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Das Dorf ist am östlichen Saum eines Waldgeheges belegen, die Landstraße, die hindurch führt, ist ziemlich gewunden, so daß die Bäume bald nah, bald fern sind und man nur an wenigen Stellen tiefer in die grüne Waldeinsamkeit hineinsieht. Der Kirchort ist auf der andern Seite. Dahin leitet ein Weg um den Forst herum, denn durch den Wald selbst ist der Wagenverkehr nicht erlaubt, da darf man nur gehen. Aber auch dafür sind die guten Untertanen dankbar, denn in dem schönen Eichen- und Buchenwald ist es herrlich. Friede bedeckt mit tiefem Schweigen eine halbe Geviertmeile einsamen Glücks.
Nach Einsamkeit, Glück und Frieden siehts auch im Dorf aus. Die Häuser kümmern sich nicht um die Welt, sie sehen hinten weg in die Gärten und Wischhöfe, der Landstraße kehren sie Dielentür und Stallende zu, was ihnen vom Wege her ein heiter verschmitztes Aussehen gibt – just, als ob die Giebelgesichter sich ihrer Dachbodengeheimnisse erfreuten.
Dachbodenstille!... Es ist ein heller, warmer Tag, wir wollen hinaufklettern und sehen, was es damit auf sich hat. Und wir liegen auf dem Rücken im Heu hingestreckt, warten der Wunder und lachen der Sonne, die durch den herzförmigen Giebelausschnitt einen feinen, goldenen Strahl in die dämmernde Stille schickt.
Es ist richtig, da sitzt sie, da sitzt die Stille in Person und spinnt. ES ist ein großes, schönes Weib, sie hat strahlende Augen und jenes tiefschwarze, elektrisch geladene Haar, woraus die Funken knistern, wenn eine liebende Hand darüber streicht. Ihr Kleid ist aus halbwelken Blumen, gelben Ranunkeln, braunen Distelköpfen und aus Heu zusammengenestelt – ich meine jenes weiche, sonnenhafte Heu, das auf hohen Sandadern inmitten morastiger Wiesen geerntet wird. Die Schöne sitzt im Lattengerüst auf dem Hahnenbalken und spinnt... summ, summ!... auf einem großen schemenhaften Gespensterspinnrad von dem gelben Heu einen Faden, in allen Farben schimmernd, wie der Einschlag ihres Gewands. Eine kleine niedliche Katze ist schmeichelnd im Kleid der Herrin vergraben, man sieht nur das saubere Köpfchen; eine andere, ein großes schwarzes Tier, ein Ungetüm mit leuchtenden Pupillen, hockt neben ihr frei auf dem Balken und leckt sich die Lippen mit roter, blutdürstiger Zunge. Laßt mich ein wenig von einem lieben Jungen erzählen, der die Dachbodenstille kannte.
Er war des Ortswächters und Dachdeckers Jasper Wieck und seiner Frau Wieb gebornen Reimers einziger Sohn; in des Vaters Kate, ›Ellernbusch‹ genannt, wuchs er auf. Früh dachte er darüber nach, wie er sein Leben einrichte. Er hatte wahrgenommen, daß alle Leute etwas waren, und sah ein, daß auch er etwas werden müsse. Am liebsten wäre er Hofbesitzer geworden wie Harm Kühl, aber daran hinderte ihn, wie die Mutter sagte, das liebe Geld, oder vielmehr der Mangel daran.
Nun wollte er Bettler werden. Da kam ein alter Mann nach dem Ellernbusch, der Stühm hieß, und noch einer, der Stopp genannt wurde. Beide bettelten, Stühm mit Gesang, Stopp ohne Musik. Stühm hatte früher einen großen Bauernhof gehabt, Stopp sollte studiert und dann das Uhrmachergeschäft erlernt haben. Nun trieben sich beide an warmen Sommertagen auf den Dörfern umher, verschwanden im Winter und erschienen wieder mit dem Schwirren der ersten Lerche. Heini legte sich die Frage vor, ob er erst studieren, dann Uhrmachen lernen und darauf betteln wolle. Am liebsten wollte er mit Gesang betteln. Aber die Mutter sagte: »Pfui, betteln? Betteln ist gar nicht nett.« Da gab er den Plan, Stopp oder Stühm zu werden, auf.
Nun wollte er Butterkerl werden. ›Butterkerle‹ nannte man die Handelsleute, die bei den Bauern Butter aufkauften, in Hamburg absetzten und dafür Kolonialwaren wieder ›herunterbrachten‹. Im Ellernbusch sprach Balster vor, ein Optimist und mittelgroßer Mann in gelbem Leder, etwas fett und fettig, wie es das Geschäft mit sich bringt. Er fuhr auf einem blauen Wagen, worüber auf Reifenrippen ein angeblich weißes Laken gespannt war. Auf dem Ganzen lag ein gewisser Glanz, wobei nicht allein der eigentümlich blänkernde Schwanz des großen schwarzen Pferdes, sondern auch Balsters gelbe Lederhose beteiligt war. Denn auch in dieser Lederhose spiegelte sich, namentlich in der Gegend sprossender Formenfülle, eine freundliche Sonne.
Balster kam alle drei Wochen vorgefahren, trompetete dem gut eingefahrnen Schwarzen sein Brr! zu, warf die Zügel lässig über die Wagenleiste, sprang flink mit Bütte und Besemer vom Wagen und fragte: »Wieb, wovel hest?«
Manches hatte Heini an Balster auszusetzen, aber Butterkerl wollte er doch werden. Er hatte es Balster versprochen und außerdem fuhr er, wenn er Butterkerl wurde, nach Hamburg und kriegte ein schwarzes, blänkerndes Pferd. Aber wieder mußte er seinen Entschluß ändern, nachdem er gesehen, wie Balster seine Butter verlud. Nun wußte er auch, weshalb des Schwarzen Schwanz so glänzte und woher die freundlichen Lichterscheinungen in Balsters Beinkleid kamen.
So blieb alles im Ungewissen. Bei Gorg Bünz (Georg war sein Spielkamerad) war von Anfang an alles klar, der wollte Zimmermann werden wie sein Vater; Hein Wieck dagegen spielte und sinnierte in den Tag hinein.
Als sein Alter die First von Harm Kühls Kuhhaus mit neuen Soden belegte, nahm er seinen Sohn mal mit hinauf. Die Freiheit, die Reinheit, die Verklärung der Höhe gefiel unserm Heini, die Erhabenheit machte ihn stolz, nun wollte er Dachdecker werden wie sein Vater. Aber Jasper sagte. »Das ist heutzutage kein Geschäft mehr. Zimmermann sollst werden, dann kommst auch hinauf.« Damit war Hein denn auch zufrieden.
Wenn die Dorfkinder aus der Schule kamen, mußten sie bei der Gehegpforte an der krummen Eiche vorbei. Platz und Eiche standen in hohem Ansehen. Ein kleiner, rascher Bach kam aus dem Gehege, umgabelte ein Dreieck, die Buchen des Waldes setzten sich auf diesem Wegstück fort, große Steinfindlinge, worauf gut zu sitzen war, lagen umher. Quell- und Waldeskühle ringsum, und die krumme Eiche in der Mitte. Sie trug gerade über den größten Steinen ihre Krone empor.
Keiner wußte, wie es gekommen, daß sie so krumm war. Mächtig und stark und dick war ihr Stamm, mit großer Gewalt löste er sich aus dem Knorrennetz der Wurzeln, rankte, einem unförmlichen Schlinggewächs vergleichbar, erst über den Erdboden hin und machte dann seinen Bogen (›den gibts nicht wieder‹, sagte Gorg Bünz), strebte in die Höhe und wurde ein mächtiger Baum.
Die Kinder saßen auf der krummen Eiche. Gorg Bünz fing aber eines Tages an, darauf herum zu reiten, daran zu hämmern, zu klopfen, zu messen, den Bogen zu bewundern, und kam schließlich damit heraus, sobald er Zimmermann geworden, wollte er die Eiche kaufen, entzweisägen und zu Felgen für Wassermühlen verarbeiten. Damit lasse sich viel Geld verdienen, sagte er.
»Dat schast ni!« schrie ihn sein Zukunftskollege Hein Wieck an. »Dor hest du gor nix awer to seggn«, erwiderte Gorg. So kamen sie in Streit und prügelten sich.
Sie waren noch im besten Prügeln, als der Großknecht von Harm Kühl, Tete Tietgens, des Weges kam. Er trennte sie, wie man ein paar Köter, die sich verbissen haben, trennt. Er nahm sie landesüblich beide am Ohr.
»Was habt ihr?« fragte er.
Die Kinder erzählten durcheinander, endlich hatte er es raus. »Da hat Hein ganz recht«, entschied er. »Was du willst, Gorg, ist 'n dummer Streich. Die Eiche bleibt, wo sie ist.«
Den längsten Schulweg hatten Hein Wieck und die Zwillingsschwestern Antje und Rieke Kühl, Töchter des Hofbesitzers Harm Kühl vom Holm; die drei gingen meistens miteinander nach Haus. Antje hatte blondes Haar, Rieke war dunkler, lebhafter.
Beim Holm schlugen Hofhunde an, wenn Heim vorüber ging. Der Holm war anders als die andern Häuser – großzügiger, eindrucksvoller, der Holm war ein großer Hof. Da kam erst eine Eichenallee; dann um den Hofplatz, um Viehhaus und Scheune herum Eschen, vor der Haustür (der Holm sah ausnahmsweise nach der Straße hin) am Weg waren wieder Eichen.
Die Ellernbuschkate lag noch zwei Minuten weiter, sie schob ihre Pflaumenbüsche in das Ellerngestrüpp des Geheges hinein, auf dem Wall am Weg wuchsen Schlehen, das Hausdach war niedrig, zwei Dachstühle steckten auf halber Höhe, die Wände waren weiß gekalkt; vor der sogenannten Blangdær (Seitentür) reckte sich ein steifer, hochmütiger Sodbaum.
Antje und Ricke und Hein wurden zusammen konfirmiert.
Wenn Hein Wiecks Mutter am Leben geblieben wäre, dann wäre er wohl gleich Zimmermann geworden. Aber die Mutter war krank, schon lange krank und starb gerade in den Tagen, wo ihr Sohn ins Leben hineingehen sollte. Es war Hein Wiecks schwerste Stunde.
Es geschah in der Nacht, Hein war allein bei ihr (der Vater versah sein Wächteramt), als sie verschied. »Ich hab die Großmutter gesehen«, hat die Kranke plötzlich gerufen, »sie stand in der Tür und winkte, kam mich zu holen. – Es muß geschieden sein, mein Hein. Um den Vater sorge ich nicht, aber dich mache der liebe Gott glücklich und brav, ich werde ihn hart darum angehn.«
Und Hein Wieck hatte einen wunderbaren Traum. Er sah und hörte, wie der Herrgott in der Höhe dem Friedensengel Befehl erteilte, seiner Mutter Ewiges von dem bresthaften Leib zu lösen, sah den leuchtenden Boten durch die Weltenräume fliegen, sah ihn in den Birkenspitzen des großes Geheges niedergehen, den Friedenszweig brechen, durch die Wände der Kate kommen, sich über die Kranke beugen und ihr Unsterbliches hinwegnehmen.
Frau Wieb war tot. Zu lange gab man dem tatenlosen Schmerz nicht Raum. Schon an der Bahre wurde von seinem Vater und den Eheleuten Kühl der Beschluß gefaßt, mit der Zimmerei sei es nur so ... so ..., einstweilen solle Hein als Kuhjunge nach dem Holm in Dienst.
Harm Kühl und seine Frau hatten eine allzeit offene Hand. Zwischen Holm und Ellernbusch war je und je gute Nachbarschaft gewesen; Harm und Grete richteten auch jetzt der Frau Wieb auf ihre Kosten ein ›ehrsames und christliches Begräbnis‹ her und ließen die Leiche durch eine Hauspredigt in der weißgekalkten Stube einsegnen.
Die Tellerkrause des Geistlichen nahm einen großen Teil von Heins Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Redner pflanzte pathetisch die Weidenschößlinge der Hoffnung auf, er hielt der Frau Wieb ihre Tugenden vor und dachte herzlich und warm des mutterlosen Hein. Die Weiber sahen im Verlaufe der in sonorem Tonflusse daher rauschenden Rede mehr und mehr ein, wie viel sie an Frau Wieb verloren hatten, wie gut sie gewesen sei, was Hein verloren habe, wie die unerforschlichen Wege des lieben Gottes unter allen Umständen zu loben seien, und je fester diese Überzeugung Wurzel schlug, um so heftiger und erlösender strömten die Tränen, am untröstlichsten vor dem Herde in der Küche.
In dem Stübchen stand der etwas lang und mager geratene, mäßig gerührte Harm vor dem Ofen, und hinter dem Beileger seine still verweinte Frau, den verwaisten Knaben, den sie in ihre Obhut zu nehmen gelobt hatte, an der Hand. Sie sah in ihrem schwarzen Spenster milde, hübsch und nett aus. Der Witwer nahm am Kopfende des Sarges die Tröstungen der Religion entgegen. Aber auf der Diele, vor der geöffneten Stubentür, drängte Kopf an Kopf die schwarzgekleidete Schar der Nachbarsleute; Tischler Ehler Horn lehnte trocken und dürr in seiner Arbeitsschürze am Backtrog, den Hammer in der herabhängenden Rechten, Nägel in der Linken.
Gleich nach der Rede schloß er den Sarg. Mit jedem Hammerschlag befestigte sich in dem jungen Hein die bestimmte Zuversicht, daß seine Mutter jetzt ein Geist sei, wo mit er die Vorstellung weißer, wallender Gewänder und mächtiger Flügel verband. Darüber war er bis zum Jauchzen froh, so viel Mühe er sich auch gab, sein Gesicht der Umgebung anzupassen.
Wie groß erschienen die kleinen Räume, als die Zeit ihren Werktagsschritt wieder angenommen hatte! Um so lieber gab unser Freund seinen Gedanken Urlaub zum Besuch des Schauplatzes seiner Zukunft. Es war von jeher für ihn ein besondrer Tag gewesen, wenn man ihm Eintritt in die Ställe und Böden vergönnt hatte. Im Kuhhaus streckten sich an den Futterdielen stöhnend und kauernd fünfzig behäbige Rinder. Und wenn die Futterstunde gekommen war, so schmausten sie ein so köstlich duftendes Heu, daß jedem Wiederkäuer der Mund wässern mußte. Nach diesem Vorgericht rollten die mit Wasser und Rapsbrei gefüllten Räderkrippen vorüber, damit den werten Kostgängern der kühle Trunk nicht fehle. Es folgte die Hauptschüssel: gebrühter Hafer und gedämpfte Kleie, darauf eine frische Lage Heu und der Schluß des ansehnlichen Speisezettels: eine saubere Schütte Roggenstroh.
Wenn Hein das Viehhaus besucht hatte, so hatten ihn Antje und Rieke fast immer begleitet. Auch ein ganz kleines Nesthäkchen war mitgetrippelt: Tine, sehr spielbedürftig, ein Gesichtchen, worauf das Geheimnis ihrer zukünftigen weiblichen Erscheinung noch nicht geschrieben war. Sie zeigten ihm alle Herrlichkeiten der weiten Behausung. Vor dem in klirrenden Ketten wohlverwahrten Stier entspann sich dann eine Unterhaltung: ob er wohl tausend Pfund ziehen, eine Hauswand einrennen könne, ob der starke Hinrich Brandt ihn wohl im Nasenring zu halten vermöge – Gespräche, die ihr Gegenstand mit finstrer, gerunzelter Stirn anhörte. Die große Menge Kälber war wegen ihrer possierlichen Frechheit und Schüchternheit eine Quelle unversiegbarer Heiterkeit. Sie schleckten Milch von den Daumen und warfen sich, wenn der letzte Tropfen genossen war, mit großen, erschrockenen, wimperlosen Augen furchtsam in die Halsklaben zurück.
In dem Haupthause war die große Tenne, und darüber auf dem Boden die Körnerfrucht des Hofs. Der Flügel, der als Kuhhaus diente, war rechtwinklig angebaut, und hieran schloß sich wiederum, gleichlaufend mit dem Haupthause, der Heustall. In diesem zumal war bei allen Besuchen ein lustiges Leben gewesen. War der Raum im Herbst zum Pressen voll, so begann der Heurupfer vom Viehhause aus seine Minierarbeit, schuf erst eine Höhle und dann ein Gewölbe. War er dagegen im Frühling bis auf eine weiche Bodenlage leer, so kletterte die kleine Gesellschaft zum Hahnengiebel an Sparren und Latten hinauf, betrachtete sich die Welt vom Eulenloch aus einem höhern Gesichtspunkt und sprang hoch von Bau- und Querbalken ins weiche Heu hinab, daß Schürzchen und Röckchen flogen. Man war schon eher Vogel als Mensch, die Luft sauste an den Ohrmuscheln vorüber, die Schwerkraft war überwunden.
Diese Lust schien unsagbar, aber die schlummernde Poesie des Heubodens wurde doch erst durch den Zauber der Einsamkeit geweckt, wenn Hein sich allein in Stall und Boden hinaufstahl. Durch das Giebelloch flogen zwitschernde Rotkehlchen, eine Fliege zu haschen, und zierliche Schwalben, vertrauensselig ihr Nestchen an den Lattenrand zu kleben. Die dem blöden Begehren entrückte Welt kehrte duftverklärt dem erhabnen Beschauer, dem kein trüber Erdendunst den Frieden verkümmerte, ihr Antlitz zu.
