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Es war im Frühjahr nach dem großen Krieg; ein heißes Verlangen nach Frieden und Freude lag auf der rheinischen Landschaft. Die Gebirgszüge unseres Vaterlandes liefen hurtig, wie die Sehnsucht, an den zurückkehrenden Soldaten vorüber. Aber auch der große Vogel, der sie in Horizontale und langgestreckt überflog, strebte heimweherfüllt nach Norden.
Ein reisender Storch. Wie immer, flog er allein voraus, der Gattin die Stätte zu bereiten. Die war noch in der sonnigen Provence. Heimweh hatte er nach seiner Sommerheimat, dem im Norden belegenen Wiesendorf. Er hatte vor, sich unterwegs nicht aufzuhalten; er wollte auch nur das notwendigste Futter einnehmen, als er sich auf eine Wiese hinabließ. Neben ihm strudelte und rollte ein großer Fluß, er kannte ihn – es war der Vater Rhein.
Ein Soldat kam des Weges her, ein kräftiger Mann. Daran, wie er die Linke fallen ließ, ersah man, daß er gewohnt war, die Kraft seiner Muskeln voll auszunutzen. An der rechten hing ein junges, hübsches Frauenzimmer, fast ein Kind. Sie plauderten, der eine in harter norddeutscher Aussprache (man hörte ihm den Plattdeutschen an), die andere im lustigen rheinisch-fränkischen Dialekt. Plötzlich stockte das Gespräch, der Soldat beantwortete die an ihn gerichtete Frage nicht, er starrte auf den im Gras watenden Vogel. Es war ein wunderliches Exemplar– das rechte Bein ganz schwarz. »Wat in aller Welt!« brach der Plattdeutsche los. »Dat is jo Swartfoot von Jakob Johannsen sin Kohhus!«
Es war wirklich Swartfoot, derselbe, der im Heimatsdorf des Soldaten Peter Stolten auf Jakob Johannsens Kuhhaus wohnte. Als junger Knirps war er aus dem Nest gefallen und von dem Bauern, bei dem seine Eltern wohnten, wieder hinaufgebracht worden; dort hatte man ihm das Bein mit schwarzem Lederlappen umnäht, zum Spaß und um ihn wieder zu erkennen. Jeder im Dorf kannte ihn, er hieß allgemein: Adebar Swartfoot.
Nach wenigen Tagen stand Swartfoot neben seinem Nest. Auch in Peter Stoltens Heimatsdorf wollte es Frühling werden, aber es war schon wärmer gewesen als augenblicklich, wo es wieder ganz rauh geworden. Swartfoot war frisch aus dem Äther zur Kuhhausfirst in den schönsten Schraubenwindungen herabgestiegen. Nun stand er auf seinem roten Bein, fröstelte und überlegte. Im allgemeinen war er nicht unzufrieden: die große, unübersehbare Wiesenfläche, das weite, schwarze Moor – bewährte Jagdgründe, noch immer am alten Fleck und gleich bei der Hand. Auch das Nest einigermaßen; aber zu machen und auszubessern gab es immer.
Er dachte nach, aber nicht mehr lange. Das schwarze Bein kam aus dem Federsack heraus, nun stand er auf beiden Füßen. Kopf und Hals machten eine heftige Bewegung, erst nach hinten und dann nach vorn. Zischen und Fauchen ... und dann ... ja, dann klapperte er. Er hielt es für Pflicht, seine Ankunft zu melden.
Kinderjubelgeschrei antwortete. Mehrere kleine Menschen zeigten und groelten »Adebar Langbehn, hest min Vader ok hangn sehn?«
Der Bauer brachte Kompost nach den Wiesen. Als sein Hausstorch klapperte, fuhr er gerade aus dem Hecktor. Einen Augenblick hielt er die Pferde an, beschattete seine Augen und sah hinauf, Lächeln im Gesicht. Das Dienstmädchen Wieb (sie trug Müll nach dem Dunghaufen) setzte die Mulde nieder, lief an die Hecke, die nach dem Garten ging, und sagte zu einer anderen, die schwarze Erde grub: »Deern, Gret, kiek mal: de Adebar! Deern, wat ward wi fuul düss' Sommer.« Beide Mädchen lachten über die Aussicht. Es ist ein alter Volksglaube, daß man faul oder fleißig sein wird, je nachdem man den Storch zuerst stehen oder fliegen sieht. »Un all de Schötteln!« erwiderte Gret. Wer den Storch beim ersten Mal klappern hört, wirft viel Steingut entzwei.
