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Als ich noch jung war und von einem Lied und Gedicht persönliche seelische Vorteile erwartete: Erlösung von einem mir allein gehörigen Leid, Aufweichung von innerlich Verhärtetem oder auch Wach-machen, Zum-tönen-bringen einer bisher heimlichen, kaum eingestandenen Freude – da ich, mit einem Wort, noch nichts von der Objektivität wußte, die für höchst persönliche Seelennöte kein Gehör hat, da klang mir von allen Quickbornliedern des Altmeisters Klaus Groth keines so schön wie das frohe, im sicheren Besitz der Geliebten aufjubelnde »Min Anna is en Ros' so rot.«
Min Anna is en Ros' so rot,
Min Anna is min Blom,
Min Anna is en Swölk to Fot,
Min Anna is as Melk un Blot,
As Appel oppen Bom.
De Vullmach hett en Appelgarn
Un Rosen inne Strat;
De Vullmach kann sin Rosen wahrn,
De Vullmach kann sin Appeln arn:
Min Anna is min Staat!
Se is min Staat, se is min Freid
Un allens alltomal,
Un wenn de Wind de Rosen weiht,
Un wenn de Wind de Appeln sleit,
Se fallt mi nich hendal.
Se fallt ni af, se fallt ni hin,
Se hett son frischen Mot;
So blöht min Hart, so blöht min Sinn,
Min Anna blift de Blom derin
Bet an min seli Dod.
Ich war also noch sehr jung, aber lange dauerte es doch nicht, da begann ich selbst, an dem Mitleid, das ich mir zollte, herumzuzerren. Das Leben kam und half und reutete den größten Teil hinweg. Und als das meiste weggereutet war, da wollte ich die Gedichte des »Quickborn« anders lesen, es gelang mir aber nur halb. Zwar fand ich Edelsteine in dem unvergleichlichen Gedichtbuch, deren Leuchten mein Annalied sogar überstrahlte, aber die Vorliebe für das Annalied sproßte noch immer auf. Ja, ich will ehrlich sein, noch jetzt spüre ich etwas wie Streicheln und Kosen und höre Liebesworte, wenn ich meinen »Quickborn« hernehme und die Blätter bei dem Triumphgesang der Annahymne auseinanderfallen.
Es war im Herbst 1863, da sah ich den Dichter selbst.
Ich war ziemlich unverfälscht vom Lande her nach Kiel gekommen, um mich allmählich in einen Kandidaten der Gelehrsamkeit zu mausern. Im Düsternbrooker Weg begegnete mir und einem mich begleitenden Freunde eines Tags ein hochgewachsener Herr in einem schwarzen Rock. Ich erinnere mich, daß der Mann im besten Mannesalter stand, frische Farben zeigte und weiches, volles Haar hatte, ich meine: dunkles. »Da kommt Klaus Groth, der Dichter vom »Quickborn««, sagte mein Begleiter. Wir zogen unsere Kappen und erhielten dafür Gegengruß und ein freundliches Lächeln.
Seitdem zog ich immer Hut oder Mütze, wenn ich Klaus Groth in den Weg lief. Und immer dachte ich dabei an das Annalied. Und wenn ich an dies Lied dachte, füllte das Weh nach meinem Dorf, nach Acker und Feld und Wald und der Schmerz um noch etwas die weichen Rinnsale meiner Seele.
Ich trug aber immer einen Gewinn von solcher Begegnung heim. Mir war, als liege eine Art Dichterweihe auf meinem Haupt. Groths persönliche Bekanntschaft zu machen, mich ihm zu nähern, der Gedanke kam selbstverständlich gar nicht auf. Gegenteilig – schließlich begann ich meine Berechtigung, vor ihm den Hut zu ziehen anzuzweifeln und schlich nun still vorüber.
Und wieder vergingen Jahre. Das Leben wirbelte mich, trieb mich nach verschiedenen Universitätsstädten und später als Beamten durch die Provinzen des preußischen Staats. Erst im Jahre 1892, als ich mich den Fünfzigern näherte, kam ich zum dauernden Aufenthalt nach des Dichters Wohnsitz, nach Kiel zurück.
Ich war inzwischen selbst Schriftsteller geworden, hatte ein paar Bücher geschrieben, die bei der Kritik Anerkennung gefunden hatten, bei dem Publikum aber unter den Tisch gefallen waren.