Vor dem Eulenloch im Stall und Kuhhaus zankten sich Sperlinge, dort schwebten Käuze ihren geräuschlosen, geisterhaften Flug; aus dunkelm brauendem Spalt an der Dachschrägung funkelten die Augen des Haustigers, der in vielen Prachtgeschöpfen auf den weiten Böden sein Räuberhandwerk trieb.
Durch die summende Stille ging ein tiefes Atmen der allgegenwärtigen Frau Natur. Sie hing am Dachsparren, schaukelte sich auf dem Hahnenbalken, Traumgestalten brütend. Hein erinnerte sich des Hausgeistes, der hier, wie man sagte, sein Wesen treibe, des kleinen, zwei Hände hohen Kobolds mit dem roten Mützchen. Der Kuhkönig Henn behauptete, ihm jeden Mittag das Essen auf die Hilgen zu stellen, und vor nicht langer Zeit erst waren die alten Leute weggestorben, die ihn noch im Eulenloch gesehen, wie er sein Süppchen verspeiste.
Da, da! – ein kleiner, leichter, ruschelnder Schritt, ein Grummeln und Murmeln. Und die gespenstische Rotkappe stieg von dem Kuhhaus her, in Selbstgespräch und Sinnen verloren, langsam über die aufgerollten Heuwülste ...
Dieser Hausgeist war für Hein viel wert, ja, wenn sein Gefühl angenehm erregt war, glaubte er wirklich, ihn gesehen zu haben. Es war nicht die unwesentlichste Masche in dem Schleier, den er um den Ort seiner Sehnsucht wob.
Und nun gar das Muster aller Originale, der Herr der Räume: Henn Kuhkönig.
Der Hof hielt alles fest, was dort hinflog und nur ein bißchen Wurzel faßte. Henn aber war sein ältestes Zubehör. Als blutjunger Mensch aus fernem Kirchspiel dorthin verschlagen, ohne Angehörige und ohne anderen Ballast als leere Taschen, war er jetzt ein Knirps reiferen Alters und gab seit Jahren auf die Frage nach seinem Geburtstag den Bescheid, er werde beim nächsten Backen Fünfzig. Er kannte jede Kuh aus dem Herzensgrunde, redete große Abhandlungen über die Charaktereigentümlichkeiten von Hattkopp und Wittfot, schlief inmitten seiner kettenklirrenden Herde, erwachte aber bei jedem verdächtigen Stöhnen, ja er kannte jedes Tier an Stimme und Tonfall. Seine Kammer war die Rückwand der Haferdarre, in der im Winter ein ewiges Feuer schwelte, das den kleinen Raum angenehm miterwärmte. Nach Feierabend war große Gesellschaft, der Wirt zum Erzählen glaublicher und unglaublicher Geschichten aufgelegt, eingehüllt in den Nimbus seiner Bekanntschaft mit dem Hausgeist ...
Es war nicht zu sagen, welch glänzende Zukunft Hein vor sich sah. Wem mußte nicht das Herz höher schlagen bei der Aussicht, Kuhjunge auf dem Holm zu werden? Er leistete bei sich feierliche Schwüre: er wollte ein Kuhknecht werden, wie die Sonne noch keinen beschienen habe.
Gemach, Hein Wieck, gemach – noch zwei Wochen Geduld! Noch ist Georg Bünz (er kam ein Jahr früher aus der Schule) der glückliche Inhaber des Postens: erst in vierzehn Tagen wird das Schiff, das den Überflüssigen nach Amerika entführt, die Anker lichten. Georg hat seine Pläne gegen die krumme Eiche verschoben, er will sein Glück jenseits des großen Wassers versuchen.
Georg und Hein – wunderliche Spielarten des Bauernschlags! Beide ziehen Wechsel auf die Zukunft. Aber wie anders malt sie sich im Kopf von Georg! Wie man aus Begeisterung Kuhknecht sein könne, das begriff er nicht, das war eine Phantasiesprache, deren Symbole er nicht verstand. Er schwärmte für Amerika und Freiheit: man ziehe nicht die Mütze vor Kirchspielvogt und Pastor, man schmöke in der feinsten Stube, und wem das nicht gefalle, dem schlage man die Fenster ein. So gehe es in Amerika zu. An stillen Abenden machte er die Dorfstraße durch Vergewaltigung seiner Kehle unsicher: »Jetzt ist die Zeit und die Stunde da, wir reisen nach Amerika.« Er nannte das – singen.
Endlich fuhr der mit Tannen geschmückte rote Leiterwagen auf den vom Regen durchweichten Wegen mit einem halben Dutzend erregter lärmender Leute langsam aus dem Dorf, beladen mit den Wünschen der Zurückbleibenden für die Reisenden, mit ihren Grüßen für die Angehörigen drüben. Georg leistete im Schreien und Singen das Äußerste. Man sollte noch lange davon sagen, mit welch unbändigem Mut Georg Bünz hinübergegangen, was für ein höllischer Kerl der Georg überhaupt gewesen sei.
Die jungen Dirns, die in Fisteltönen geschwelgt hatten, stellten zuerst ihren Gesang ein: Krischan hat der Anna eine Geldknippe geschenkt, Klaas will Mine einen Brief schreiben, künftiges Jahr kommt er ganz gewiß nach, dann hat er sich soviel verdient. Midde hat von Peter ein Bild bekommen, sie will sich in Hamburg abnehmen lassen. Peters Vater will nicht, daß er auswandert. Man muß warten, der Alte wird sich gewiß besinnen.
Längere Pause im Gespräch. »Deern, wat hest du för kole Hänn!« Sie rücken in den kunstvollsten Armverschlingungen zusammen. Bei Mädchenempfindungen ist Liebe immer mit im Spiel.
Während die Mütter, die Frauensleute überhaupt, in ihre Schürzen weinten, die Männer aber, wie sichs schickt, ehern und ehrenfest ihre Pfeifen schmauchten, verfolgte Hein den Wagen vom höchsten Scheunengiebel seines Bauern aus und beobachtete, wie er sich am Walde entlang bewegte, bis er hinter den Bäumen verschwand.
Hein war in frohmütiger und weicher Stimmung. Was für ein Tag! Noch heute abend! Lene Mellersch, die dem Vater den kleinen Hausstand führte, packte schon seine Sachen. Kriechend bewegte er sich auf der obern Garbenlage unter der Dachfirst, ein ahnungsfrohes Herz unter der Leinenweste. Am mittlern Dachsparren ließ er sich hart am Strohdach hinabgleiten. So gelangte er auf den Hilgenboden über der Kornkammer; eine kurze Leiter führte auf die Scheunendiele. Spinngewebe, Staub und Stroh bedeckten Weste und Haar, zehn Finger kämmten die blonden Strähnen, zwei Hände klopften und putzten an Weste und Höschen: Hein Wieck war wieder sein.
Lene Mellersch brachte seine Ausrüstung: Hemden, zwei Westen, zwei Beinkleider, Überhemden, Strümpfe, Holzklötze, Holzstiefel, ein Paar lederne Stiefel, eine Tuchmütze, eine Wollmütze. Grete Kühl hatte die Ausstattung ihres Pfleglings hergerichtet und beaufsichtigte ihre Verpackung. Es war ein riesengroßes, rotes Tuch, das das Meiste aufnahm. Lene band es kunstgerecht zusammen; in der Mitte präsentierte sich der Kampf der Schleswig-Holsteiner bei Kolding. Die Rauchwolken der Kanonenschlünde hingen wie Federsäcke in der Luft. Bevor Lene die Zipfel verknotete, erschien der Vater und schob ein schwarzes Gesangbuch mit Goldschnitt, das seine Wieb einstmals zur Konfirmation erhalten hatte, in das Bündel hinein. Er wollte der Gabe eine Rede hinzufügen, brachte es aber nicht über ein mühsames »von din seli Moder« hinaus.
Und Hein ging mit der Schlacht bei Kolding hinüber zum Hof, auf Schleichwegen, die kürzeste Linie zum Kuhhaus. Am hintern Schlagbaum, der den wilden, über den Acker führenden Richtsteg auffing, stand ein blondes Mädchen. Es war Antje.
»Hest op mi lurt?«
»Ja«, sagte sie und lachte.
Hein wollte auch lachen, wurde aber (warum? wußte er nicht) plötzlich verlegen, machte noch einen Versuch, der auch nicht gelang, und sah mit verschleierten Augen auf das anmutige Geschöpf. Über der Schlacht von Kolding faltete er die Hände und hielt sie mit allem, was darin war, vor seinen Leib, ohne auf die Anmut seiner Pose zu achten. Als Antje ihren Spielkameraden verlegen sah, vergaß sie auch ihre Haltung, machte eine Art Kinderschnippe, löste ihr Schürzchen und band die andre Seite vor. Es war eine peinliche Geschichte.
Da rief die Mutter: »Antje, Antje!« Und Antje flog.
Von diesem Augenblick sah unser Freund Antjes Züge und hatte das Gefühl der Schwere in der Gegend, wo unser Herz pocht. Es trat akut auf, wird aber, wie wir fürchten ihn chronisch beschweren. Er litt schon daran, als er seine Siebensachen in der Kammer des Kuhkönigs unterbrachte und das Gesangbuch ohne Umstände in dessen Lade legte, als er gleich darauf einen Heubesen ergriff und sich dem Kuhkönig zur Verfügung stellte.
Beim Abendessen lugte er vom Gesindetisch verstohlen zum Familientisch hinüber, aber es dauerte lange, bevor er einen Blick auffing. Einen zweiten bekam er nicht, er war auch mit dem einen zufrieden. Er aß Aufgebratenes (sein Leibgericht), aber er wurde sich dessen vor Liebe nur halb bewußt. So war Hein Weck in zwiefache Bande geschlagen, er stand im Dienste des Hofbauern, war aber auch Hofjunge der Leidenschaft, die man Liebe nennt.
Die übermütige Rieke zeigte ihm auf der Gabel jeden aufgespießten Bratkloß, ehe sie ihn verspeiste; Frau Gretes allgegenwärtiger Blick machte aber dieser Unschicklichkeit ein Ende.
Gemessenen Schrittes in hergebrachter Rangordnung verließ man nach dem Essen die Stube, der neue Kuhjunge, in der Gesindehierarchie als Dienstmann unterster Stufe, an letzter Stelle.
Als er, dem Strom folgend, über den Vorplatz ging, hörte er seinen Namen: »Hein!« Er kam aus der Spalte der leise aufgeklinkten Haustür – Riekes Stimme: »Hein, komm flink mal her!« Er folgte der Aufforderung und fand sich draußen im Dunkel des Herbstabends unter Eichen. Es war rauh und windig geworden, es rauschte und fegte durch die vom Herbst abgegrasten Kronen, riesenhafte Äste ächzten und stöhnten unter den Stößen einer ungestümen Windsbraut. Hein sah nichts, fühlte dann aber die warmen Hände Riekes. »Da such!« Ein Stoß schnellte ihn, ehe er sichs versah, in der Richtung auf einen rabenschwarzen Punkt, den er als Bank erkannte, und ließ ihn fortstolpern auf ein Wesen, das dort Platz genommen hatte. In halb fallender Bewegung umarmte er eine mit weicher Wolle bekleidete Gestalt.
Es war Antje. Er fühlte ihren Atem, ihre Nähe und fühlte ihre Lippen auf seinem Mund.
Die durchtriebene Rieke sah und hörte nichts oder tat wenigstens so. Sie klappte mit der Hängepforte, die vom Vorgarten nach der Straße führte: »Was macht ihr, weshalb kommt ihr nicht, wir wollen spielen.« Dann ließ sie die Pforte los, stieß ihre Schwester weg und hing nun anstatt ihrer an Hein Wiecks Hals. »Ich will auch was von ihm haben«, sagte sie und gab Hein auch einen Kuß. Dann hörte er ein Kichern, die Haustür schlug zu, und Hein Wieck war allein.
Und der kleine Kuhknecht sah zu den Bäumen, die sich am düstern Nachthimmel reckten, empor und maß ihre Größe. Er dachte darüber, was ihm passiert war, nach und fühlte sich. Nun war er ein ganzer Mann. Von Stolz und doppelseitiger Liebe gebläht, schlich er ins Haus, durch die Vordiele, über die dunkle Dreschdiele, dem Kuhhause zu.
Wie hatte er sich auf den ersten Abend in der Kuhkammer gefreut, wie schal erschienen ihm jetzt die Genüsse, die er sich versprechen durfte! Wie liebesweh hatte ihm noch vor einer Stunde das Herz in der Brust gelegen, wie liebesstolz pochte und hämmerte es jetzt da drinnen! Wie Lichtschein einer Feuersäule glaubte er es vor sich hergehn zu sehen, als er durch die Dunkelheit der großen Diele nach dem Kuhhaus tastete. Es mußte wohl der Glanz sein, der von seinen Augen ausging. Andächtig führte er die Hand an die eignen Lippen, die noch heute abend in Speck gebratne Klöße und dann Milchgrütze gegessen hatten, nun aber durch zwei Bräute geweiht waren. Was für Mädchen! Ein engelgleiches Geschöpf, die Krone alles Seins! Ihretwegen allein hätte es gelohnt, die schöne Welt zu erschaffen. – Das dachte er, war aber in Zweifel, ob er Antje oder Rieke damit meine.
So trat er, der jüngste Kuhjunge, in die Kuhkammer und nahm auf einem lehnenlosen Brettstuhl Platz. Unter dem Balken hing eine im Glasgehäuse wohlverwahrte Stalllaterne, eine Öllampe, rauchende Männer und bunte Pfeifenquäste, stopfende Mädchen und nackte, rote Arme beleuchtend. Weiße Wände warfen den Widerschein in verschwiegne Ecken, die traute Zuflucht aller im Dunkeln nistenden Schattengeister.
Der Kuhkönig hatte sich von jeher zu dem Grundsatz bekannt, daß er eine Pfeife Tabak und einen Stuhl jedem Menschen schuldig sei. So durfte denn rauchen, was eine Pfeife hatte, den Stoff lieferte er.
Wo man raucht, da ist Friede, sagt schon ein altes Sprichwort. Wenn der Rauch sich bläulich in des Zimmers Dunstkreis lagert, dann glätten sich die Wogen des Zorns, und die Brandung schweigt. Das Meer des Lebens wirft nur noch plaudernde, plätschernde Wellen an des Ufers Sand. Der Wogenbrecher bricht als Sorgenbrecher auch des Lebens Kümmernisse.
Reiche dem Zornhaften das Pfeifenrohr, zwinge ihn nieder auf die Lade deiner Kammer: er wird still und fromm wie ein Lamm. Mögen sich auch die ersten Züge noch stoßweise über die unmutigen Lippen entladen, allmählich streichts ihm doch die Falten aus Stirn und Gesicht, bald dampft er harmlos, wie eine Räucherkate aus dem Eulenloch wohl an schönen Sommerabenden schwelt, wenn die Hausmutter Kartoffeln in sprickelndem Fett röstet und bräunt.
Da sitzt der cholerische Thoms, Bullerjahn des Hofes; er ist der zweite Knecht, der im Sommer die Garben in die Luke forkt und im Winter wieder auf die Tenne hinabschleudert. Er raucht in friedlicher Stille, wie ein Türke mit rotem Fez. Und sieh ihn an, den sanguinischen Pferdeknecht Peter! Die Rauchwolke umgibt sein heiteres Gesicht, einer blauen Aureole gleich. Und ihn, den phlegmatischen Großknecht Tete: wie ruhig, wie überlegen, wie maßvoll er die Wolke dem Munde entströmen läßt!
Schon das Äußere der Pfeife läßt die ihr beiwohnende hohe sittliche Bedeutung ahnen. Es ist das Instrument des Friedens, mag es (so lieben es die Alten) kurz und knollig den kleinen Feuerherd unter die Nase schieben, mag es sich (so ziehen die Jungen vor) im langen überlegnen Rohr, worin es die tollste Hitze und das schärfste Nikotin zurückläßt, behaglich in der Linken strecken. Eine farbige Quaste an dem geschmeidigen Ende ist ein nie fehlender Schmuck, um so anheimelnder, je verschlissener seine Farben, je abgenutzter sein Gewebe ist, da es um so kräftiger davon Zeugnis gibt, wie oft es den Inhaber glücklich gesehen hat.
Die kleine Gesellschaft begleitete die Auswanderer auf ihrer Reise nach der neuen Welt. Henn Kuhkönig hatte gleich nach der Konfirmation, so behauptete er, eine große Fahrt als Schiffsjunge mitgemacht, Tete war ein Jahr drüben gewesen. Der schwarze Rolf, der Klabautermann, die weiten Ebenen des Westens zogen Schattenbildern gleich dahin.
Das brachte Henn auf den Hausgeist. Er erzählte von einem Knecht Jochen, einem Tunichtgut, wie der vor vielen Jahren dem Puck, der damals noch seine Mittagsgrütze friedlich im Eulenloch verzehrt habe, hinterrücks einen Stoß versetzt, daß das Kerlchen die Giebelseite hinuntergekollert sei. Aber bei dem Aufschlagen auf den Erdboden sei es nur ein Büschel Heu gewesen. Auch von Pucks Rache wußte Henn zu berichten. Es sei nämlich bald darauf dem eben vorübergehenden, nichts ahnenden Jochen das irdene Eßnäpfchen vom Eulenloch her an den Kopf geworfen worden, daß die Scherben umhergeflogen seien, und Jochen wie tot dagelegen habe, während die Rotkappe sich die Seiten vor Lachen gehalten. Hiervon habe sich Jochen nur langsam erholt, am Kinnbacken habe die Wunde sich gar nicht schließen, gar nicht verheilen wollen. Erst im Traumgesicht habe Jochen die Weisung erhalten, eine Hand voll Heu aus dem Stall zu ziehen und so viele male einen Napf zum Eulenloch hinaufzutragen, als Fasern in dem Büschel wären. Das habe er getan, und von Stund an sei es besser geworden, und mit dem letzten Aufstieg sei die Wunde vollständig verharscht und der Kobold begütigt gewesen. Gesehen aber habe ihn seitdem kein Mensch mehr, auch der Erzähler erblicke nur dann und wann die Glutaugen, wenn er das Näpfchen auf die Hilgen stelle.