Swartfoot klapperte. Als er ausgeklappert hatte, fing er an, Dornen zu schleppen und weiche Polster, und baute und dachte an seine Frau, wie sie sich freuen werde, wenn sie alles so hübsch bereit finde.
Erst gegen Abend flog er nach dem Moor hinunter, ein einfaches Abendbrot einzunehmen.
Was der junge Schmied Peter Stolten aus dem Krieg mitbrachte, darüber verwunderte sich das ganze Dorf. Mütter und junge Mädchen ärgerten sich sogar. Aber nur ein wenig. Bei uns auf dem Lande tut man das immer nur ganz wenig. Man wunderte und ärgerte sich über die junge Frau, die Peter Stolten mitbrachte, da sie zur heimischen Art so gar nicht paßte.
Sie war schmuck, das gab man zu, blutjung und braun. Und ihr Haar voll und weich und reich. Aber das alles brachte die Natur auch daheim fertig, wenn sie sich vorgenommen hatte, was Nettes zu machen... Lustig waren ihre Augen. Eine so sanfte Fröhlichkeit kannte man sonst im Dorfe nicht. Und dann die Sprache. Selbstverständlich hochdeutsch. Aber was für ein Hochdeutsch! Nicht unser Buchhochdeutsch, das wir Plattdeutschen immer ein bißchen trabend und hochbeinig, ein wenig pedantisch sprechen, so etwa, wie ein Gaul mit Hahnentritt seine Schritte macht – nein, ganz anders. Bei Kathinka war es eine Art Vogelsprache. Das zwitscherte und zirpte und schnaterte, warf die Silben und Wörter durcheinander und ineinander, biß hier den Kopf und dort das Ende ab, kugelte alles rund umeinander. Und das mit einer Geschwindigkeit, daß die Heimischen nur halb verstanden. Sie dachten mit ihrer gründlichen Leitung noch über das vierte Wort nach, wenn sie schon beim achten war. Sie machte aus ›nicht‹ ›nit‹, sprach von ›gar arg‹ und ›gar viel‹ und brauchte Wörter, wobei man sich nichts denken konnte, zum Beispiel: ›gelle?‹
Aus Frankreich war sie selbstverständlich nicht her, sie war irgendwo her, wo unseren deutschen Brüdern das Blut rascher durch die Adern fließt; man nannte sie aber überall die Fransche Stolten.
Was war sie für ein lustiges, leichtsinniges, gutmütiges, über den Erdboden hinflatterndes Geschöpf! Ein trällernder Sopran, ein die Erfahrung und ihre Lehren nicht kennendes, in den Tag hineinlebendes großes Kind war sie. Wirklich ein Kind. Wenn sie nur nicht von den Bergen, von den Reben, von ihrer Heimat, von den fröhlichen Menschen, die sie da unten zurückgelassen hat, als sie ihrem Peter folgte, träumen wird ... Das wilde, schwarze Moor und die weiten Wiesen, die frische Seekühle, die der Westwind bringt, die braven, trockenen Menschen, die Einsamkeit, die das Dorf umlagert – ja, Fransche Stolten, ob es dir nicht doch einmal auf die Seele fallen wird? ... Gleich bei ihrer Ankunft wollte sie eine Ahnung davon beschatten, aber die luftige Weite, die gelben Blumen, die Butterblumen, die auf den Wiesen wuchsen, die Hundsblumen am Wegknüll, die großen, braunen am Moordamm, machten das Seelchen gleich wieder hurtig und frisch.
Vor der Schmiedswohnung wartete, als Peter kam, der alte Stolten auf seinen Sohn. Die alte Mutter lebte nicht mehr. Midde Franzen, eine junge Verwandte, führte den Hausstand. Sie und der Alte wollten nach Eckermanns Kate ziehen, die sie gemietet hatten. Zwei Tonnen Land waren dabei, da hatten sie was zu tun.