Nach dem ersten halben Jahr nahm ich dort Wohnung, wo ich noch jetzt hause, nicht weit vom Klaus-Groth-Platz und von dem bescheidenen, daselbst an der Ausmündung des Schwanenwegs belegenen Landhaus des Dichters. Ihn selbst erblickte ich selten. Am häufigsten geschah es noch, wenn ich vom Hafen her den Schwanenweg herauf ging, an der Dornenhecke des Grothschen Gartens entlang. Die Hecke war so unerzogen, so wild aufgewachsen, daß sie sogar die durch das Lied »Min Port« berühmt gewordene Gartenpforte für den Kommenden so lange verdeckte, bis er auf ihrer Höhe angekommen war.
Eines Tags schrak ich ordentlich zusammen – unmittelbar vor mir lehnte der alte Klaus Groth über seine Pforte und musterte mich mit seinem klaren grauen Auge.
In dieser Stellung traf ich den Altmeister wiederholt, und angesichts seines Auges nahm ich mir wieder die Freiheit, den Hut zu lüften. In meinen Jahren hätte ich Heimweh und ähnliche durch kein greifbares Ding gerechtfertigte Gefühle längst abtun sollen, hätte das sonst auch getan, nun aber, ich konnte mir nicht helfen, wollte wieder was aufkommen. Aber der Posaunenjubelton des Annaliedes brach durch die weinerliche Sehnsucht siegreich hindurch.
Einmal führte mich ein geschäftlicher Gang persönlich zu dem Dichter. Das brachte uns aber nicht näher. Der Dichter war nicht ganz wohl, das, was die Veranlassung meines Besuches gewesen, war in wenigen Minuten erledigt, unnötig durfte ich nicht verweilen. Die Flügelpforten klappten rasch wieder hinter mir zusammen, aus ihrem Ton hörte ich aber eine tröstliche Verheißung heraus.
Aber die Linden im Klaus-Groth-Garten grünten und blühten und warfen im Herbst ihr Jahresgold hin und taten es mehrere male, und immer noch hatte die alte Gartenpforte die mir gegebene Verheißung nicht eingelöst.
Im Herbst 1897 erschien mein Buch: »Die Wohnung des Glücks«. Da entschloß ich mich kurz und schickte es dem Dichter »als Nachbar vom Klaus-Groth-Platz« zum Zeichen der Verehrung. Schon nach wenigen Tagen erhielt ich ein überaus liebenswürdiges und anerkennendes Schreiben, und gleich darauf machte ich meinen Besuch.
Ich ging, ich wills gestehen, nicht wenig gehoben durch die Pforte und gehörte seitdem zu dem engeren Kreise, der sich zur Dämmerstunde um den Alten in der »Kajüte« versammelte. Seine Kajüte nannte er bekanntlich sein kleines, direkt mit dem Garten verbundenes Zimmer im Erdgeschoß, das er zu seinem Lieblingsaufenthalt erkoren hatte.
»Nicht da«, rief der Dichter, als ich bei meinem ersten Besuch, seiner Bitte folgend, mich setzen wollte und dafür einen am Fenster stehenden Stuhl zu wählen im Begriff war. »Nicht da, da springt Ihnen der Papagei auf den Kopf.«
Nun erst sah ich einen großen grünen Philosophen auf seiner Stange. Er schnatterte in seiner Gaumensprache etwas, was ich dahin deutete, er halte sich allerdings für berechtigt, den am Fenster sitzenden Leuten auf den Kopf zu springen. Ich respektierte alte Gebräuche und setzte mich in den von meinem Wirt freundlichst angebotenen Korbstuhl.
So atmete ich als alternder Mann denn doch noch Höhenluft und saß dem Patriarchen (Klaus Groth stand im 79. Lebensjahr), dem Vater der neueren plattdeutschen Literatur, dem Dichter des Annaliedes, gegenüber. Mit einer Art Stolz und doch in einer Stimmung, die nicht frei von Mitleid mit mir und mit meiner ins Grab gesunkenen Jugend war.