Als die Köchin lachend einwandte, ob das nicht der schwarze Kater Hans sein könne, und ob Hans nicht auch bei dem Ausessen des Napfes beteiligt sein möge, wurde der Erzähler ernst und unwillig: »So«, rief er mit erhobner Stimme, »das meint so ne dumme Deern! Sag mal, klopft denn auch der Kater Hans nachts, wenn ein Tier in Not ist, an meine Bettlade, leise und hohl mit seinen Knöcheln, Silja?... so... just so?...« Henn machte ein unheimliches Gesicht und klopfte so geisterhaft hohl und dumpf, daß alle Mädchen, auch die Zweiflerin Silja, erst vor Schreck laut aufschrieen und sich dann lachend umarmten. Henn aber erhob sich ruhig von der Lade, pustete seine Pfeife aus und holte oben von einem Regal seinen Tabakkasten herunter, um sie von neuem zu füllen.
Dieser Tabakkasten war eigentlich ein alter Topfhut und Hein Wiecks persönlicher Feind. Ursprünglich hat er dessen Großvater Dierk Reimers zugehört und Dierk Reimers hat ihn einmal auf dem Kopf gehabt, als er Hein Wieck auf die Finger schlug. Hein Wieck war nämlich noch klein und lag in der Wiege und schrie. Da kam Opapa und befahl: »Wullt du still wesen!« und schlug, als Hein weiter lärmte, ihn mit der Rute auf die Finger. Hein wehrte ab und stieß dabei auf den rauhen Hut.
Merkwürdigerweise übertrug er seinen Groll nicht auf den alten Mann, sondern auf den Hut. Er schrie, so bald er das Gestell sah. Die Mutter hat es nach des Großvaters Tod an Henn verschenkt, bei Henn war es zu Ehren gekommen und ein Tabakskasten geworden.
Hein Wieck war guter Laune. In mildem Vergessen und Vergeben versuchte er die steil emporstrebenden Haare seines Feindes glatt zu streichen. War es auch erfolglos, der sittliche Wert ist, Gott sei Dank, nicht von dem Nutzen unseres Tuns abhängig, Hein wird, wenn der Paradieseswächter Petrus einstmals sein Konto aufschlägt, auch diese Liebestat in seinem Haben finden.
Es war ein rührendes Wiedersehen. Der alte, an der frühern Feindseligkeit unsers Freundes ganz unschuldige Hut hatte niemals dergleichen, was man Haß nennt, gekannt. Er liebte alle und war freigebig gegen alle; immer mit Petum optimum gefüllt, gab er jedem, just wie sein Herr. So gereichte es ihm zur besonderen Befriedigung, als Henn nicht allein seine eigne Pfeife stopfte und anzündete, sondern auch ein zweites Friedensinstrument, das er von der Wand nahm, gleichfalls von dickem Schlag, bedächtig aus seinem Vorrat füllte und dann seinem Kuhjungen Hein Wieck reichte, dabei ein Reibholz nehmend, ein Bein hebend und seinem Kuhjungen die Dienste eines Luzifers leistend. »So, Hein, nu büst Knecht, nu kanns ok mal smoken.«
Alle sahen den ersten Zügen, die Hein tat, mit Interesse zu, dann ließ man den Strom der Geschichten wieder fließen. Hein war nicht ganz bei der Sache, das Abenteuer mit den beiden Bräuten lag noch breit in seinem Bewußtsein, und die ihm durch die Pfeife angetane Ehre hob mächtig seinen Stolz. Was bei den alten Deutschen die Umgürtung des Jünglings mit dem Schwert, wenn er zu seinen Jahren gekommen war, gewesen ist, das ist jetzt die Darbietung der Tabakpfeife an den Jüngling im Kreise Erwachsener.
In der Kuhkammer spuckte man beim Rauchen aus, das taten alle, aber wie, darauf kam es an. Der Raucher, dem das Erzählen Kunst und nicht nur Unterhaltung ist, wird selten Künstler im Spucken werden. Er läßt es in zwanglosen Pausen auf die Steinfliesen fallen und zerreibt es nachdenklich mit den Holzpantoffeln, während die Zuhörer sich in Kunststücken versuchen. Henn war Künstler im Erzählen, nicht im Spucken; auf diesem Gebiet erschienen seine Leistungen unserm Hein nicht erstrebenswert. Dagegen hätte er es gern Tete nachgemacht, der mit kräftiger Unterlippe seine Geschosse in schönem Bogen auf die Spitze eines Stiefelknechts warf. Aber Heins Versuch fiel schlecht aus. Schon eher gelang, was der Pferdeknecht Peter mit beneidenswerter Hingabe tat, nämlich – durch die Zähne spritzen. Die Fixigkeit war wirklich erstaunlich. Als Peter nun gar blauen Rauch durch die Nase blies und dann mit den Lippen eine Ringelwolke hauchte, da fühlte Hein sich klein und sah ein, daß er noch viel zu lernen habe. Aber er leistete auf seinem Brettstuhl einen heiligen Schwur. Er, der zukünftige Kuhknecht erster Klasse, wollte es auch im Rauchen und Spucken zur Meisterschaft bringen. Er hoffte, es Tete noch mal gleich zu tun, ja er wollte dereinst noch schönere Ringelwölkchen blasen als Peter. So paffte er in seiner Selbstherrlichkeit mit vollen Zügen und war – glücklich.
Über das Dasein der Hausgeister und Klabautermänner kam die Kuhkammer noch nicht gleich zur Ruhe. Dann erzählte Tete von der Seekrankheit, von dem unsagbaren Weh, das das Übel in Kopf und Magen anhäufe. Hein ließ das Dasein der Dämonen dahingestellt, aber an die Seekrankheit glaubte er. Denn etwas Ähnliches erfuhr er gerade am eigenen Leibe. Alle Erscheinungen, die man auf dem Holm schon als Ergebnis der ersten Rauchstunde kannte, wiederholten sich: das leise Weglegen der Pfeife, das zage Ziehen, als Henn sich teilnehmend erkundigte, ob Hein etwa kein Feuer mehr habe, das nochmalige entschiedene Weglegen, das Hinauswanken aus der Kammer in voller Verstörung. In der zutreffenden Voraussetzung, daß der eigene dunkle Drang ihn schon die richtigen Pfade führen werde, legte man ihm keine Hindernisse in den Weg, fand es auch in Ordnung, daß er sich, leichenblaß zurückgekehrt, ohne Umstände in die Bettkiste legte.
Er war auf dem Standpunkte vollständiger Wurstigkeit angelangt. Das Gelächter der gutmütigen Spötter störte ihn nicht. Er fand sogar, daß die von Tabakgeistern in seinem Gehirn angerichtete Empörung alles Herzweh heile. Der Lächerlichkeit seiner Krankheit war er sich bewußt, durch den Nebel seiner jammervollen Lage sah er zwei liebe Augenpaare, aber selbst in diesen Augen war wenig Mitleid.
Endlich verlief sich der Schwarm, und in der Kammer wurde es still. Henn nahm die Laterne vom Balken und leuchtete im Kuhhause ab, wie er es allabendlich vor dem Schlafengehn tat. Dann legte er sich zur Ruh und begann sofort zu schnarchen. Aus dem Kuhhause das einförmige Brummen der Rinder, das Klirren und Rasseln der in ihren Ketten sich behaglich reckenden schläfrigen Kühe, weiter aus den Pferdeställen der Rosse dumpfe Stöße. Hein hörte, wie sein Vater von der Straße her die Stunde abrief. Die spärlichen Herbstblätter der Silberpappeln rasselten und rauschten im blasenden Ungestüm des Windes, und in ihren Wipfeln schrackelten die Elstern. Und dann kam ein Schlaf, der keine Erinnerungen zurückließ.
Zuweilen war ihm, als wenn Meister Henn ihn beim Namen rufe. Dann hörte er es sogar ganz deutlich, fühlte auch die Hand seines Herrn, der ihn an der Nase zog. Es half kein Zaudern mehr, er öffnete die Augen und fand Henn, der ihn zum Aufstehen mahnte. Es war Futterzeit, und im Stalle brüllten viele hungrige Kuhmäuler.
Und Henn führte seinen Lehrling vor den Heustall und öffnete dessen Doppeltür. Sie verband den Kuhstall mit dem Unterraum jenes Nebengebäudes. Henn und Hein standen vor einer gepreßten Heuwand. Einem Taschenspieler gleich holte der Herr dieser Räume einen blanken, mit spitzem und glänzendem Widerhaken versehenen Heurupfer daraus hervor und hieß unsern Freund sich, umgekehrt wie der Held des Pfannkuchenbergs, in die Wand hineinarbeiten. Und Hein ging frisch ans Werk, denn es war eine seiner würdige Aufgabe, gehörte zu den von ihm übernommenen Pflichten.
Schon am ersten Tage bewegte er sich in einer kleinen Höhle. Aber die Heuhaufen waren doch fester zusammengepreßt, als er für seine jungen Kräfte wünschen konnte, es kostete manchen Tropfen Schweiß, den Bedarf des Tages zu liefern. Aber mit dem Druck verringerte sich auch die aufzuwendende Anstrengung, was ihn veranlaßte, auf die Ausgestaltung seiner Höhle nach oben Bedacht zu nehmen. Und schließlich wurde die Höhle zu einem nach oben wachsenden Schornstein, worin er nach Art der Kaminkehrer auf und ab steigen konnte. Am drittem Tage lief der Luftschacht in die Spitze des Heubodens unter dem Dachfirst aus, und nun fand er es, aller Kuhknechtsbegeisterung zum Trotz, bequemer, das Heu hinunter zu werfen, als es unten mühsam loszurupfen. Die Jugend ist eben unverständig, und Hein war jung.
Seit einigen Tagen spielte er abends mit den Kindern Mühlenspiel und Karten. Wie von ungefähr gerieten die Karten unter den Tisch, und unter der Platte stießen ebenso unversehens die Köpfe von Antje und Hein zusammen. In fliegender Eile teilte er ihr seine Erfindung mit. Und sieh! Als Hein am folgenden Tage durch seinen Spalt aus der Unterwelt auftauchte, stieg von der Hausdiele her auf demselben mühsamen Weg, den einst die gespenstische Rotkappe genommen hatte, ein blondes Mädchen daher. Es war Antje, und Hein freute sich sehr. Da kicherte es von den Heuwülsten her und ein zweites kleines Mädchen zeigte ihr lachendes, von dunkelm Haar eingerahmtes Gesichtchen. Ricke war ihrer Schwester nachgeschlichen.
Einige Tage später.
Harm hatte eine Unterredung mit seiner Frau gehabt, und bei dieser Unterredung war beschlossen worden, das ewige Gezerre und Gejachter zwischen Hein, Antje und Ricke müsse aufhören, da sie zu groß für solche Spielereien seien – Reimer Witt von Obendeich, einziger Erbe eines schönen, schuldenfreien Marschhofes, der seinen Besuch angekündigt habe, sei gut aufzunehmen, da manche Anzeichen dafür sprächen, daß diesem Besuch ein tieferer Zweck zum Grunde liege.
In diese Beschlüsse fiel eine alarmierende Neuigkeit, die der kleinen Tine entschlüpfte: »Und sie laufen immer auf den Heuboden und helfen Hein Heu rupfen, und jeden Tag tun sie das.«
»Tine«, sagte Harm, »das ist doch wohl nicht gut möglich!« Aber da erst legte Tine los. Wenn man von der Küche nach dem Kuhhaus geht, kommt man an der Pumpe vorbei nach dem Kattengang. Der Kattengang ist eine dunkle Ecke, vom Kattengang aus wollte Tine etwas gesehen haben, was ganz unglaublich klang.
In dem Augenblick kam Kuhhenn auffällig ernst in die Stube. »Uns Weert, He mutt mal mitkam«, sagte er.
»Was is denn los?« fragte Harm.
»Dat ward He sehn«, erwiderte Henn und war schon unterwegs.
Wie es kam, daß der Kuhkönig Henn den Unfug seines Untergebnen so spät entdeckte? In der Zeit, wenn Hein sein Heu auf so neue und originelle Art rupfte, hatte er bei der Haferdarre zu tun gehabt. Weshalb er Anzeige machte? Das hatte ihm keinen kleinen Kampf gekostet. Als er den von Hein gebauten Luftschacht herausgefunden und nunmehr eine Erklärung dafür hatte, wie wacker der Junge sein Quantum Futter zu liefern verstehe und wie das Heu so staubig und ungelockert auf die Diele komme, da war er noch entschlossen gewesen, die Sache im Disziplinarwege zu erledigen. Dabei hatte er die kurzen Arme gereckt und bedeutungsvoll in die Hände gespuckt. Als er aber an den hellen Mädchenstimmen erkannt hatte, in welcher Gesellschaft der Taugenichts da oben sei, da schien ihm die Sache ernster, da hielt er sich für verpflichtet, Harm, der doch der nächste dazu sei, einzuweihen und das Ergebnis der mündlichen oder auch tätlichen Verhandlung vor dieser Instanz abzuwarten. Die Gegend in den weiten Hallen des Kuhstalls, wo der Brunnen der Dickmilch (das Volk der Borstentiere, dessen Lebenszweck darin besteht, sich mästen zu lassen, wird daraus getränkt) und die Wasserpumpe (daraus ergießt sich der lautere und reine Quell für das Viehzeug) – der Platz, wo die sind, wurde von Henn für geeignet gehalten, seinen Bericht zu erstatten.
So erfuhr Harm vor dem Kattengang das, was ihm freilich seit der Anklage der kleinen Tine nichts Neues, aber doch als Bestätigung einer fast sichern Vermutung von Wert war. Und auch in diesem kritischen Augenblick verlor er seine Ruhe nicht, wenn auch nicht verschwiegen werden soll, daß er seine langen Glieder ein ganz wenig rascher als gewöhnlich in der Richtung nach dem Heustall bewegte, um zunächst den Tatbestand durch Beaugenscheinigung von unten festzustellen.
Von allen Menschen sind es gerade die stolzesten und die demütigsten, die die Anschauung anspricht, daß ein vorher bestimmtes Schicksal ihren Lebensweg, dessen Freuden und dessen Leiden, regele. Napoleon erkannte in dem Konventsbeschluß, worin die hohe Körperschaft ihn um seine Hilfe ersuchte, sein Schicksal, ja das Schicksal eines ganzen Jahrhunderts. Und die Person, die die erste Anregung zu der Wahl des Deichhauptmanns Bismarck für den Provinziallandtag gegeben hat, stellt mit ebenso gutem Grunde ein nicht minder bedeutendes Schicksal dar.
Auch unserm Hein Wieck ist es immer so gewesen, als ob damals sein Schicksal über die Fliesen der Futterdiele geschlürft wäre. Es hatte sich in zwei Personen zerlegt, von denen die eine eine blaue Drillichhose über kurzen, krummen Beinen trug, während die andre ihre Schicksalsbeine von erklecklicher Länge mit einer schwarzen Beiderwandhose bedeckt hatte. Das Drillichschicksal blieb auch nach Besichtigung des Luftschachts in den untern Regionen vor der Tür des Heustalls als Wache, während die Beiderwandhose in die Bodenräume hinaufstieg und sich mühsam nach dem Heustall durchschlug.
Das Schicksal hat eine wandlungsfähige Hand. Es kann dir lind und leise über das Gesicht streichen und dich in dem Glauben bestärken, daß du ein vortrefflicher Junge seiest und daß es dir nicht schlecht gehn könne. Es kann aber auch vorkommen (und gewisse Leute behaupten, es komme häufiger vor als das andre), daß es dich ganz unsanft faßt, so wie man es nur bei den allernichtsnutzigsten Burschen macht. Ja, und nicht selten soll diese Hand ganz ungebildet unzart und roh in unsre Seligkeiten gerade dann hineingreifen, wenn man die Seraphime siebenter Sphärenordnung die Loblieder vor dem Thron des Ewigen singen hört. Und dann wirst du beim Kragen genommen und aus dem lichten Vorhofe des strahlenden Himmels in die Dämmrung des allerirdischsten Kuhstalls zurückgeführt.
Hast du, verehrter Leser, jemals einen Luftschacht durch einen Heuhaufen getrieben? Hast du jemals köstliche Stunden in der Spitze der Dachschrägung unmittelbar unter der hohen Sodenfirst zubringen dürfen, in der Zuversicht, für alle Menschengeschöpfe unauffindbar, unerreichbar zu sein? Und hast du dabei gar die Gesellschaft von zwei jungen Kindern gehabt? Du suchst auszuweichen. Einen Heuschornstein hast du niemals gebaut, auf dem Heuboden bist du überhaupt noch nicht gewesen. Aber darauf werde es nicht ankommen, meint deine Weisheit, und sonst seiest du in Sachen des Stelldicheins wohl erfahren. Aber ich entgegne: Hast du keine Erfahrungen im Heu, so wirst du dich bescheiden müssen. Fehlt dieser Umstand, so verliert dein Wissen (dein Wort sonst in Ehren) allen Wert. Denn freilich kommt es justement auf das Heu an. Wer hat nicht von ihnen gehört, den Überirdischen, den Wiesen- und Moorgöttern, die keinen größern Spaß kennen, als junge Menschenherzen in Liebe zu entflammen? Unsichtbare Kobolde sinds, und ihr unsichtbares Bäuchlein halten sie vor Lachen, wenn es ihnen gelingt, ein Pärchen im Heudiemen zu lagern. Aber im Winter starrt das Gelände der Wiesen von Eis und Schnee und Kälte, dann kommt kein Bursche, kein Dirnchen dahin. Was bleibt den Ärmsten übrig, als dem Heu nachzuziehen?
