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In der Böhmerwaldstadt Prachatitz, dem mittelalterlichen Salz-Umschlagsplatze an dem Wege von Passau nach Böhmen, der als »Goldener Steig« bekannt ist, läutet tagtäglich auf dem Turme der Stadtkirche um zehn Uhr die sogenannte Säumerglocke in die Nacht hinaus; dieser alte Brauch ist den Einheimischen lieb und bereitet den Fremden, die heute anstatt der Salzsäumer die Stadt gerne aufsuchen, viel Freude.
Gewöhnlich macht der freundliche Gastwirt die Fremden auf das Läuten aufmerksam und erzählt ihnen dabei allerhand von der Säumerglocke, besonders wenn sie sich im Gasthof »Zur Säumerglocke« aufhalten; nachher kann man in den vielen Schriften über den Böhmerwald Schilderungen der Art lesen, wie sie etwa in Franz Höllrigls nun 50 Jahr altem Büchlein »Aus dem Böhmerwald« stehen: »Die Säumerglocke rief in den glücklichen Tagen des Goldenen Steiges, als noch in zahlreichen Handelskarawanen auf Saumrossen die Waren durch den Böhmerwald gingen, die verspäteten Säumer. Eine Stunde lang tönte in früheren Zeiten diese Glocke, bis auch der letzte Verirrte den Pfad zur Stadt gefunden hatte.« Ähnliche Fabeleien sind früher oder später immer wieder aus einem Buch ins andere abgeschrieben worden.
In Wirklichkeit wurde die Glocke in vergangenen Zeiten aus ganz anderen, viel verständlicheren Gründen geläutet: sie ist eine alte Sperrstundglocke, wie sie nach unseren Wörterbüchern und einschlägigen Werken (besonders Paul Sartori, Das Buch von den deutschen Glocken, 1932) in vielen Gegenden in Brauch gewesen sind; in alten deutschen Quellen hießen sie »Bierglocken«, bei den Süddeutschen »Hussausglocken« und in den böhmischen Ländern manchmal »Holomekenglocken« (das tschechische Wort holomek bedeutet Lump, hier wohl im feuchtfröhlichen Sinne, dann aber auch Gerichtsdiener). Die Einheimischen verwenden im Allgemeinen den Ausdruck Säumerglocke nicht; in der Stadt heißt das Geläute »'s Zehne-Läuten« oder häufig auch noch wie in früheren Zeiten »'s Lump'nglöckl«; nur Fremden gegenüber gebraucht man gerne den neueren Namen Säumerglocke in der schriftdeutschen Lautform.
Jeder Prachatitzer weiß gut, dass man die Glocke nicht weit in der Umgebung hört; auch dass sich in den Wäldern im Umkreise der Stadt kein Salzsäumer verirren konnte; wer sich endlich einmal die gut erhaltenen Reste des Steiges, tiefe, gepflasterte Hohlwege am Abhange des Schwarzberges, im Volk »Samerweg« genannt , angesehen hat, glaubt die Fabel vom Verirren bestimmt nicht. Wohl aber drohten den trinkfreudigen Salzsäumern Gefahren in den vielen Gasthäusern unserer Stadt im Beisammensein mit den recht gemütlichen Prachatitzern; so schrieb denn auch ganz richtig Karl Pröll in seinem schönen Büchlein von den »Vergessenen deutschen Brüdern«, dass die Glocke »einst die in der Stadt wohnenden Treiber und Salzspediteure mahnte, nicht zu spät in die Herberge zu kommen und guten Durstes zu sein.« So ähnlich, nur etwas amtlicher, hat es nach Grimm schon in der alten Erfurter Stadtordnung geheißen: »Dass niemand nach der bierglocken in den schenkhäusern bleibe.«
Ein alter Brauch, sonst wohl überall schon abgekommen – in einigen anderen Orten am alten »Goldenen Steig« wird er noch geübt – hat sich also in Prachatitz in unsere Zeit herübergerettet, in der er keinen rechten Sinn und Grund mehr hat; heute besorgt der Gemeindepolizist in mitternächtlicher Stunde das Geschäft der alten Sperrstundglocke. Wider besseres Wissen deutet man aber den alten Brauch aus einer Art Heimatstolz heraus immer wieder gern als »Säumerglocke«; so hat sich die Schlauheit der Prachatitzer, die stark auf den Fremdenverkehr angewiesen sind, einen sinnlos gewordenen Brauch zu Nutze zu machen verstanden. Über die Umdeutung erzählt Josef Meßner, seines Zeichens Wirt in »Meßners Gasthof«, der seit Beginn unseres Jahrhunderts »Säumerglocke« heißt, in seinem Buche »Prachatitz, ein Städtebild«, zum erstenmal erschienen 1885, dass »irgend ein Romantiker zu Anfang der vierziger Jahre der Glocke den Namen beigelegt habe, der vollkommen aus der Luft gegriffen sei.«
Während des großen Krieges war es schon so weit, dass die Glocke abgenommen und weggeschafft werden sollte; doch gelang es der Fürsprache einiger maßgebender Männer im letzten Augenblicke, die Glocke und mit ihr wohl auch den alten Brauch der Stadt zu erhalten, was damals nicht überall geschehen ist. Seither hat der Brauch sogar noch eine Neubelebung erfahren: unsere strebsamen Lichtbildkünstler bringen um die Wette ganz schöne Karten der Kirchturmluke mit der Glocke heraus – und die Fremden bekommen diese Karten mit der sogenannten Säumerglocke als liebe Erinnerung an Prachatitz, das »böhmische Nürnberg«, angehängt.
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