Aber, was wußte Klaus Groth davon, was sein Annalied mir, gerade mir, gewesen war? Er hatte »ein ganzes Heer von ewigen Liedern gedichtet«, darunter bessere als mein Annalied. Er hatte sie nicht für mich, er hatte sie für Tausende und Millionen gedichtet, und hatte Tausenden und Abertausenden ein anderes Leid, als das mir gehörige, vom Herzen weggedichtet. Was verschlug ihm mein Jugendschmerz? Und schließlich was denn? Ich war jetzt ja selbst ein mit objektivem mitleidslosen Maßstab ausgerüsteter Beurteiler.
Klaus Groth war ein vortrefflicher Plauderer, ein meisterhafter Erzähler, er sparte seinen Besuchern die Mühe, verlegen zu werden. Er hatte sich eine wunderbare Frische bewahrt, nicht nur die geistige, denn, von häufig auftretenden Erkältungskrankheiten abgesehen, war er ein rüstiger Alter. Jedenfalls zeigten seine geistigen Fähigkeiten nirgends ein Nachlassen. Natur hatte ein Meisterstück hergestellt, als sie den Heider Müllerssohn schuf. Sein Verstand, sein Gedächtnis, sein Humor und seine Laune, alles war erster Klasse freilich manchmal auch sein Zorn. Aber wenn der mal einkehrte, so kam er doch nur ein als Gast, der kein Hausrecht in seinem Herzen besaß. Und Humor und Laune, im ungünstigsten Fall Satire, waren die, die die Tür schließlich hinter ihm zumachten.
Ich vermute, daß ich zum ersten mal im November 1897 in der Kajüte ›schummerte‹. Am 1. Juni 1899 starb Groth, nachdem er seit Begehung seines 80. Geburtstages (24. April 1899) gekränkelt hatte. Ich möchte die Zeit nicht missen, wo ich seinen Umgang und auch seine Zuneigung genoß. In trauten Gesprächen, meistens in Gesellschaft anderer Freunde, nicht selten aber auch allein.
Da saß er in seinem Stuhl, eine hohe Gestalt – ein mehr an die Sachsen- als an die Friesenart erinnernder Charakterkopf, gern erzählend, nie um Stoff verlegen, ihn immer beherrschend, in plastischer, dem Gesprächston angemessener Darstellung immer und immer wieder aus seinen Erinnerungen heraufholend – aus seiner Jugend, von seinen Reisen, von berühmten Zeitgenossen, aber auch über Tagesereignisse und über wissenschaftliche Fragen Ansichten austauschend.
Er starb an seinem 80. Geburtstag; das heißt, an den Folgen der Mühen und Strapazen, die er sich auferlegt hatte, um den Glückwünschen seiner zahlreichen Verehrer gerecht zu werden.
Einmal tauchte noch während seiner Krankheit die Hoffnung auf, daß er es überwinden werde, aber der Ausblick erwies sich als trügerisch. Aber unter dem Lichtstrahl dieser Hoffnung sah ich ihn zum letzten mal.
Ein heller, sonniger und warmer Tag der letzten Hälfte des Mai. Der Kranke war nach seinem Garten hinausgegangen, da fand ich ihn. Als das Klipp-Klapp der Pforte meine Ankunft meldete, sah er auf. Er stand an der Ecke seines Hauses im Glanz der Abendsonne, und niemals vergesse ich es, wie seine hohe und noch immer ungebeugte, wenn auch am Stock gestützte Gestalt sich gegen den Versöhnungsglanz des vergehenden Tages abhob.
»Es wird noch mal wieder besser werden, lieber Freund«, sagte er. »Und wenn nicht, dann geh ich schlafen – dor is denn ok nix bi.«
Ich dachte gleich, vielleicht ist es doch sein Letztes, sah mich noch einmal um und erhob grüßend den Hut.
Da stand er. Drüben blühten rote Rosen. Ich dachte an das Annalied. Als ich durch die Pforte ging und den Fallriegel über die Flügel legte, da ging der Alte vorsichtig in seine Kajüte hinein ... Um zu schlafen.
Nach wenigen Tagen war er nicht mehr, und nach weiterer kurzer Frist begleiteten wir ihn, als man den Sarg mit großem Gepränge aus seiner Pforte hinaus trug.
»Un wenn de Port toletzt mal knarrt,
Denn is't, wenn man mi rutdregen ward.
Un denn vœr en Annern geit se as nu,
Un he röppt to en Anner, wenn se geit: Dat büst Du!
Un de hier plant hett un sett de Port,
Em drogen se rut an en stillen Ort.«