Werfen drei Menschenkinder in größern, mangelhaft gelockerten Bündeln so viel Heu in die Unterwelt, wie ein Kuhjunge von Rechts wegen mit seinem blanken Instrument von unten her aus dem festen Heuhaufen losrupfen sollte, so ist die Arbeit bald getan. Dann gibt es Plauderstündchen. Zu dreien saßen sie vor eben demselben Hahnengiebel, wo Puckchen einstmals diniert hatte, von Gewissensbissen wenig belästigt. Hatte man das Plaudern satt, so balgte man sich wohl in aller Freundschaft im weichen Heu. Und die von den Wiesen her in ihre Winterquartiere eingewanderten Unsichtbaren saßen auf Balken und Latten und lachten ein unhörbares und unsichtbares Lachen. So was war ihre Augenweide.
In den ersten Tagen hatte Hein noch häufig nach der Unterwelt hinabgehorcht. Aber niemals hatte er etwas anderes vernommen als das Summen und Weben der Stille, das leise Rasseln und Klingen der Kuhketten, das Atmen und Schnauben der behaglich wiederkäuenden Herde. Und er mußte schon ziemlich tief in den Schacht hinabsteigen, um auch nur diese Laute zu vernehmen.
Wie oft hatte sich das junge Volk der drei in aller Freundschaft gebalgt! Es war aber noch immer unentschieden, ob Hein stark genug sei, beide Schwestern selbander in das Heu zu strecken. Aber heute blieb er Sieger.
Ihr Unsichtbaren im Hahnengiebel und auf Querbalken, schöne liebenswürdige Töchter der Natur und ihrer gras- und blumenreichen Wiesen – ihr hättet die leichtsinnigen Kinder gern gewarnt, aber es war gerade kein geeignetes Medium zur Hand. Es ist kein Heckenzaun, was die Irdischen und Überirdischen trennt. Die Mauerpforte dreht sich nur in einer Richtung, sie erlaubt nur ein Hinaus, kein Herein. Mit Entsetzen hattet ihr schon längst den Wirt des Hofes, Harm Kühl, gesehen, wie er auf seiner beschwerlichen Reise durch die Dachfirst des Kuhhauses, die nur ein Kriechen gestattete, nahte.
»Das gilt nicht«, hatte Ricke gesagt. Das Nachdenken darüber, was sie wohl damit eigentlich meine, verschob Hein Wieck auf einen andern Augenblick. Er hatte dazu einen tief empfundenen Grund: er fühlte nämlich eine kräftig zugreifende Hand an seinem Ohrzipfel.
Man konnte erwarten, daß nunmehr eine schreckliche Szene gefolgt sei. Und es ist wahr: Hein hat angenehmere Lebenslagen in seiner Erinnerung, als die war, worin er sich sah. Wer aber annimmt, daß es die Weise von Harm Kühl war, zu lärmen und zu toben, auf seine liederlichen Töchter zu fluchen, der ist in die Wesenseigenschaften des Besitzers vom Holm noch nicht genügend eingeweiht. Er sah ein, daß er es hier mit Dummenjungenstreichen und Kindereseleien zu tun habe, die man nicht zu wichtig behandeln dürfe. Heftiges Aufbrausen war ihm überhaupt nicht eigen, er hielt es mehr mit einer ernsten Haltung, die den Eindruck des Augenblicks überdaure.
Den Jungen hatte er sich sofort beim Ohr genommen, und zwar mit einer Innigkeit, die für die Dauer dieser Behandlung sprach. Aus seinem Gesicht leuchtete so etwas wie Zufriedenheit mit dem Schöpfer, weil er bei den Ohrzipfeln der Dienstjungen auf eine angemessene Länge Bedacht zu nehmen pflege. Mit Vergnügen erinnerte er sich in diesem Augenblick an den umfangreichen Ohrlappen von Gorg Bünz und erfreute sich zugleich an dem, was er jetzt zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt. Denn auch dies bot genügend Stoff für eindringliche Mahnung und war ausgezeichnet durch die Sammetweichheit blonder Jugend. Woran sonst, mußte er denken, woran könnte man wohl ungezogene Jungen, die am liebsten mit affenartiger Behendigkeit in die Unterwelt schlüpfen, halten, wenn nicht am Ohr?
Zu den Töchtern sagte er nur das eine: »Weg mit euch, erwartet mich bei Mutter!« was zur Folge hatte, daß der bekannte Schacht sie lautlos verschlang.
Nun sah Hein sich seinem Bauern allein gegenüber, und der Ernst seiner Lage schien ihm dadurch wesentlich erhöht. Harm Kühl war von der langen Bodenreise mit Staub und Spinngewebe bedeckt. Hein aber sah nicht allein dies und seinen roten, erregten Kopf, er fühlte nicht nur die strafende Hand, sondern er wußte in einer Art somnambuler Vision auch, wie er selbst aussah. Seine kleine Mannsfigur, die sich in den blanken, blauen Leinenhosen stocksteif reckte und streckte, so, wie es dem Herrn seines Ohrs gefiel, sein eignes, in diesem Augenblick nichts weniger als kluges Gesicht standen deutlich vor seinem innern Auge. Seine Armesündermiene, worin jede Linie ein Bußgebet sprach, fühlte er gleichfalls. Er wußte, daß aus seinen Augen eindringlich die Bitte um Milde und Erbarmen sprach und daß darin das Zugeständnis zu lesen war, er dürfe sich nicht über Ungerechtigkeit beklagen, wenn man ihn noch heute abend auf dem großen Küchenherde vom Holm röste und brate.
Aber schon die ersten Worte von Harm Kühl konnten ihn darüber beruhigen, daß ihm der Scheiterhaufen erspart bleibe. Was ihm bevorstehe, deutete Harm nur an – in dunkeln Ausdrücken. Er wolle mit Heins Vater sprechen, zum Kuhjungen sei er durchaus nicht zu gebrauchen. Er mußte hören, daß er ein infamer Taugenichts sei. »Ich will dich lehren, meine Töchter auf den Heuboden locken!« Es wurde die Vermutung ausgesprochen, daß er seinem wackern Vater und seiner im Grabe ruhenden Mutter Schande machen werde. Hein dachte an die Todesstunde seiner Mutter, er dachte daran, daß sie selbst ihm Segenswünsche erteilt habe, die nur der brave Mensch verdient. Und nun zweifelte er an seiner Tugend und sah sich schon in einem tiefen Abgrund. Wie verlangend blickte er nach der lichten Höhe empor, worin er, damals ein Tugendbeflissener, noch vor wenigen Tagen geweilt hatte. Und er hatte sich unterfangen, ein Kuhknecht zu werden, vortrefflicher sogar als Kuhkönig Henn?
Er wurde weich und wäre noch mehr gerührt gewesen, wenn Harm nur nicht so schändlich an seinem Ohr gezogen hätte. Die folgende Bußpredigt fiel aber in die Seele eines Zerknirschten. Er vernahm, was er eigentlich schon dunkel geahnt hatte, daß es ganz ungehörig sei, Heu von oben abzuwerfen, und daß nur ein ganz durchtriebener, fauler Junge auf solche Streiche kommen könne. Dazu habe der liebe Gott justement die Kuhjungen erschaffen, daß sie das Heu mit äußerster Mühe losarbeiten, damit jede Faser locker und lose werde wie Federdaunen. Und nun wurde es ihm bestätigt, daß staubiges Heu selbst die tüchtigste Kuh krank machen könne.
Hein gab ihm in allem Recht und tat wiederum bei sich Schwüre, wenn auch jetzt nicht in der lustigen Verfassung, wie vor einigen Tagen auf seinem Brettstuhl. Damals hatte er ein besserer Raucher werden wollen, jetzt wollte er nur noch ein besserer Mensch werden. Aber unter einem Vorbehalt. Die Antje – oder war es die Rieke? (er wußte wirklich nicht, in welche er am meisten verliebt war) – wenn er sie auch nicht mehr auf den Heuboden nehmen wolle ... niemals! – ganz wolle er die ... die er liebe – sei es nun Antje, sei es Rieke – nicht lassen. Wenn Harm das von ihm verlange, dann könne die Silja ihn nur sofort lebendig braten.
Über seine Lippen kam kein Wort, Er äußerte seinem Bauern gegenüber nicht einmal den so innig gehegten Wunsch, Harm möge seiner Lust, ihn am Ohr zu ziehen, genug getan haben. Er war an der Stelle empfindlicher, als andere Kuhjungen sein mochten. Endlich war der Herr vom Holm auch dieser Meinung und ließ ab, worauf Hein sich mit brennendem Ohrzipfel lautlos, ebenso wie Antje und Rieke es getan hatten, nach unten fallen ließ.
Harm schritt den Heuboden noch einmal bedächtig ab, sah aus dem Eulenloch, dann stieg auch er vorsichtig durch den Schacht in die Unterwelt und ging durch das Kuhhaus über die Futterdiele. Henn, der seinen Kühen Heu vorfegte, sah ihm von hinten mit der Ruhe eines guten Gewissens nach und sprach bei sich: ›Ich habe meine Schuldigkeit getan, nun, Harm, tu du die deine, sieh zu, wie du mit den Übeltätern zurecht kommst!‹ Und wenn der Anblick seines Herrn ihn nicht zu andern Gedanken veranlaßte, so hatte er von seinem Standpunkte aus recht.
Sah man Harms lange, magere und eckige Gestalt ohne Rock, in den blau gestreiften Ärmeln des Überhemds, in schwarzer Beiderwandhose und schwarzer Beiderwandweste, worin der Rückenteil aus hellblauem Batist bestand, über die Fliesen gehn, und sah man die Falten mit jedem Schritt jetzt rechts, dann links von dem Schnittpunkt der langen Beine her langsam kommen und über den beschriebenen Batist in leichten Kräuselwellen langsam vergehn, so sagte das solchen Betrachtern, wie Henn es war, nur, daß Harm sich Zeit lasse. Aber für uns, denen die Herzen der Helden aufgeschlagene Bücher sind, stellen diese Kräuselwellen den Widerschein lieber Erinnerungen dar – Erinnerungen im Herzen des Herrn vom Holm, goldne Klänge des Glücks, die er in stillem Gedenken über die Futterdiele trägt. Er hielt den Kopf etwas rechts geneigt, wie immer, und sah von hinten so trocken aus wie immer. Aber wenn wir ihn überholen und ihm ins Gesicht sehen, so gewahren wir ein Lächeln wie jungen Frühlingstag auf seinem Gesicht – ja in der Gegend der Dickmilchtonne glauben wir ein fast fröhliches Summen zu vernehmen.
Wir täuschen uns nicht, wenn wir annehmen, daß diesem Summen eine Gedächtnisfeier zu Grunde liegt, die die Seele des wackern Harm in Schwingung versetzt. Und dieses fast zu einer Art von Gesang gewandelte Summen und alles das, was damit zusammenhängt, wollen wir als zu unserer Geschichte gehörig einschalten, wollen in einem eigens dazu bestimmten Kapitel dem wunderlichen Gebaren unsers Harm und der Geschichte dieses Gebarens nachgehen.
Es war im zweiten Jahrzehnt unsers alternden Jahrhunderts, als die über den Erdball dahingegangenen Stürme im Dorfe nachträglich eine kleine Revolution in der Kleiderordnung nach sich zogen. Bis dahin hatte sich die Kniehose noch immer siegreich behauptet, nun aber wollte die lange Hose (sansculotte) ihres Sieges, der dem alten Europa soviel Blut gekostet hatte, froh werden. Die Alten blieben bei ihren Kniehosen mit den Silberschnallen, bei ihren gleichmäßig rund herumgestrickten, farbigen Wollwesten und den großen Rundhüten; die Jungen aber waren Anhänger der langen Hosen, der Westen mit dem Rückenteil aus Batist und der nüchternen Mützen. Nach der Lehre der Optimisten verbleibt dem Guten und Wahren stets und überall der Sieg. Da nun die lange Hose und die Mütze die Herrschaft behalten haben, so darf man, wenn die Welt wirklich weise und gut eingerichtet ist, dann darf man – nicht wahr? – annehmen, daß sie der alten Tracht gegenüber einen Fortschritt an Schönheit und an Brauchbarkeit darstellen. Wir wollen uns indes in diesen Kleiderstreit nicht mischen.
Der damalige Besitzer von Holm, der alte Detlev Kühl, den nun schon lange die Erde deckt, hielt tapfer an der alten Tracht fest und sah es auch nicht gern, daß die Jugend sich hiervon losmache. Die Kniehose, der Rundhut und (was wir ganz vergessen haben, hervorzuheben) vor allen Dingen das lang getragene, wallende Haar waren ihm so heilig wie die Symbole seines religiösen Bekenntnisses. Er hatte nur einen einzigen Sohn: Harm. Und dieser war im Grunde seines Herzens ein Neuerer, ein Absalom, jedoch einer mit Vorliebe für kurze Haare. Wahrscheinlich hätte er es kaum gewagt, sich die Haare schneiden zu lassen, wenn nicht seine Mutter im Geheimen eine Revolutionärin gewesen wäre.
Die Erlaubnis zu den langen Hosen wurde dem Alten schließlich halb abgetrotzt, halb abgeschmeichelt; an den langen Haaren aber hielt der Vater beharrlich fest. Da verschworen sich Mutter und Sohn. Das lange Haar fiel unter dem Schermesser von Jürgen Weber. Nach dem Ratschluß der Mutter sollte Harm, der, in der Regel mit Feldarbeiten beschäftigt, seinem Vater eigentlich nur bei den Mahlzeiten unter die Augen kam, sollte Harm also auch bei Tisch die Mütze auf dem Kopf behalten, damit man über die Angst des ersten Tages hinwegkomme.
Dieser Entschluß der Frau Kühl, die sonst für eine kluge Frau gehalten worden ist, spricht nicht gerade für ihre Schlauheit. Denn wenn Harm auch am Leutetisch saß, so geschah doch das, was unter diesen Umständen nicht ausbleiben konnte. Der Alte erhob sich, nachdem er scharf von seinem Tisch nach der Mütze hinübergeäugt hatte, während des Essens, nahm seinem Harm die Mütze mit zwei Fingern vom Kopf und hielt sie senkrecht über den Geschornen. Die Verachtung, der Hohn, der in seiner Miene lag, läßt sich nur malen, nicht erzählen. Er stellte den Filius in Gegenwart des gesamten Gesindes arg bloß: »Wat hev ik doch förn Hans Narr von Sohn«, sagte er, »keen Spier (keine Strähne) op den barden (bloßen) Kopp!« Dann ließ er die Mütze dahin zurückfallen, woher er sie genommen hatte.
Harm war groß geworden und stand im Jünglingsalter. Alltags trug er noch immer die ersten ihm angemessenen langen Beinkleider und mußte sie solange tragen, bis sie kein Flicken mehr vertrugen. Reichten sie auch immer noch weiter als bis zu den Waden, so waren sie doch offenbar zu kurz geworden. Schon dieser Umstand weckte nach den Grundsätzen, daß gleiche Lebenslagen Seelenannäherung befördern, Liebe und Mitgefühl in seiner Brust für die Tochter des Kätners Dierck Reimers von Ellernbusch. Denn auch sie wurde angehalten, Röcke aufzutragen, die einstmals lang genug gewesen waren. Die Holzpantoffeln des jungen Harm hielten die über ihnen hängenden Hosensäume für ein unerreichbares Ideal und taten recht daran, wuchs doch das Schienbein des Harm immer länger aus den besagten Säumen heraus. Wieb war etwas besser daran, denn ihre große, weite und lange Schürze hatte den guten Willen, die kurzen Röcke zu bedecken und ihrer Länge drei Zoll hinzuzudichten.
Harm war aschblond und zu mager, um für schön gehalten werden zu können; Wieb hatte schwarze Augen und Haare und galt für hübsch.
Sie waren miteinander zur Schule gegangen. Die Äpfel und Birnen von Holm und von Ellernbusch waren getreulich ausgetauscht worden. Mitunter hatten sich die beiden erzürnt, meistens aber hatten sie sich gut vertragen. Im Winter hatten sie sich mit Schneebällen geworfen, und abends war der etwas hartlernende Harm nach dem Ellernbusch hinüber gegangen, um sich von Wieb den Katechismus und die Bibelverse überhören zu lassen. Sie waren, obgleich Harm zwei Jahr älter war, ungefähr zu gleicher Zeit eingesegnet worden. Wenn sie sich sahen, so sagte Harm: »Wieb?« – und Wieb sagte: »Harm?« – was soviel bedeutete wie: Guten Tag, Harm, guten Tag, Wieb! Wir sind beide froh, uns wiederzusehen, denn wir können uns gut leiden.
