beiträgen großmütiger Bürger des Staates Ohio zum Heile derjenigen unserer leidenden Mitchristen, welchen der göttliche Ratschluß die Gesundheit des Geistes entbehren läßt. Es enthält dreihundert Wohnungen, Betsäle, Lesesäle, Badesalons und einen Garten von fünfzig Acre Landes. Es wird ärztlich geleitet von dem sehr ehrenwerten Herrn Doktor Jehadiah Bykbookbeaker, die Kosten seines jährlichen Unterhalts betragen die Summe von hunderttausend Dollars. Die Einrichtungen und Zustände der Anstalt sind solche, welche den Fortschritten der Wissenschaft, der Blüte des Staates Ohio, dem Ruhme unsrer großen und erleuchteten Nation in allen Teilen entsprechen. Unsre Wohltätigkeitanstalten sind der Stolz unsers Landes.
Aber wie sie sich füllen, sagte er nicht.