Im Hause der Stolten wohnte seit einem Jahrhundert das Geschlecht der Dorfschmiede; es verstand sich ganz von selbst, daß der Alte den Hammer in die Hände seines Peter legte. Bis zum heutigen Tage hatte der Alte auf den Ambos gepocht. Morgen wird das ›Pincke-panck!‹ beginnen, von junger Hand gespielt, morgen wird die Esse wieder glühen und der Blasebalg seufzen.
Die Schmiede lag hinter Jakob Johannsens Garten. Mit Jakob Johannsen hatte sie immer gute Nachbarschaft gehalten, Jakob Johannsens Wagen holte auch den Krieger und die junge Frau vom Bahnhof ab. Auf dem Kuhhaus, so scharf auf der Spitze, wie es nur anging, stand Swartfoot und sah hinab.
Umarmungen fanden von seiten der Eingeborenen vor der Schmiede nicht statt; das machen die Männer mit einem Händedruck, die Mütter und Schwiegermütter und Schwestern gleichfalls mit der Hand und dann mit der Schürze ab, die sie an die Nase führen. Aber die Fremde, die Braune flog mit ihrem ›gell?‹ und ›nit wahr?‹ dem Alten und der Midde an den Hals und küßte sie ab. Die Umarmten und Geküßten machten dazu ein Gesicht, ein ganz klein bißchen dumm, als ob ihnen der Verstand still stehe, waren aber freundlich und nett. Die Frauensleute flogen und trippelten voraus ins Haus, der Alte folgte mit seinem Peter bedächtig und langsam.
»Du«, sagte der Vater, »dat mit bat Düdden, dat is bi ehr to Hus wull so Mod?«
»Je, jo«, nickkopfte der alte Schmied, »hev ik mi so dacht.«
Swartfoot hatte würdevoll zugesehen. Als alle hineingegangen waren, sagte er zu seiner Frau (er war nämlich nicht mehr Strohwitwer, seine Frau saß neben ihm im Nest): »Du«, sagte er (das heißt: eigentlich klapperte er es, aber leise, war es doch ein Familiengespräch), »du«, klapperte er leise, »die junge Frau sieht gut aus. Der fischen wir mal was. Ob wirs schon heuer tun oder bis zum andern Jahr anstehen lassen? was meinst du?«
Die Störchin war aber gar nicht aufgelegt. Sie war verdrießlich, rüttelte sich und warf etwas aus dem Nest. »Du bist mir der rechte«, grollte sie. »Immer für andere. Und wir brauchen selbst Jahr für Jahr vier Kinder.«
In dem Jahr reiste Swartfoot nach Ägypten ab, ohne für Fransche Stolten was gefischt zu haben. Er stellte sich freilich im folgenden Jahre pünktlich wieder ein, ließ aber den ganzen Sommer verstreichen und fischte für die Schmiedsfrau nichts.
Die kleine, hübsche Schmiedsfrau. ... Sie war stiller geworden, sie sprach ein Mischmasch von Plattdeutsch und Hochdeutsch, sie hatte noch immer braune, sanfte Augen, und diese Augen lachten noch immer viel, sie kannten aber auch Tränen. Ihren Peter liebte sie herzlich, aber mit der heimischen Art konnte sie nicht so zurechtkommen, wie sie gewünscht hätte.
So wurde es wieder Herbst, und die Störche (es wohnten nach den Wiesen hin viele im Dorf) sammelten sich zu ihren Übungsflügen. Swartfoot war der beste Flieger. Er hatte Leitung und Vorsitz in ihren Versammlungen. Seine Schraubenwindungen in den Äther hinauf waren berühmt. In diesem Herbst übte er und ließ seine Scharen üben, fleißiger als je. Er flog ... flog ... allen voran. Kopf, Hals und Leib bildeten eine tadellose Horizontale, seine Schwingen eine kaum gewellte Ebene. Er flog mit einem Wort – entzückend.
