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Von böhmischen Dörfern spricht der Deutsche, wenn er unbekannte, unverständliche, seltsame Dinge meint.
Zweierlei wird zur Erklärung der Wortverbindung angeführt: erstens sollen die tschechischen, im früheren Sprachgebrauche böhmische Dorfnamen, dann die fremde Sprache überhaupt, nach unseren Sprachforschern deutschen Ohren fremd liegen; zum andern wird, besonders von älteren Geschichtsschreibern, auf die Seltenheit und den Zustand der böhmischen Dörfer in der Hussitenzeit hingewiesen, z.B. in den »Hussitenkriegen« des Schlaggenwalder Humanisten Zacharias Theobald aus dem Jahre 1621: »Es war das Land alles verderbt, also dass noch ein Sprüchwort von einem unbekannten Ding ist: Es seyn bohemische Dörfer.«
Diese Redensart, die mehr unter den Gebildeten als im Volke üblich ist, mag entstanden sein, als die böhmischen Länder das meiste Aufsehen bei den Deutschen erregten: also in den Zeiten der Luxemburger und der Hussiten; damals kamen die Deutschen mit den Reichsgenossen in Böhmen am häufigsten in Berührung. Eine Herabsetzung oder gar ein Spott liegt in dem geflügelten Worte kaum, denn in früheren Zeiten verstand der Schwabe beispielsweise den Niedersachsen ebenso wenig wie den Böhmen.
Zum ersten Mal erwähnt wird das Wortbild im »Froschmeuseler« des Georg Rollenhagen gegen Ende des 16. Jahrhunderts; gelegentlich eines alchimistischen Gesprächs heißt es in dieser Tierdichtung:
»Ich sagt ihm, das bei meinen eren
mir das böhmische dörfer weren.«
Seit dem Dreißigjährigen Kriege kommt die Redensart dann immer häufiger vor, wird später in der Blütezeit unserer Dichtkunst von den Großen und Kleinen nicht selten verwendet und ist auch heute noch gang und gäbe. Eine vergnügliche Beschreibung dieses, wie Klopstock einmal meinte, gemeinen Ausdruckes gibt der Vielschreiber Gutzkow: »Bei dem einen sieht ein böhmisches Dorf so aus wie das, wovon gerade die Rede ist, beim andern wie ein Satz aus der Naturgeschichte, beim dritten wie der Pythagoräische Lehrsatz, beim vierten wie die Theorie der Gleichungen vom vierten Grade, beim fünften, einem Minister, wie sein Portefeuille, beim sechsten wie etwas, was man schon wieder vergessen hat oder, bei musikalischen Referenten, wie etwas, wovon man nichts versteht.«
Merkwürdig sind die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in immer bunterer Abwechslung auftauchenden Nebenbildungen zu unserer beliebten bildlichen Wendung: zuerst kommen arabische Dörfer vor; bald darauf – eine Verquickung der böhmischen Dörfer mit den weit verbreiteten sinnverwandten Wörtern: Das kommt mir spanisch vor – die spanischen Dörfer, die wohl zuerst in Goethes »Werther« erscheinen: »Das waren dem Gehirne spanische Dörfer.«
Oft werden nun Böhmen und Spanien im Bilde zusammengekoppelt; über die Gedichtzeilen des Hainbündlers Voß im Göttinger Musenalmanach:
»Fremd wie Böhmen und Spanien
sahe das Mädchen mich an,
unter blühenden Kastanien
stand ich lauschend und sann«
machte sich der romantische Kunstrichter August Wilhelm Schlegel mit den folgenden Worten lustig: »Die doppelte Fremdheit lässt sich auf den Vers selbst zurückwenden, und wenn eine andere Lesart stünde, so würde es, denke ich, den Lesern weder viel böhmischer noch spanischer vorkommen, als wie es jetzt lautet.«
Doch die Deutschen hatten mit den bisherigen Dörfern immer noch nicht genug. Ein neueres jüdisch-deutsches Seitenstück sind die polnischen Dörfer, und aus dem 19. Jahrhundert stammen noch die ägyptischen Dörfer. Seit Herder spricht und schreibt man endlich auch neben tiefen und wilden Wäldern sogar von böhmischen Wäldern, wenn man etwas Verworrenes oder Unbekanntes bildlich ausdrücken will.
Hoffentlich ist unser geflügeltes Wort, seit langer Zeit selber etwas rätselhaft, den lieben Lesern nun nach meinen Zeilen kein böhmisches Dorf mehr!
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