Beim Ringreiten kam es zur Erklärung. Nun wollten sie sich auch in Zukunft angehören und sich allein treffen. Der Winkel hinter der alten Hofscheune am Hausteich schien unserm Harm dazu passend. Er bestimmte also diesen Fleck zum Stelldichein.
So ein junger Harm hat seine eigenen Ansichten. Wenn er in Holzpantoffeln, in zu kurzen Beinkleidern auf einem krummen Holunderstamm sitzt, seine Liebe, die eine Küchenschürze trägt und deren Röcke zu kurz geraten sind, im Arm, ist er kapabel, so ein schwarzhaariges Dirnchen lieber zu haben als seine Tante, die lange Röcke trägt. Er ist imstande, für seine Wieb und ihre Liebe den Triumph gering zu achten, im Ringreiten den ersten Preis zu erringen oder in vierundzwanzig Stunden zwei Tagewerk Wiesen abzumähen. Ja, für so etwas Liebes gibt er leichten Herzens den Genuß dahin, dickgeschmierte Butterbröte zu dünner Buttermilchgrütze zu essen, auch wenn die Köchin ihr mit einer Kanne süßen Rahms einen Geschmack gegeben hat, den man kennen muß, um ihn für möglich zu halten.
Aber Rauhreif und heimliches Liebesglück werden nicht drei Tage alt.
Es war das dritte mal, wo die beiden, die in ihren Kleidern zu kurz gekommen waren, sich dafür in der Liebe hinter dem Steinwall entschädigten, als Detlev Kühl plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihnen stand, im vollen Schmuck des Rundhuts, der langen Haare und der Kniehosen. Er kam nicht aus der Fassung und ließ die Pfeife nicht aus dem Munde, aber schimpfen konnte er mit dieser Pfeife im Munde ganz tüchtig: »Krötenzeug, liederliches Frauenzimmer, Ungeratener« – und so weiter. Wieb stob davon, daß die lange Schürze im Mondschein flatterte, Harm war durch einen kleinen Umstand verhindert, ihrem Beispiel zu folgen: denn sein Alter hielt ihn just so, wie er heute Hein Wieck gehalten hatte, kräftig am Ohrzipfel, dabei fett aus der Kehle knarrend: »Hat ja kein Haar aufm Kopf, da muß man hingreifen, wo so ein unnützer Junge zu packen ist.«
Und am Ohr wurde der lange magere Harm mit seinen kurzen Beinkleidern, mit der neumodischen Mütze über den Hofplatz hinübergeführt, hinein in das Haus, über die große Diele, vorbei an den Gesindeschlafbetten, deren Insassen mit etwas Schrecken, viel Belustigung und treffsicherer Ahnung diesem Strafgericht zusahen. Und weiter ging es direkt vor das Bett der Mutter. Hier bekam Harm endlich den brennenden und schmerzenden Ohrzipfel frei.
»Da hast du deinen neumodischen Jungen«, grollte Detlev Kühl mit seiner Hälfte. Er hatte entschieden Lust, alles auf die kurzen Haare zu schieben und anzunehmen, daß Harm seine Liebeshändel nicht angeknüpft hätte, wenn Jürgen Webers Schermesser nicht über sein Haupt gekommen wäre. »Da hast du den neumodischen Schlingel«, wiederholte er. »Mit der Kätnerstochter freit der dumme Junge hinter der Scheune. Das hast du nun davon!«
An das alles dachte Harm Kühl, als er an der Dickmilchtonne vorübersummte. Beim Ohr hatte ihn einstmals sein Alter gefaßt, so hatte er seinen Dienstjungen heute gehabt, seinen Dienstjungen, den leiblichen Sohn seiner Jugendliebe.
Dem alten trocknen Harm wurde wieder weich und warm. Sie umsäuseln ihn wieder mit ihrem Frieden, die Frühlingsabende im Holundergebüsch der alten Scheune vom Holm. Noch loht es schwach im Westen, wo die Sonne versank, und schon steht, wie es sich bei einem rechten Stelldichein gehört, der gute deutsche Mond am Himmel. Sein weißer Glanz liegt auf den düstern Hängen der schweigenden Nachtgebüsche, die ihr Blättergewirr bis auf den Steinwall hinabtauchen. Und was sie umschließen, ist das köstlichste Geheimnis, das je ein Holunder umschloß. Ein Flüstern, ein Murmeln, ein Seufzen. Der starke Duft der Blütensträuche beschwert die jungen Herzen mit der bohrenden Sehnsucht einer Liebe, die sich nicht genug tun zu können vermeint und doch so köstlich erfüllt im Arm gehalten wird. Die Bienen haben längst ihre Stöcke aufgesucht, verstummt ist das Tagesgesumm im Blumenkelch der weißen Dolden, Riesenmücken arbeiten mit lächerlich langen Gliedern über die Kleidung der beiden seligen Menschenkinder oder summen durch die grüngoldne Dämmerung. Und in dem Hausteich zu den Füßen der Glücklichen das unermüdliche Lärmen der Frösche.
Kennt ihr das türkische Märchen? Ein Sultan heischt Wunder von seinem Weisen. Der führt ihn inmitten seiner Großen an eine Wassertonne und ersucht ihn, sein Haupt einzutauchen. Der neugierige Sultan tut das. Aber mit dem Eintauchen ist die Welt, ist er selbst verwandelt. Er sieht sich an den Fuß eines Berges an den Meeresstrand versetzt. Voller Grimm über den Zauber des Meisters. Mit Mühe findet er einige Waldarbeiter, die ihm den Weg nach der nächsten Stadt zeigen. Dort nimmt er Wohnung und heiratet nach verschiedenen Abenteuern eine Frau von großer Schönheit. Sie schenkt ihm sieben Söhne und sieben Töchter, Jahre um Jahre vergehn, endlos fließt die Zeit. Dann verarmt er völlig, er muß sich als Lastträger ernähren. Finstere Schwermut beschattet sein Gemüt. Eines Tages geht er ans Meer und grübelt über sein Mißgeschick nach. Zum ersten male empfindet er das Bedürfnis, sich nach frommen muhammedanischen Gebräuchen zu waschen und zu baden. Er legt die Kleider ab und taucht in die Flut. Und, o Wunder! wie er das Haupt aus den Wellen zu heben vermeint, sieht er sich im Hof seines Palastes neben der Wassertonne, neben seinen Bezieren und dem Zauberer. Furchtbar entladet sich sein Zorn. Wie er ihn so lange habe in Knechtschaft schmachten lassen können! Aber ruhig beweist der Meister durch das Zeugnis der Anwesenden, daß der Sultan sich nicht vom Flecke bewegt hat, und daß seit dem Untertauchen des hohen Hauptes noch keine zwei Sekunden verflossen sind.
Von dem Kuhstall durch den Rundbau, wo die brave, dunkelbraune Lisch die Buttermaschine am geduldigen Göpel dreht, über die Hausflur bis zur Wohnstube waren nicht mehr als dreimal zehn Schritte. Und Harm durchmaß diese Räume ohne Aufenthalt, wenn auch ohne besondere Eile, den Kopf schief, mit Daumen und Langfinger knipsend. Aber als er die Türklinke hinter sich zugedrückt hatte, waren die langen Jahre seiner Jugend, ihre Freuden und Torheiten wieder an ihm vorübergezogen. Und in frohmütig weicher Stimmung stand er vor seiner Grete.
Unser Freund Hein wurde an dem Tage und auch an dem folgenden Tage das Gefühl nicht los, daß ihm ein großes Unglück, eine nie gehörte Blamage passiert sei, daß ihm ein Schandfleck anhafte, den er niemals wieder abwaschen könne. Er spürte in den Mienen seiner Hausgenossen, und überall sah er oder glaubte er ein vielsagendes, ironisches und mitleidiges Lächeln zu sehen.
Am meisten aber fürchtete er das Frauenzimmervolk in der Küche. Den armen Würmern drinnen wird eine schöne. Rede gehalten worden sein, das Kleinmädchen Witten horcht immer an den Türen – wer weiß, vielleicht hat sie alles mit angehört. Und ob der Henn es sich wird versagen können, eine so seltene Geschichte zu erzählen? Es schien fast ausgeschlossen, daß die Sache dem Gesinde geheim bleiben werde.
Des Nachmittags wurde in der Küche gevespert. Henn und die andern Knechte aßen zuerst, während Hein die Wache im Kuhhaus hatte. Er bekam nachher mit den Dienstmädchen zusammen. Die Aschenkiste am Herd war sein Platz. Die Vesper war ihm immer eine Erholung gewesen, die er nicht gern mißte. Wenn er sich beim Kuhstriegeln zu sehr darüber zergrübelt hatte, wie es mit ihm und seinen Bräuten wohl werden möge, legte die frische Heiterkeit der immer lachenden Mädchen sich wie – nun, um naturalistisch zu dichten: wie Ölverband auf sein vor Liebe wundes Herz. Heute aber ging er in großer Angst und mit einer gewissen Todesverachtung dahin. Wenn irgendwo, das war ihm klar, so hatte er bei der Dirnengesellschaft Schlimmes zu befürchten.
Der Empfang weissagte nichts Gutes, da bei seinem Eintritt eine lustige, von schallendem Gelächter begleitete Unterhaltung plötzlich verstummte. Von ihm war also die Rede gewesen. Wenn auch alle mit verdächtigem Eifer bemüht waren, seinem Blick auszuweichen, so erwischte er doch in dem Funkelauge der Abel blanken Spott. Silja schien ihn nicht zu bemerken, wohl aber bemerkte Hein den Rippenstoß, den sie von Abel erhielt. Und selbst die stille Elsbeth biß sich auf die Lippen, als sie seinen Kaffeetopf füllte. Und nun gar das Gesicht der niedlichen, in ihren Tassenkopf hineinkichernden Witten. Ein gedämpftes Flüstern, Kichern und Gluhern ging durch die Gruppe der Mädchen. Er konnte kaum noch daran zweifeln, daß dieser Empfang mit seinem Unglück, mit seiner Blamage zusammenhänge, und als man nun gar eine offenbar nach seinem Fall erfundene Geschichte von einem liebestollen Knecht ohne rechten Übergang im lautem Ton zu erzählen anfing, da wußte er es.
Und auf seiner Aschenkiste dachte er über die Grausamkeit der Weiber nach. In seiner Vorstellung saß er übrigens gar nicht auf der Aschenkiste, aß auch kein Schwarzkäsebutterbrot – nein, er war Indianern in die Hände gefallen, er war an den Marterpfahl gebunden und mußte sehen, wie man Pfeil auf Pfeil auf ihn abschoß. Er war sehr verlegen, war aber auch sehr zornig und bedauerte im stillen, diesen Zorn gegen die netten Mädchen nicht entfalten zu mögen.
»So ein dummer Junge«, kritisierte man den Helden. »Dumm oder nicht, küssen, das verstand er«, wurde erwidert, nach Heins Meinung war es die anzügliche Abel. Hein hatte darüber keine klare Erinnerung und kann nichts beschwören, aber daß darauf die Köchin vom Holm, die runde Silja (Tete war ihr erklärter Schatz) vor der Aschenkiste stand und den Gequälten anlachte, steht so fest, als sei es beeidigt.
»Was sagst du denn dazu, mein Heini? Du sollst es ja auch so nett können. Gib mir ein Pröbchen!«
»So gut wie Tete mach ichs doch nicht.«
Aber Silja wollte den Unterschied kennen lernen, Hein solle nicht widerwärtig sein ihr einen Gefallen tun. Tete mache es ganz gut, aber sein Bart täte so weh.
Sie streichelte ihm die Wangen. Hein wurde heftig und bog den Kopf so weit zurück, wie es die Wand erlaubte.
Da hatte er das Spiel verloren. Nun erst zeigte sich, in welche Gesellschaft er geraten war; nun tagte es, daß eine durch Komplott verbundene Rotte von Mädchenröcken in der Küche vesperte. Es folgte eine tolle Szene. Dürften wir unserm Geschmack folgen: wir würden sie nicht mitteilen. Aber wir erinnern uns, daß unser Amt als Erzähler uns die Pflicht auferlegt, uns und andre zum besten der Wahrheit in der uns allen gemeinsamen sittlichen und ästhetischen Empfindung zu betrüben. Aber alle Einzelheiten festzustellen, kann uns nicht zugemutet werden, nur das erfordert die Gerechtigkeit, außer Zweifel zu lassen: Silja hat angefangen.
Sie hatte es von vornherein auf Falschheit abgesehen. Mit der Versicherung, sie nehme, was man nicht gebe, gestohlene Pflaumen schmeckten erst gar süß, umschlang sie ihn und küßte ihn auf den Mund. Das wirkte wie ein Signal und weckte unverhohlene Umsturzbestrebungen. Von mehreren Mädchenstimmen wurde gerechte und gleiche Verteilung der Güter verlangt, als ob der Bande das mit Recht zugekommen wäre, was sie jetzt nahm. Es war nicht Silja allein, nein – alle, Abel, Witten, ja selbst Elsbeth gingen zum Angriff über, und Hein wurde von vier jungen Weibern zu gleicher Zeit umarmt und geküßt.
Es war nicht nur Heuchelei, wenn Hein empört tat und, so bald er einen Gedankenstrich frei bekam, schrecklich drohte. Allerdings wissen wir nichts von Anstrengungen, diese Drohungen zu verwirklichen. Daran verhinderte ihn außer einer sehr innigen Umschlingung von vier und mehr Armen das Bewußtsein, daß er bei diesem Raubzug eigentlich doch nur scheinbar der leidende Teil sein. Hein war nicht klassisch gebildet, mußte daher auf den schlangenumwundnen Laokoon, den wir Gelehrten unter solchen Umständen ganz gewiß beschworen hatten, Verzicht leisten. Er wollte auch den Marterpfahl nicht ganz missen. Aber was jetzt auf ihn geworfen wurde, schien ihm eher Blumen als Pfeilen zu gleichen. Und schließlich kam über ihn eine Art humoristischer Stimmung, die ihn veranlaßte, die Vorteile seiner Lage auszunutzen, indem er nicht allein empfing, sondern auch zurückgab. So entwickelte sich ein ganz lustiges Gefecht, wobei Hein mehr Küsse einheimste, als mancher von uns sein Leben lang erhält.
Bekanntlich ist keine Freiheit so wild, daß sie sich nicht alsbald unter ihre eignen Gesetze stellt. So kam denn auch in das Durcheinander eine Art Ordnung und Reihenfolge. Hein verhielt sich dabei gleichgültig, der Eifer seiner Verehrerinnen sprach dafür, daß alle daran kommen würden; er ließ sich alles ohne tiefere Herzensteilnahme gefallen, nur bei Elsbeth, die ihn an Antje oder Rieke – ja, wer von beiden war nun eigentlich seine Hauptbraut? erinnerte, legte er eine Art Gesinnung hinein.
Silja hat schon längst den Grützgrapen über den Feuerhaken hängen sollen, die Dielenuhr hat zum Melken gemahnt, und auf Hein wird wohl Henn nachgerade warten. Das alles wurde vergessen, denn alle Beteiligten waren bei der Sache. Die Klinke an der nach der Wohnstube führenden Tür bewegte sich, keiner merkte es. Die Tür öffnete sich, keiner sah es. Im Türrahmen erschienen drei Gesichter, keiner nahm sie und den Schrecken auf den beiden jungen, den Zorn auf dem ältern wahr, auch das nicht, daß die beiden jungen zurückgeschoben und die Tür sachte angelehnt wurde.
Es war ein Traumzustand, worin sich die Gruppe in der Gegend der Aschenkiste befand. Jedes Mädchen stand unter der Vorstellung, daß sie nicht den Stalljungen, sondern eine Person umarme, die sie lieber habe als Hein Wieck. Mit einem Wort: alle waren geistesabwesend und erwachten erst, als die Hausfrau vor ihnen stand und mit hartem Wort die Seelen der Nachtwandler in ihre Behausung zurückrief.
»Ich bin doch neugierig«, sagte sie mit der Sicherheit einer Hausfrau, die um so ruhiger erscheint, je mehr Anlaß vorhanden ist, die Ruhe zu verlieren, »ich bin doch neugierig, wie weit man die Schamlosigkeit in meinem Hause treiben wird?«
Das fegte alles Lebendige hinweg, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Nach drei Sekunden war Grete Kühl geborne Otzen allein in der Küche. Nur der Grapen stand auf dem Herd neben dem Feuerrost, verraten und verlassen und dennoch ungekränkt. Dieser eiserne Dienstmann gehörte zu den Stillerfahrenen. Die Hänge ließ er schlaff herabhängen, ergeben, mit der Torheit der Welt vertraut. Will man einen Versuch machen, seine Miene in Worte zu fassen, so übersetze ich: ›Ja, Ja, Greten, das ist nun mal so. Das ist der Lauf der Welt. Jugend hat keine Tugend. So war es, als wir beide noch im Glanze ihrer Schöne strahlten, und besser ist es seitdem auch nicht geworden.‹
Ich weiß nicht, was die Hausfrau angestellt hat, das Dirnszeug zum Anhören der Strafpredigt dingfest zu machen. Aber das weiß ich: als sie das Schreckliche noch einmal überdachte, wurde ihr einen Augenblick schwarz vor den Augen. Und auch das ist mir bekannt, daß sie den Hein, der sich in seiner Herzensangst gleich nach dem Abfüttern in die Bettlade verkrochen hatte, persönlich aufsuchte.