Die Schmiedsfrau sah es, und Sehnsucht zog in ihr Herz. Es war stille, blaue Luft. Das leise Säuseln, das man hörte, war kein Wind. Es war Heimweh der Natur, Sehnsucht war es nach reinem, nach ungetrübtem Glück. In ihrem Gärtchen hinter der Schmiede stand sie und sah hinauf. ›Pincke-panck‹ kam es von der Schmiede her. Sie sah hinauf ... die Hand als Dach über den Augen. Wie die weißen Wolken sich türmten und das tiefe Blau sich in das Meer der Ewigkeit ergoß! Und wolkenhoch der Störche Schwarm. Still und stumm, um die Achse der Heimat kreisend.
Staunend sah es das in die Fremde verschlagene, nun zur jungen Frau gewordene Kind. Je länger sie sah, desto mehr gewöhnten sich die Augen und immer tiefer sah sie hinein. Und ganz oben am Weltendach – ein Gedanke, ein Punkt. Da hing, da schwebte, da flog der stolze Flieger.... Adebar Swartfoot. Was alles mögen seine Augen gesehen haben! Der zimbrischen Halbinsel langgestreckten Arm bis zum Finger von Skagen hinauf, Land und Wasser im Osten und im Westen ein unendliches Meer.
›Pincke-panck!‹ Es klang leise und sein, das kleine, klingende ›Pincke-panck‹. Sie wußte, Peter machte Hufnägel, das war leichte Arbeit, Spielerei für ihn. Ein leichter Hammer fällt auf den Ambos: ›pincke-panck!‹ Und selten faucht und seufzt der grobe, der pustende Blasebalg in die Kohlen. Freilich, wenn grobe Sachen geschmiedet werden, Pflugschare, oder auch nur Hufeisen, da ists anders. Beschlägt Peter einen schweren Bauwagen, dann können die Hammer kaum wuchtig genug auf das rote Eisen fallen. »Thinka!« (Peter nennt sie immer Thinka) »Thinka, flink die Schürze vor!« Dann hatte sie den rauschenden Lederschurz vorgebunden, ihrem Peter ›vorzuschlagen‹, mit ihm zusammen im Takt das grobe Eisen gehämmert.
Peter lacht immer, wenn sie im Lederschurz steckt. »Bachstelze im Küraß« nennt er sie. Und lacht sie aus, wenn sie den Hammer hebt. Sie tut es mit beiden Händen, und das sieht so reizend hilflos aus. So mag Peter seine Frau gern sehen. Der grobe Schmidt hat, wenn seine Thinka den Hammer hebt, immer so merkwürdige Gelüste, das kleine Frauchen abzuküssen. Sie will das nicht, Frauen wollen ja immer nicht, was ihr Herz begehrt, oder tun wenigstens so. Sie will also nicht und läuft im schweren, knatternden Leder davon, tritt darauf und fällt. Nun hat er den von seinem Küraß erdrückten Vogel. Nun macht er seine Drohung wahr und geht als gewissenloser, von Kohle und Ruß starrender Räuber nach dem Amboß zurück und macht ›pincke-panck‹. Und sie hat einen Schnurrbart und muß säubern und waschen ....
›Pincke-panck, pincke-panck!‹ An das alles dachte sie, als sie nach den Störchen sah. Und – seufzte.
›Bei mir zu Haus, im stillen Tal, sind die Weinberge geschlossen. Vater tritt sein Amt als Weinhüter an. Die Trauben reifen auf den Bergen, und Mutter pflückt für die Küche im Gärtchen hinter der Hütte. Der Felsen steigt steil auf. Er beschattet den hellen Fleck, sonst wäre dieser viel mehr wert. Und das Fritzchen hütet die Ziegen am Hang. Zehn Schritt von unserem Haus fällt der Fluß über das Rad der Sägemühle. Wenns einem neu ist, hört mans noch im Zimmer. Aber nach ein paar Tagen weiß man nichts mehr davon, dann hat man sich gewöhnt ... Da kann kein Storch hinsehen. Es ist zu weit. Vielleicht hundert Meilen ... Hundert Meilen ... Ach, ich armes Kind!‹
Noch immer stand Peter am Amboß und schmiedete. Aber sein ›pincke-panck!‹ klang anders als vorher. Er machte keine Hufnägel mehr, er schmiedete seiner Frau ein Plätteisen, versuchte es jedenfalls. Da mußte er alle Kraft und alle Kunst zusammennehmen. Da gab es dumpfe Schläge. Zuweilen grübelte er über sein Werk, dann zitterte der Hammer in seiner Hand auf der Stahlplatte springend nach. Es war ein bebendes, kleines, elastisches, allgemach verhallendes Geräusch. Es klang wie das Heimweh, das seines jungen Weibes Brust beschwerte.