Sie stand in der Kuhkammer und hielt einem tief unter der Bettdecke vergrabenen, hoch aufgebauschten Bündel die Untaten vor, die das Etwas verübt haben sollte. Der wackere Vater Jasper wurde als Muster aufgestellt, zu seinem glänzenden Tugendschild war die schwarze Bosheit ihres Schützlings ein schlimmer Gegensatz. Der Schatten seiner seligen Mutter, ja selbst der alte Dierck wurde heraufbeschworen. Über ihrer eignen Rede wurde sie gerührt, auch über die Bettdecke liefen die Falten der Seelenbewegung. Grete flehte die Bettdecke an, sich der Reue und Besserung nicht zu verschließen, den breiten Weg, der zu keinem guten Ende führe, zu verlassen. Sie weinte heftig in ihre Schürze hinein. Es handle sich um Wichtigeres, als um sein leibliches Wohl – sein Seelenheil stehe auf dem Spiel. Ja, sie zitterte vor ihrer eignen Verantwortung, wenn der ewige Richter ihr derdereinst die Frage vorlegen werde: ›Wo ist Hein Wieck? Wo ist der, den die selige Wieb in deine Hände befohlen hat?‹
Dem Bündel war es bei diesem Teil am unbehaglichsten; lebhafter zuckte es über das blaugewürfelte Deckenmuster, und einen Augenblick erschien am Fußende die große Zehe des Übeltäters mit einem unglaublich langen Nagel. Grete fragte in das Bett hinein, ob Hein Besserung versprechen und sich gegen alle Versuchungen des Bösen mit den Mitteln, die nur das zuversichtliche Gottvertrauen an die Hand gebe, wappnen wolle – eine Apostrophe, die zur Folge hatte, daß sich eine kleine, schmutzige Kuhjungenhand hervorreckte, von der Gretes Rechte die feierliche Zusage entgegennahm.
Damit war der feierliche Teil der Unterredung zu Ende. Der Bußpredigerin Aufgabe war erledigt, die Hausfrau, deren Blick nichts Ungehöriges entgeht, hatte noch ein Wort zu sagen. Sie schlug die Decke von unten her zurück und stellte zwei Füße, nicht übermäßig sauber, und deren lange Nägel bloß. »Aber das sag ich dir, Hein«, schalt sie, »daß du mir morgen gleich die Nägel schneidest! Da kann kein Strumpf bei heil bleiben. Und wir haben auf dem Holm noch andres zu tun, als deine Strümpfe stopfen.«
Wir wollen den Herzensanteil, den wir an dem Jammer der Töchter des Hauses nehmen, nicht aufrühren, wenngleich nicht verschwiegen werden kann, daß beide, Antje und Rieke, steinerweichend weinten. Antje war ganz Trostlosigkeit mit der Richtung eines wilden Hasses gegen Hein und alle Welt. Und die Drohungen, die sie gegen ihren Geliebten äußerte, waren eines bisher doch nicht unliebenswürdigen Mädchens ganz unwürdig und kennzeichneten sich durch die Entlegenheit ihrer Richtung und ihres Inhalts sofort als die Eselsbrücke einer Eifersucht, die in dem Bestreben dem Gegenstand ihrer Liebe etwas anzuhängen, bankerott geworden war. Sie wollte nämlich ihrem Vater sagen, daß Hein die Kühe immer durch Schimpfworte beleidige, und daß er zu Hattkopp ›Uhlenspegel‹ sage.
Die Ricke weinte nicht vor Wut, sondern aus Mitleid. Aus Mitleid mit Antje, mit Hein und aus Mitleid mit sich selbst. Sie war nicht so egoistisch wie ihre Schwester. Ihren Tränen fehlte nicht das Erlösende, das Befreiende, das Herzentlastende. Sie umarmte ihre Schwester und suchte zu trösten. Hein habe keine Schuld. Er sei ein Opfer der Übermacht geworden, und nur mit Gewalt sei es gelungen, ihm das zu nehmen, was er jedenfalls freiwillig nicht hergegeben haben würde.
Inzwischen stand Harm in der Wohnstube und stopfte sich eine Pfeife. ›Das ist ja ein kleiner Satanskerl!‹ redete er in sich hinein. ›Vor diesem sechzehnjährigen Bengel sind nicht meine Töchter, ist kein Weibsbild im Hause sicher. Wer hatte das gedacht, daß Wieb so einen Ausbund in die Welt setzen werde! Und nun gar mein ruhiger trockner Ehrenjasper. Merkwürdig! Hein war doch sonst immer ein ruhiger, guter, fleißiger Junge. Ganz unbegreiflich, das Sprichwort von den stillen Wassern hat, wies scheint, Grund. Muß doch mal zu Jasper.‹
Die Pfeife brannte. Harm erstickte die letzten Funken seines Fidibus mit der Rechten am eisernen Beileger, stopfte mit dem linken Daumen den glimmenden Tabak im Pfeifenkopf fest, verschloß den silbernen Deckel und schritt dampfend zum Ellernbusch hinüber.
Nach einem Stündchen erschienen Harm und Jasper beide in der Kuhkammer. Hein hatte sich dessen nicht versehen und fand keine Zeit, unter die Decke zu verschwinden. Und schließlich hielt er es sogar für ein Stück Helden- und Wagemut, ohne Visier und Rüstung das zu erwarten, was ihm beschert sein werde.
Harm nahm zunächst das Wort. Aber, was er vorbrachte, war ein abgeschwächter Aufguß des von seiner Frau gekochten Gerichts. Denn das bleibt bestehn für und für: in der Kunst des Scheltens, eines Scheltens, wobei der Scheltende, ohne sich zu erhitzen, eine eindringliche Wirkung erzielt – in dieser Kunst sind uns die Frauen überlegen. Neu war unserm Hein nur die Ankündigung, daß er den Verkehr mit Antje und Rieke endgültig verscherzt habe, daß er auch tunlichst von dem weiblichen Gesinde werde abgesondert werden müssen, und daß man, um diesen Erfolg um so sicherer zu erreichen, seine Strafversetzung nach dem Pferdestall als Pferdeknecht beschlossen habe. Ihn dauernd in der glänzenden Laufbahn eines Stalljungen zu belassen, gehe bei solchem Betragen auch nicht an. Zum Frühjahr werde er bei dem Onkel als Zimmermann in die Lehre gegeben werden.
Hein fand das alles natürlich. Auch war es eine von ihm vorausgesehene Zugabe, als sein Alter, der sonst so wortkarge Jasper, ebenfalls zu schelten begann. Daß er mit seiner Rede nicht zustande kommen werde, das wußte Hein im voraus, und auch Jasper sah bald ein, daß das Redenhalten seine Sache nicht sei, daß er auf diesem Felde keine Lorbeern ernten werde. Es war nur halb Zorn auf Hein, ebenso sehr Zorn auf seine Verlegenheit, als er sich in eine Wut hinein redete und stammelte, die ihm glücklicherweise gestattete, das nachzuholen, was er von Anfang an hätte tun sollen, weil es das Natürlichste und Nächstliegende war. Wer weiß, ob er aber überhaupt darauf gekommen wäre wenn nicht der weiche Ohrlappen unsers Helden sich rosig und breit auf dem blaugewürfelten Kissen präsentiert hätte. Nun erkannte Jasper jedenfalls seine erzieherische Pflicht als strafender Vater, endlich nahm er das Ding zwischen Daumen, Zeige- und Langfinger der rechten Hand und knüllte, zerrte und zog es. Und bei dieser Beschäftigung brachte es sein Mundwerk begreiflicherweise nur noch zu einem mehr aus den zusammengepreßten Zähnen gepreßten und gezischten als gesprochnen, sozusagen zusammengepreßten Auszug dessen, was er hatte sagen wollen. »Ik will di wisen ik will di lehren«, zischte und sagte der wortarme Jasper in endloser Wiederholung, und bei jedem »wisen«, bei jedem »lehren« zog er das vielgeprüfte Ohrläppchen seines ungeratnen Filius, dem er beim Abschied noch zwei Backenstreiche schenkte.
Hein fühlte sich gedemütigt vor den Menschen, er fühlte sich vereinsamt und suchte daher Anschluß bei Wesen, vor denen er sich nicht zu schämen brauchte. Den Kuhstall und die Kühe hatte er verlassen müssen, dafür war er Schutzherr der Pferde geworden.
Diese neuen Freunde mußten ihm viel ersetzen, denn auch Hein Wieck kam auf den Gedanken, daß die Ereignisse der letzten Tage auf das Verhältnis zu seinen zwei Bräuten nicht einflußlos sein könnten. Mit Rieke – da war vielleicht Hoffnung, aber mit Antje (die sah ihn gar nicht mehr) war es sicherlich ganz aus. Rieke hatte ihn doch angesehen, einmal sogar angelacht. Hein mochte jetzt Rieke viel lieber als Antje. Und das war ganz natürlich, er hätte ja blind sein müssen, hätte er nicht gesehen, daß diese schwarzen Augen schöner waren als die blauen, daß um diesen Mund mehr Güte lag, als er bei Antje jemals gesehen hatte. Das tat ihm wohl, aber trotzdem wollte er sich nicht beruhigen lassen; noch liebte er seinen Kummer mehr als Riekes Trost. Traurig schlang er die Arme um den Hals der alten Pferdemutter Lisch und beklagte sich bei ihr in so bewegten Worten, daß der hellbraune Jochen im Nachbarverschlage eifersüchtig wurde und auf den Steinboden stampfte.
Bei ihnen fühlte er sich geborgen, sonst nirgends. Seine Geschichten waren Dorfgespräch geworden; vor Scham wagte er den Menschen nicht ins Gesicht zu sehen, und in seiner Brust hatte sichs wie die Zentnerlast einer schweren Schuld angehäuft.
Woher dieses fürchterliche Schuldgefühl? Hätte er gestohlen gehabt – es hätte nicht schlimmer sein können. So recht wußte er selbst nicht den Grund, aber er fühlte sich tief in Schuld. Er sah sich als Träger einer Schuld, und zwar einer ihn lächerlich machenden Schuld, ganz besonders dann, wenn die Gefühle der religiösen Scheu in ihm emporschossen, wie es zum Beispiel bei den Predigten, die Harm Kühl am Sonntagvormittag der versammelten Hausgenossenschaft vorlas, geschah. Auf seinem freigewählten Armesünderstuhl in der Ecke hinter den Dienstmädchen, die so züchtig dasaßen, als hätte es niemals einen Kußkampf in der Küche gegeben, preßte er beim Vaterunser die gefalteten Hände in Reue fest zusammen. Als einmal das Gleichnis von dem hartherzigen Schuldner-Gläubiger behandelt wurde, der die Nachsicht seines Herrn in großem Maßstab erfuhr, aber sein eignes Guthaben unerbittlich eintrieb, geriet er (die Beziehungen des Gleichnisses zu seiner Vergangenheit konnte er selbst nicht entdecken) in eine krankhafte Zerknirschung. Und diese Zerknirschung löste sich in einem feierlichen Gelöbnis auf. Er wollte aller Welt, und der Antje besonders, alles Unrecht, allen zukünftigen Widersachern jede zukünftige Unbill vergeben, er wollte niemals ein Gedenkbuch der bösen Vergeltung in seinem Gedächtnis auflegen, er gelobte sich für alle Zeiten jeden Groll, der ihm die Reinheit der Seele verdüstern könnte, wegzuwischen. Dieses Gelöbnis trug seine von keinem unaufrichtigen Vorbehalt getrübte Menschenliebe hinauf zum Himmel, wo in stillen Nächten der Sterne stummes Heer verglüht, er senkte es aber auch hinab zu den Lieben, die im Kirchhofssande verscharrt waren. Als Sühne bot er es allen Menschen, derer er jemals im Groll gedacht haben könnte. Alle geflügelten Boten seiner Gedanken hatten die Weisung, Liebe zu bieten und Verzeihung zu erflehen, und ein inbrünstiges Gebet flog hinauf zum Himmelsdach, die verklärte Mutter möge ihm doch ein Zeichen geben, daß sie im Gefilde der Seligen seiner noch in Liebe gedenke.
Es wallte heiß in ihm auf. Zum ersten mal vermißte er die weiche Mutterhand. Was hätte er dafür gegeben, striche sie noch einmal lind über sein Gesicht, hörte er noch einmal die glockenreine Stimme ihrer Liebe: »Guter Hein!« Der Klang ihrer letzten Worte: ›Bleib brav, mein Sohn, ich werde den himmlischen Vater hart darum angehn‹ – lag ihm noch im Ohr. Er fühlte sich einsam, verlassen, von aller Welt gemieden, zum ersten mal so eigentlich mutterlos, ja aller Liebe bar.
Kaum war er noch Herr seiner Bewegung. Er stand auf, zur großen Mißbilligung von Grete, die ihn erstaunt ansah, und klinkte leise die Tür auf, als Harm eben mit Amen die gottesdienstliche Handlung schloß. Nach wenigen Sekunden war er im Stall. Hier stützte er seinen Kopf der Mutter Lisch in die Flanke und wollte schier vor Schluchzen vergehn. Lisch setzte ihre Rute sachte in Bewegung, Hein hörte das pfeifende Geräusch und fühlte dann den langen Schweif über Haar und Rücken gleiten. War es auch keine Mutterhand, es war doch immerhin das Liebeszeichen einer lebendigen Seele. Mancher hätte was an solcher Liebkosung auszusetzen gehabt, für Hein machte das nichts aus. Lisch und Hein, Hein und Lisch verstanden sich. Er hing an ihrem Halse und befreite seine Seele in dem erlösenden Strom heißer Tränen.
Es war ganz still. Sie hörten nur das Rollen der Halfterstricke in den Krampen, das Schaben, wenn sich ein Rößlein die Schulter putzt, das Aufschlagen der Eisenhufen, womit die Rosse ihre Langeweile töten, und das Stampfen des eifersüchtigen Jochen. Irgend woher im Hause erklangen sonntägliche Stimmen. Aus der Gegend der Vordiele hob sich plötzlich das Organ des Großknechts deutlich ab: »Wo stickt wul de Jung? He harr mi en Pund Tobak haln konnt.« Dann ging die Tür nach dem Garten; es schlarrte jemand in Holzpantoffeln über das Steinpflaster; Tete holte selbst seinen Tabak.
Als Hein am folgenden Morgen erwachte, beleuchtete er mit der Laterne eine alte Kiste, die am Fußende seines Bettes stand. Mit einer gewissen Andacht setzte er sich auf den Deckel. Es hatte ihm geträumt, daß seine Mutter dort gesessen und ihn getröstet habe – Lachen um den Mund. War das das erbetene Zeichen?
Wieder im Besitze seines Gleichmuts und seines Gleichgewichts nahm Hein die Wassertrage vom Haken, legte sie auf die Schulter, hängte die Eimer in die Ketten und ging nach dem Brunnen, die Pferde zu tränken.
Der Herbst war dahin. Der Winter hatte seinen Einzug gehalten, ja war schon im Abzug. Der Frühling kam, und mit seinem Kommen nahte der Zeitpunkt, wo Hein den Hof verlassen sollte. Wenn ein Wagen des Hofs von einer Geschäftsfuhre spät nach Hause zurückgekehrt war, was häufig vorkam, dann war es Sache des Pferdejungen gewesen, die hungrigen Tiere satt zu machen. Die übliche Futtermethode erforderte mehrere Stunden. Dann saß er, während die andern schliefen, allein bis Mitternacht und darüber bei einer dürftigen Tranlampe auf der großen Diele und hörte auf das Brausen der Stürme, die an der Dielentür rüttelten, auf das Kreischen der Windfahne, die um ihre Achse geworfen wurde, auf die Regengüsse, die auf den Hofplatz herab rauschten. Er liebte so wildes Wetter.
Reimer Witt war bald nach Heins Strafversetzung wie ein Meteor auf den Hof niedergegangen. Sein Vater, der reiche Marschbauer, in der Kutsche, er selbst hoch zu Bock – ein schmucker Junge, mit krausen Locken, groß gewachsen, hoch und hochmütig. Mit großer Sicherheit hatte er die glänzend schwarzen Rappen in blinkendem Geschirr vor das Hoftor gelenkt und dort mit einem Ruck zum Stehn gebracht. Ein widerwärtiges Schicksal hatte gewollt, daß Hein gerade die Pferdeställe ausmistete und vor Reimer Witt von Obendeich unebenbürtig aussah. Er war von dem Glanz des kommenden Neuen so hingenommen gewesen, daß Antje, die den Vetter mit Vater und Mutter und Geschwistern empfing, ja gewissermaßen mit offnen Armen empfing, ihm barsch befehlen mußte: »Hein, spann de Per ut.« Nach seiner Erinnerung war das nach seiner Verfehlung das erste Wort, das er von Antje vernahm.
Und dann kamen die ersten warmen Tage. Heins Habseligkeiten waren mit dem Mühlenwagen vom Holm mitgenommen worden und schon in den Händen seines zukünftigen Meisters. Was noch übrig war, wird das rote Tuch mit der Schlacht von Kolding auch nicht zur Hälfte füllen. Es ist grade passend, von Hein unter den Arm genommen zu werden, wenn er morgen zu Fuß durch den Wald geht.
Er war früh zu Bett gegangen, aber der Schlaf floh seine Augen. Ein frischer Wind war aufgekommen, der fegte durch die Eschen, sein Klagelied verstummte erst am Sodbrunnen, dessen Schwengel unaufhörlich gegen den Haken, womit ihn die Hebestange am Geländer festhielt, lökte. Im Hausgiebel klirrte leise, aber immerzu, eine Scheibe. Im Dachraum über der Bodenluke stöhnten allerlei Windgeister. Sie hatten die Aufgabe, das Lattenwerk zu heben, und konnten es nicht.
Die Tage alle, die er auf dem Holm zugebracht hatte, machten vor Hein zum Abschied ihre Aufwartung. Er fand sich um die Hoffnungen, womit er auf dem Holm eingezogen war, betrogen. Seine himmelstürmenden Pläne von einem Kuhknecht erster Klasse – sie waren dahin. Sein Gelöbnis, Ringelwolken zu blasen, durch die Zähne zu spritzen, auf drei Schritt einen Stiefelknecht zu treffen – wo war die Zuversicht geblieben, die ihn zu diesem Wagnis veranlaßt hatte?
Mit Wehmut dachte er an alle, die er verlassen mußte, hauptsächlich an Rieke. Und dann folgte eine Reihe Vierfüßler, bevor er sich auf die übrigen Menschen besann: Hattkopp, Wittkopp, Bulle Peter, die Kälber seiner Bekanntschaft und eine Menge ausgezeichneter Kuhpersönlichkeiten. Da waren der Leutnant, der Major und andre Offiziere, die beim Austreiben die Dienste der Gehilfen leisteten. Vor allen Dingen Bonapatt, der der ganzen Trift voranzog, und zwar mit einem Gesicht, als trage er die Fahne von Arcole. Kam die Rede auf Bonapatt, so erzählte Henn die Geschichte dieses Helden, die allerdings ein wenig von der historisch beglaubigten Geschichte abwich: Bonapatt war, sagte Henn, anfangs Schuster, ist aber aus der Lehre entlaufen. Von dem alten Fritz, der auch in der Herde einen Namensvetter hatte pflegte der Tagelöhner Klaus Köster Anekdoten zu erzählen. Da war ferner in der Herde Meister Voß mit dem feinsten Spürsinn für fette Weide, der Lumpenfritz, ausgestattet mit der Kennerschaft für Wäsche, die er vom Zaun zu fressen liebte.
Aber mit der Klugheit, mit der Gefühlswärme und Gefühlstiefe seiner Pferde konnten sich die Kühe nicht messen. Der im hellbraunen Kleide glänzende Hans war ein Roß von großem Mut und viel Feuer. Wenn er auf seinen Reisen zur Stadt vor dem leichten Staatswagen andre Fuhrwerke überholte, warf er die Mähne über den schön geschwungenen Hals, das stolze Wiehern befriedigten Ehrgeizes erschütterte seine Flanken. Aber wehe! wenn er vor einen schwer beladenen Wagen gespannt war und von flotten Schwarmgeistern überholt wurde. Dann war es ein fast menschlicher Schrei des Zorns, was seine Brust erbeben machte, das Weh eines stolzen Herzens, eine so unerträgliche Demütigung über sich ergehen lassen zu müssen. Jochen blieb sein ganzes Leben lang ein Spielkind, das sich mit Hein auf den Neckfuß stellte und auf seine Gunstbezeugung überaus eifersüchtig war. Ich will nicht alle nennen, derer Hein bei seinem Weggange gedachte, aber über die alte, uns nicht mehr unbekannte Pferdemutter Lisch, die dem Hofe zehn Kinder geschenkt hatte, muß ich doch ein kräftig Wörtlein reden. Wegen ihrer matronenhaften Würde führte sie den Namen ›Mutter.‹ Wo für einen Ausflug Ruhe und Besonnenheit nötig war, wo es sich um die Aufwendung eines außergewöhnlichen Nachdenkens handelte, da war keine Frage: Mutter Lisch kam in die Sielen. Sie entnahm mehr aus Andeutungen, als ein dummer Junge aus ausdrücklichen Befehlen. Legte man ihr Kornsäcke auf, so ging sie zur Mühle. Die Kinder hatte sie, als sie noch klein waren, Tag für Tag nach der Schule getragen und war ohne Führer zurückgegangen. In ihrem feinen Instinkt hatte sie eine unanfechtbare Uhr. Auf den Glockenschlag hatte sie sich bei der Schule wieder eingestellt, um die Kleinen aufsitzen zu lassen. Und niemals verlor sie ihren ruhigen Gang. Sie ging wie ein gutes Gewissen einher, sicher, unbeirrt von den vorwitzigen Kapriolen böser Jungen, zielbewußt und rücksichtsvoll, bei der Sache und doch gut und gütig, wie es eine Kreatur ist, in deren Brust ein braves Herz schlägt, wo ein edles Gemüt die Wünsche anderer würdigt und liebt und fördert. Die Halfter rasseln hinter der Bretterwand, die Hufe der lieben Geschöpfe stampfen. Zum letzten mal, für lange Zeit zum letzten mal hört Hein diese Musik.
Wenn Hein abends die letzte Häckselmulde in die Krippen gefüllt und das Heu auf die Raufen geforkt hat, geht auch er zur Ruhe. Bei seinem Lämpchen, das aus einem farbigen Dunstkreis seinen Bretterverschlag beleuchtet, entkleidet er sich. Dann löscht er das Licht aus und erwartet den Schlaf. Und so lange er noch seiner Sinne Meister ist, lauscht er auf die tiefe Stille, die ihn umringt, auf all die Stimmen, die die Nacht in ihrem Schoße birgt.
Wie viele male hat ihr Zauber seine Seele umgarnt! Die Kammer ist durch keine Decke von der Schrägung des Rethdachs getrennt. Wie oft sind die kleinen Schneelawinen über seinem Haupte tosend dahingerollt und dumpf zur Erde gestürzt! Wie oft hat der Sturm die Luftsäulen in den Feueressen zum Schwingen gebracht in dunkelm, gemütlichem Plauderbaß, in keifendem, drohendem Heulton, je nachdem der Maurer die Orgelpfeifen des Windes gestimmt hat.
Ganz still wird es in den freien, weiten Räumen eines großen Bauernhofes niemals; irgend woher dringt immer irgendein Geräusch, sei es ein einzelner Ton oder ein Gewirr von Tönen. Dort klappt etwas – es kann eine Luke sein; es klirrt etwas – vielleicht ein Fensterscheibchen, das nur noch lose im Blei sitzt. Jetzt ist es, als ob jemand auf Holzpantoffeln hinter den Schweineställen auf und ab geht. Es kann viele Ursachen haben. Wenn dabei eine Tür jankt, so wird der Wind sein Spiel mit der Pforte vor dem Koben treiben und den Holzblock, der zum Verschluß dient, über das Steinpflaster schleifen. Das klingt just wie Pantinengeräusch. – Bewegte sich nicht die Wage, die auf der Diele am Balken hängt? Jawohl, die Schale stieß vernehmlich auf die Steinfliesen. Und ein behender, in der Stille der Nacht verhallender Schritt. Du folgerst: es war ein Kätzchen, das ein auf die Schale versprengtes Krümchen erhaschte. – Horch! ... Eine Tür ... ganz leise ... eine Tür in der Gegend der Leutekammern. Wie Menschenatem ging es über die Diele, weither klappte ein Pantöffelchen. Kein Zweifel – das war er selbst .... ich meine den kleinen Gott mit den süßen Gifttränken.
All diese Geräusche vernimmst du, wenn dein Bewußtsein noch ganz der Tageserfahrung angehört. Du hörst sie, du gibst dir über ihren Ursprung Rechenschaft, der Verstand streckt seine Fangarme aus und macht sie dingfest, erörtert ihre Klangfarbe, ihre Stärke, stellt ihr Wesen fest. Aber die Nacht, die stets rätselhafte, die ewig brütende, sendet neue Geräusche aus, flüsternde, tappende, aus Mondschein und Nebel gewobene, die für das grobe Netz deines Verstandes zu fein sind. Der müht sich zwar nach Kräften, aber es gelingt ihm nicht mehr. Das verdrießt den Nimmersatt, er brummt ... brummt etwas von Dummheit, und was sich nicht beweisen lasse, bestehe nicht. Verstimmt schließt er die Augen, öffnet sie noch einmal ... und ganz müde beinahe zum dritten mal ... dann nimmt ihn der Schlaf hinweg ... Der Verstand schläft. Gott sei gedankt!
›Gott sei Dank‹, wiederholt ein wohlklingendes Stimmchen, ›er schnarcht, wir können herauf‹.
Und dann wirds lebendig ... heitere, ungenierte Laute, Laute mit dem weichen Liebesklang junger Weiber.
›Der trockne Gesell‹ (sie meinen den Verstand) ›wird noch mal an seinem eignen Dasein zweifeln. Gottlob, daß er hin ist, der unausstehliche Schulmeister! Er schläft, er schnarcht ... wenn nur nicht die Ankerkette reißt!‹
Zwei Frauenzimmer sind lachend aus der Versenkung heraufgekommen, ich weiß nicht wie, aber sie sind da. Wir wollen sie Traumgöttin und Phantasie nennen. Sie sehen gut aus und haben zierliche Fittiche an den Schultern. Wie Tautropfen in Nebelmaschen glitzert es um Schultern und Hüften. Am Fußende der Bettstelle machen sie einen Knicks vor Hein Wieck. ›Gestatten Herr Wieck eine kleine Vorstellung? Wird nichts kosten.‹
Und Herr Wieck wälzt sich auf die andre Seite und kaut mit den Kinnbacken, was so viel bedeutet wie: ›Wenn es wirklich nichts kostet, meine Damen, dann bitte ich die Liebenswürdigkeit zu haben.‹
›Wir laden deine Jugend zum Besuch ein. Sind Sies zufrieden, Herr Wieck ?‹
Herr Wieck kaut, Herr Wieck ists zufrieden.
Und Heins Jugend kommt, auf den Strahlen des Vollmonds, der heraufgekommen ist und den jungen Wind gebändigt hat. Leicht und verwegen schreitet sie durch das Giebelfenster auf den Dachboden und tapp! ... tapp! die Leiter herab. Sie hat glänzende Augen und braune Haare.
›Wer bist du?‹
›Ich bin deine Jugend.‹
›Was für ein Ding hast du in der Hand? Es leuchtet wie Hoffnung im Elend.‹ Hein Wieck ist ein Somnambuler und spricht gewählt wie ein solcher.
›Es ist Symbol der Erinnerung und Spiegel des Kommenden.‹
›Was für eine Frage, Hein? Ich kam, dirs zu zeigen.‹
So träumte Hein Wieck ...
›Wunderlich‹, dachte er am frühen Morgen, als er sein letztes Hemd in die Schlacht von Kolding schnürte. ›Ich sah mich in der Wiege. Die Sonne schien durch unsern kahlen Schlehdorn, ich griff nach den Strahlen und nach den tanzenden Lichtstäubchen. Vater schwenkte mich hoch, und Mutter ließ mich auf ihrem breiten Schoß springen. Während sie mir das Hemdchen überzog, griff ich nach den langen schwarzen Flechten.‹
Was der Spiegel des Kommenden ihm gezeigt hatte, das verriet Hein nicht einmal den vier Wänden seiner Kammer. Aber er mußte lachen, wenn er daran dachte – immer lachen.
Wir finden den künftigen Zimmermann auf dem Stamm der krummen Eiche.
Der Abschied war überstanden, der Abschied vom Ellernbusch und vom Holm, von den vernünftigen und den unvernünftigen Geschöpfen, Mutter Lisch hatte er nicht im Stall getroffen. Im Ellernbusch, wo Schlachtfest gewesen, war das rote Tuch mit einer Grützwurst, im Holm mit Schinkenbutterbrot und mit der Warnung vor dem breiten Weg von Grete bepackt worden. »Ümmers Heu von ünnern plücken, ni von baben afsmiten«, hatte Harm hinzugefügt, um einzuschärfen, man müsse sich das Leben nicht zu leicht machen, das Recht zum Dasein vielmehr Tag für Tag erarbeiten. Antje hatte die Töchter des Meisters grüßen lassen und Hein eingeladen, nicht am Holm vorbeizugehen, wenn er im Erlenbusch besuche; Tine hatte darauf gebrannt, ihre neueste Wissensbereicherung, daß feine Leute beim Abschiednehmen Tücher schwenken, an den Mann zu bringen. Ihr Kattunschürzchen hatte schon bei der Heckpforte im Winde geflattert, bevor Hein noch aus der Haustür getreten war. Nach Ricke hatte man im ganzen Haus gerufen, sie aber nicht gefunden. Wie geht das zu?
›Es wird sich aufklären‹, dachte Hein, als er ging. Er wollte sich nicht betrügen, er hatte zu Gutes geträumt.
Als Hein auf der krummen Eiche saß, überlegte er, ob er die Grützwurst oder das Schinkenbutterbrot in Angriff nehmen solle, entschied sich für die Wurst und dachte beim Essen an Rieke, an Gorg Bünz und an dessen Pläne. Die Eiche wehte und rauschte, die Eiche sprach von ihrem Alter, von ihrer Kraft, von ihrer Lust, noch ein weiteres Jahrhundert den Menschenkindern Freude zu machen – Hein war aber im Augenblick zu sehr Zimmermann, er verstand die Eiche nicht. Er warf die Augen hinauf und warf sie hinunter, er dachte an das Wasserrad bei der Wassermühle zu Hohenau (es war groß und gebogen, und das Wasser tropfte immer herab); es wäre gar nicht so übel, dachte er, die Eiche zu zerschneiden. Das wird aber Schweiß kosten, dachte er hinzu.
War er mal beim Sägen, so zersägte er gleich in Gedanken den halben Wald. Das alles war aber nur ein Sinnen, das obenauf lag. Als die Wurst zu Ende und Hein Wieck über den Steinsteg geschritten war, wurde der Zimmermann wieder stumm. Aus allen Wipfeln rauschte die Lehre der Freiheit, der Unabhängigkeit, der zwecklosen Freude, die die einsame Waldnatur beglückt, und Heins Seele sog diese Lehren begierig ein.
Hatte bei der Krummen der liebliche Lärm der Vögel seine Gedanken noch mit dem, was draußen lag, verknüpft, so warf ihn die erhabene Stille des Waldes auf die letzten Linien seines Wesens zurück. In vollem, behaglichem Sinnen schlenderte er dahin, meistens auf dem Fahrdamm, zuweilen Richtwegen folgend, die sich in die Einsamkeit verloren. Nur ein Kundiger durfte diesen Jägersteigen trauen. Und er war ein Kundiger. Erst, wenn ihn das Gebüsch von allen Seiten deckte, fühlte er sich im Besitz seiner selbst. So stolz und einsam machte ihn die Stunde.
Wo der schattige Grund mit friedevollen Anemonen bedeckt war, wo die weißen Sternblumen am Grabenrande blühten, verspürte er Lust, alle zu pflücken, sie mitzunehmen in die Zukunft, die so unbekannt und dämmernd vor ihm lag, als Urkunde dafür, daß der heimische Wald ihn froh und glücklich gesehen habe. Er sammelte und sammelte. Er hatte die Hände voll, und immer neue Zeugen seines Glücks leuchteten auf. Das geduldige rote Tuch mußte wieder heran, bis ihm der Greuel der Verwüstung, womit er die Natur betrübte, weh tat, und er reuevoll zurückgab, was er genommen hatte. Freilich die Jugend der Mitgenommenen war gebrochen. Nur so viel der Sturmriemen seiner Mütze zu halten vermochte, wollte er nicht entbehren. Die Geschichten seiner Großmutter von dem Schneiderlein, das in die Welt zieht und eine Königstochter freit, kamen ihm in den Sinn. Für die Königstochter, falls sie ihm begegnen sollte, mußte er doch einen Blumenstrauß zur Hand haben.
Die Pforte bei der Krummen hat eine Schwesterpforte. Sie ist am andern Waldende, dort, wo der Walddamm mit der Landstraße, die das Gehege im großen Bogen umgangen hat, zusammenkommt. Man sieht die Gebäude der einen halben Büchsenschuß zurücktretenden Försterei, die von der zusammenhängenden Masse der Bäume losgelöst ist, während die berühmte Baumschule noch innerhalb der Waldeinfriedigung liegt. Von dieser Anlage ist allerhand Märchenhaftes bekannt. Ein künstlicher Weiher ist dort, in dessen Wasser sich ringsum traumverloren graue, gramvolle Weiden spiegeln; auf der abgesägten Spitze einer Buche ist eine förmliche Laube hergezimmert mit richtigem Bretterboden und gehörigen Holzbänken. Und wenn auch ein Verbot am Pfahl angeheftet ist, und wenn es auch eigentlich nicht sein soll, so wird die einsame Anlage doch viel von Neugierigen, ohne daß ihnen etwas geschähe, besucht.
In der Laube saß Hein Wieck eine ganze Weile. Durch den sauber im Laube ausgeschnittnen Eingangsbogen sieht er das Ziel seiner Reise, das stattliche Kirchdorf, das auf den Kamm eines weit durch das Gelände dahinlaufenden Wellenbergs hingewürfelt ist. In der Mitte der altertümliche Turm – ein eigensinniges Mauerviereck, das keine Neigung zur Verjüngung zeigt, mit einer Spitze, deren Pagodenform einem Notdach ähnlich sieht. Und rechts wie links, von den Abhängen herabgleitend, das Gemenge der Häuser, die dunklen Farben der Strohdächer, die sich nur wenig von der mütterlichen Erde abheben, dazwischen Ziegelbauten, hellrot, dunkelrot, rot in allen Abstufungen, ein überaus farbenfrohes Bild. Zwei Windmühlen, die dem Turm an Höhe nichts vorausgönnen, recken ihre Riesenarme, als schämten sie sich der langen, schlaffen Winterruhe, und winken dem jungen Zimmerer in der Buchenlaube zu: ›Komm, Hein, komm! Hier ist gut sein, hier baut sichs gut Hütten.‹
Gehörte das, und der Weg, der hartnäckig über alle Unebenheiten des Bodens auf die Mühlen zustrebt, nicht zu seinem Traumgesicht? ›Ist mir nicht, als ob ichs heute oder gestern oder vorgestern schon einmal gesehen, just so gesehen hätte?‹
Er stieg die alte, gewundene Holztreppe, die auf den Erdboden führte, hinab. Etwas Frohmütiges, etwas Tröstendes klang in dem alten Holz nach. Die Gedanken unsers Freundes vermochten sich nicht aus den traumhaften Erinnerungen zu lösen und wollten es auch nicht. In dieser Stimmung stand er vor der grünen Pforte, so schaute er auf die Landstraße, die ihn führen sollte und in der Verlängerung des Waldwegs lag. Hein Wieck dachte an sein Glück, das so verheißungsvoll in seiner Brust lag, und nahm entschlossen den Steg.
»Hi–a–a–a« – Pferdewiehern. Es war ein liebevolles, vorwurfsvolles, es war das Wiehern, womit eine Mutterstute ihr Fohlen ruft, ein Ruf der Liebe und Sehnsucht, ein Stoß, der Flanken und Nüstern in kräftig aufgeworfenen, darauf sanft abfließenden Wellen erbeben macht. Dem ersten Ausbruch folgen andre, die sich in weichender Bewegung abschwächen, wie ein Pendel, das aus dem Gleichgewicht gebracht, wohl noch länger über den Ruhepunkt hinüber und herüber schwingt.
Hein Wieck sah auf. – »Hi–a–a–a!« – ›Nun wirds Tag‹, dachte Hein, ›das klingt ja wie Lisch!‹ Und richtig, da steht sie, dicht an den Knick gedrückt.
Hein hing am Hals der Treuen. »Tausend nochmal. Wo und wie in aller Welt? Ordentlich gezäumt, und mit der alten Weihnachtswolldecke und mit Steigbügeln. Klug und gescheit bist du, das sagt jeder, aber daß du das allein fertig gebracht hast, machst du mir nicht weis!«
Lisch verzehrte einen Erlenzweig, den sie vom Knick gepflückt hatte, und sah stolz und liebreich auf ihren Freund.
Plötzlich– denkt euch! –plötzlich hielt ihm jemand hinterrücks beide Augen mit warmen, weichen Händen zu. Ein Helles Lachen. »Rate, wer ist das?«
»Rieke, Rieke!«
»Ja, Hein, ich bins.«
»Ho, ho!« sagte Lisch. Aber die beiden jungen Menschenkinder kümmerten sich nicht um Lisch, sie lagen sich in den Armen.
Das war es also, ja so ungefähr hatte ers schon heute Nacht im Zukunftsspiegel gesehen. So ein süßes Ding im Arm zu haben, ihm nach Herzenslust zärtlich tun. Und wenn es ihm genug schien, hielt er sie mit beiden Armen von sich, sah in ihr Gesicht, in ihre Augen und warf sie dann wieder an seine Brust.
»Hi hi!« sagte Lisch.
»Ich bin gleich – wo Decke und Zaum war, wußte ich doch – ich bin gleich ...«
»Süße, liebe Rieke!« unterbrach sie Hein.
»Bin gleich weggeritten«, fuhr Ricke, sobald es anging, fort, »dir hier aufzulauern. Du hast uns aber lange warten lassen.«
»Hast mich denn lieb, Ricke?«
»Über alles, Hein!«
»Und Vater und Mutter?«
»Die sollen nichts erfahren.«
Zunächst verzehrten sie (will sagen: Rieke, Lisch und Hein) das Butterbrot, das Grete Kühl geborne Otzen in die Schlacht von Kolding geschoben hatte, darauf wurde das Tuch am Bug der Mutter Lisch festgeknotet, und dann hob Hein das buchstäblich am Wegrande gefundene Glück auf die geduldige Lisch und saß selbst hinten auf. So wollten sie eine Strecke zusammen reisen, dann sollte Ricke auf Lisch zurückreiten.
Sie ritten langsam hinauf, den Mühlen entgegen. Die Mühlen waren außer sich. Sie konnten den Augenblick nicht erwarten, so was Komisches in der Nähe zu sehen, und warfen ihre Arme in drolliger Ungeduld durch die Luft. Sie hielten den Hein für den Schneidersmann, der eine Königstochter gewonnen habe, und diese Annahme traf wirklich zu.
Eine wunderliche Tracht und ein pendelndes rotes Tuch trug die alte Lisch. Es war ein einsamer Weg und es begegnete ihnen kein Mensch. Aber sie ritten ehrbar und ruhig des Wegs. Nur einmal, als eines der einsamen, stillen, von Dornen und Büschen eingefaßten Redder, deren Windungen so viel verbergen, in die Straße einmündete, da glaubte Lisch einen leisen Ruck im Zaum zu verspüren, der ihr befahl, einzubiegen. Und die Brave gehorchte und stampfte mit ihrem ruhigen unbeirrten Schritt in die köstliche Einsamkeit so weit hinein, wie nötig war, um mit allem, was sie trug, zwischen den Knickhagen zu verschwinden. Dann stand sie still, gleichmütig, verschwiegen, als sei es das allergewöhnlichste Ding, was sich auf ihrem Rücken ereigne, saftige Weidenzweige verzehrend, die sie vom Knick riß. Auch bedurfte es nicht des Erbebens ihrer Flanken: kein Hü! und Ho! störte die Stille, die die Gruppe umfing. So dumm waren doch auch Hein und Rieke nicht, daß sie nicht gewußt hätten, wozu verlorene, weltabgeschiedene Redder eigentlich da sind.
Die Zeit, die Zeit – Natur, Natur! Die Zeit lief und die Natur blieb die gleiche. Im Winter Regen, Frost und Schnee, im Sommer Regen und Sonnenschein, im Frühling Wärme und Kälte, und im Spätherbst Stürme.
Sie kamen, wie immer, von Westen – daher, wo das schwarze unwirtliche Moor brütet. Sie fuhren mit groben Zornreden drein, wo sich aber der von den Wänden zurückgestoßene Wind in den Erkern fängt, beweinten sie in weichen Klageliedern ihr ungestümes Temperament. Durch die rasselnden Schilfstauden der Bruchwiesen, über die kahlen Ackerfelder ging ihr Brauseschritt. Aus den Wischhöfen brachen sie hervor und überfielen Gärten und Häuser. Um die Hofstellen begann ein mächtiges Rauschen und Wehen, aber der Wald, der alte, gefestete, der sich all der Stämme getröstet, die seine weite Flächen bedecken, nahm sie gelassen auf seinen breiten Rücken.
Der Ellernbusch liegt geschützt. Er duckt sich hinter sein Baumgestrüpp und läßt die Winde tosen. Der Schlehenstrauch ist vollends verholzt; es muß schon mächtig daher wuchten, was sein verstaubtes Haupt in Bewegung bringt. Der alte Hebebaum am Sodbrunnen verstockt und erstarrt je länger je mehr und blickt mit Verachtung auf die haltlosen Pappeln, die sich hinter dem Viehhaus vom Holm mit allen Kennzeichen der Zerknirschung vor dem scheltenden Winde beuge. Für sie mag sich die Haltung der Demut schicken, ihm aber, dem stets Unveränderlichen, vermag selbst die windigste Weide keine Verbeugung nachzusagen.
So ein hölzerner Geselle kümmert sich nicht um Winde und kehrt sich nicht an die Menschen. Wenn die Stange ihn herabzieht, so bewegt er sich seines Erachtens nur deshalb in dieser Richtung, weil es ihm so paßt. Noch niemals ist es ihm in den Sinn gekommen, daß auch das als Verbeugung aufgefaßt werden könne, und daß er im Grunde nur fremden Zwecken diene. So hat er denn auch nicht bemerkt, daß der alte Jasper tot ist, daß Tante Lene den Ellernbusch verlassen, und daß es eigentlich eine ganz neue, fremde Sippe ist, die seine Dienste in Anspruch nimmt. Er weiß, mit einem Wort, nichts davon, daß der Ellernbusch verkauft ist und daß sein Besitzer nicht mehr einer vom Stamme Wieck ist.
Hinter dem Dorfteich stehen vielgeprüfte Weidenstümpfe, über die alle fünf Jahre das Reißmesser kommt. Trotz alledem treiben sie noch immer Schößlinge, gut für Flöten und Schalmeien, für Wünschelruten und Spielpferde.
Und dann der Teich selbst! Als Gorg Bünz noch auf dem Holm diente, ritt er im Trab zur Schwemme hinein, die blanken Wasserfunken stoben und glänzten in der Sonne. Die gewagten Jodler des großen Amerikaners: »Ha ... o ... hoi!« Wie das klang! Feingestimmte, dünne Regenlüfte trugen das unbekümmerte Wohlbehagen des Sängers durchs Dorf. »Ha ... o ... hoi!«
Noch lag der Sonnenglanz auf dem Saum des Gehegs, hinter dem Moor ging der große Feuerball zur Rüste, sein rotes Licht verglühte auf dem breiten Scheunendach von Michel Voß und lohte an den Fenstern von Johann Ehler auf.
»Holla! Hoi!« Vom Hofe Holm trieb man die Kühe zur Nacht in die Bruchwiesen, Hauptmann brüllte im Baß, Major im Tenor; man hörte den gleichmäßigen Lockruf von Henn: »Ka .... komm! – Ka .... komm!« und ab und zu den vollen Knall seiner Peitsche.
Der Großknecht Tete hat seine Silja geheiratet und ist wieder ausgewandert, diesmal nach Brasilien. Als wohlhabend gewordener Mann kam er auf Besuch, fragte in der Stadt nach Wagen und Post, fand aber eine Eisenbahn vor. In dem Ort mit den Mühlen stieg er aus.
Da hatte sich viel verändert. Dicht an der Bahn ragte ein Schornstein auf, da war Holzhandel und Sägerei. »Wem gehört das?« fragte er den Bahnhofswirt.
Dieser war früher Pferdeknecht auf dem Holm gewesen, er hieß Peter. »Den kennst du«, erwiderte Peter, »Hein Wieck heißt er.«
Tete hatte sich von Peter den heimischen Grog bestellt und sah freundlich auf das heiße, gelbe Getränk. »Sieh, sieh!« summte Tete. »Der Jung, der Hein.«
Er nippte an dem Glas und lobte den Rum. »Hat er, ich meine Hein, eine Frau?« fragte er wieder.
»Wohl hat er eine Frau. Die kennst du auch, Harm Kühls Tochter.«
Wieder summte Tete ... »Die helle oder die schwarze?« »Die schwarze, die Rieke, die ist Hein Wiecks Frau.« »Das war der Teufel!« erwiderte der Brasilianer. »Dann will ich doch mal vorsprechen.« »Das tu ja, die werden sich freuen.«
Rieke kannte den schwarzbraunen Fremden nicht. Um so eifriger wurde sie, als Tete sich vorstellte.
»Tete, Tete ... was du sagst! ... Wie du braun geworden bist!«
»Das wird man in Brasil!.«
»Wie wird Hein sich freuen! Er ist in der Sägerei, ich schicke.«
Riekes Augen haben noch immer die dunkle Mahagonifarbe. In den Röcken der Mutter versteckt sich ein allerliebstes, schwarzbraunes Dirnchen. Einem zukünftigen unternehmenden Holzhändler beut sie unbefangen die Mutterbrust.
Tete fragte hin und her.
Der Vater (eigentlich, glaube ich, ist es die Mutter) habe sich schwer entschlossen, abzutreten und der Antje und Reimer den Hof zu geben. »Tine ist verlobt und wird einen Marschbauern heiraten. Der alte Kuhkönig Henn ist vorige Woche gestorben, das ganze Dorf folgte.«
Rieke stand auf, schritt, das Jüngste auf dem Arm, ans Fenster und zeigte den Weg nach dem Friedhof. »Links über die Wiesen, den Fußsteig entlang zur kleinen Pforte. Das Grab ist gleich rechter Hand. Es liegen noch Kränze auf dem Hügel.«
»Und Hein? Kann er gut rauchen?«
Rieke sah auf ihre saubern Gardinen, auf die blanken Dielen.
»Ringelwolken kann er, durch die Zähne darf er nicht spritzen, ausspucken darf er überhaupt nicht.« Sie lachte. »Ja, in den Stuben habe ich das Wort«, setzte sie hinzu.
»Das ist wahr«, bemerkte jemand hinter ihr. Es war ein sehniger Mann in kleidsamer Geschäftsjoppe, und unbemerkt war er ins Zimmer getreten – Hein Wieck. Ein Mann, dem man es gleich ansah, daß er die Stiefelknechte in Ruhe lasse. Ein Schnurrbart verbarg das Beste seiner Lippen, aber was man davon sah, hatte noch immer Rundung und Weichheit.
Tete hatte das Wort, Tete mußte von Brasilien erzählen.
Und dann zeigte Hein sein Haus und sein Geschäft; im Maschinenraum ging er unter lärmenden Rädern mit demselben Hochgefühl einher, wie einstmal sein früherer Meister Henn im Kuhhause. Die Maschinen stockten und schnurrten auf seinen Fingerdruck, auf die Bewegung einer Kurbel, ja zuweilen schien es, als gehorchten sie seinem einfachen Wort. Er erklärte das Ineinandergreifen der Hebel und Kräfte, die sein ausgeklügelte Einrichtung des Werks. Der Liebe und der Herrschaft voll ruhte seine Hand bald auf diesem, bald auf jenem Gestänge.
Als sie ins Freie traten, führte ein Knecht gerade eine kleine, fest und sicher auftretende, dunkelbraune Stute ins Sägehaus.
Tete stand still. »Wenn ich nicht nachrechnete, daß die alte Pferdemutter jetzt wenigstens ihre fünfundvierzig haben müßte, dann würde ich sagen: Mutter Lisch.«
Hein lachte. »Nein, Lisch ist es nicht, aber es gehört zur Sippe, ein Enkelkind. Ja, ja, Lisch«, fuhr er fort, »ich habe sie immer als Trägerin meines Glücks angesehen. Als Vater Harm schließlich seine Einwilligung zu unsrer Verbindung erteilt hatte, gelobte ich, der Alten das Gnadenbrot zu reichen. Und so ist es geschehen. Sie war zuletzt blind und taub, man riet mir, ein Ende zu machen, aber ich bin dem natürlichen Verfall nicht in den Weg getreten.«
Im Sägehaus lag ein trotziger, eigentümlich gebogener, an Wipfel und an Ästen gekappter Baumstamm auf dem Sägebock.
»Hein, die sieht wie die krumme Eiche aus.«
»Ist sie auch, und morgen wird sie zersägt«.
»Was Hein? Die Krumme? Du die Krumme? Höre ich recht?«
»Ja, Tete, du hörtest recht. Daß sie zersägt wird, zersägt werden muß, tut mir leid. Daß ich es tu und daß es sich so fügt, freut mich. Was ist zu machen? Die Wegeverwaltung und die Bahngesellschaft hatten sich geeinigt, daß just dort der Bahnhof sein und die krumme Eiche fallen müsse. Nun, da sah ichs ein: Georg Bünz war im Recht, und ich war im Unrecht. Denn siehst du, ich müßte unter Vormundschaft gestellt werden, wenn ich nicht meinen Vorteil herausschlüge. Denke dir, Tete, die dummen Kerls! Denke dir, man hat die krumme Eiche nach Kubikmetern verkauft! Einen Stamm dieser Stärke und dieser Biegung, wie er vielleicht auf deutscher Erde nicht wieder vorkommt, geeignet für Wasserturbinen wie kein zweiter, so ein Kunstwerk der Natur – nach Kubikmetern! Bei den hohen Herren verzog ich keine Miene, aber in mein Hauptbuch hinein habe ich kräftig gelacht. Die krumme Eiche ist gestern mit unsrer Klingelbahn angelangt, und morgen wird sie entzwei gesägt. Das ist nicht zu ändern.
Sieh dir den Mann mal an, den im blauen Kittel! Er steht an der Hühnersteige, großer, schwarzer Kerl ... jetzt spricht er mit Riete. Das ist mein Sägemeister Georg Bünz. Er versteht sein Geschäft und hält auf Ordnung in meinem Betrieb. Aber auf eignen Füßen – das geht nicht, das ging nicht. Er verträgt die Freiheit nicht. Drüben hat es ihm auch nicht gelingen wollen.
Und nun, Tete, in den Garten! Unser heimischer Wald streckt sich prächtig am Horizont hin, und gerade jetzt muß das Abendrot hinter ihm aufleuchten. So ein Anblick, ein guter Tropfen im Glas, meine kleine Hausmutter und ein alter guter Bekannter zur Seite, das ist Glück. Komm!«
Die Riete war schon voran, man hörte Klirren von Gläsern und Flaschen auf wiegendem Teebrett.
Um sechs Uhr morgens begann es. Nun schlug die Stunde der Krummen.
Mit feingestimmter, schneidender Klage setzte es ein, aber mehr und mehr klang es in einem vergebenden Dulderlied aus. Hat mein Sein ein Recht auf Fortdauer in dieser Form? Was ist daran gelegen?
Wo die Maschine in dem weichen Fluß der Holzfasern arbeitete, da überwog dies milde, alles duldende Lied. Aber ha, wo die Liebe zum Leben in verborgnen Knästen und Knoten verdichtet war, schrillte es in schmerzhafter Empörung auf. Aber über den Protest fraßen die Stahlzähne rücksichtslos und unerbitterlich hinweg. Und dann wogte wieder die alte die trostvolle Melodie.