Er faßte nach dem Handgriff des Blasebalges, die Kohlen aufzuglühen. Da umarmte ihn hinterrücks seine Frau. Weinend und schluchzend. Und weinend und schluchzend lag sie an seiner rußigen Schmiedsbrust: »Ach, du guts Peterchen, du, ich hab so viel Bange und Sehnsucht nach Muttern.«
Den ganzen Tag hatte das gute Peterchen viel zu trösten. Es war nicht ganz leicht, das Wetter zu bessern. Schließlich lachte seine Thinka zwar wieder, aber das alte Lachen war es nicht, und wenn sie ihren Peter mit den braunen Augen ansah, so stand darin, so ganz sicher seien sie des Weinens noch immer nicht.
Er freute sich (und sie tat es noch mehr) auf den Abend, wo sie einander gehören wollten. Da wurde Peter unerwartet nach einem Nachbargut geholt. Viel vor Mitternacht konnte er nicht zurück sein, und sie war nun ganz allein.
Sie fürchtete sich vor dem Alleinsein, sie ging nach dem Hause des Schwiegervaters. Aber das war gefehlt. Midde hatte Kopfweh und lag zu Bett, der Alte suchte auch mit der Sonne sein Lager auf und hatte nichts einzuwenden, als Kathinka sich zum Gehen anschickte. Sie setzte sich vor ihrer Haustür auf die Bank und fing an zu stricken.
Dämmerung fiel ins Land. Wie Erinnerung weich und still und sanft, ohne Laut und ohne äußere Gebärden. Vom feuchten Wiesenplan stieg Nebel auf. Die junge Schmiedsfrau saß vor der Tür und sah hinein. Wolkig und weiß wie ein Meer erloschener Vergangenheit lagen Moor und Wiese da. Kathinka war sich nicht klar: trug sie in der Brust ein fröhliches, trug sie ein wehes und schluchzendes Herz.
Und ringsherum Stille. Erst eine kleine, eine bescheidene, eine aufhorchende Stille, dann eine andere, die immer größer, immer tiefer, immer unerbittlicher der jungen Frau Herz belagerte. Aus dem Nebel, von den Wiesen kam es her. Kathinka fror, Kathinka erschauerte, und ihr war, als ob sogar die zwischen Schmiede und Johannsens Kuhhaus stehende Eiche, deren krause Linien der Abendhimmel scharf in ihr Auge warf, sich schüttele, abzuwehren, was sie umschlich.
Aus dem Abend wurde Nacht, eine von blitzenden Sternen erhellte Nacht. Das Kind aus der Fremde lag im Bett und weinte, als Peter endlich . . endlich ... nach Hause kam. Er nahm sie in die Arme und legte sie, als wäre sie wirklich ein Kind, an sein Herz. Dort lag sie lange. Lange lag sie schluchzend und weinend, sich nicht trösten lassen wollend, ihren Schmerz liebend, so lag sie an seiner Brust.
Und über ihnen im Sternenschein ballten und spitzten sich die Formen von Dach und Giebel. Das Dach entschlossen, jedem zu wehren, der den von ihm bewachten Frieden störe. Der Giebel in stiller, fröhlicher, gesammelter Laune. Die Störchin auf dem Kuhhaus schlief fest, sie hat es gar nicht bemerkt, daß ihr Gatte noch spät nach dem Sumpf flog.
Gegen Schluß des Jahres fing man an, davon zu reden, und am Beginn des nächsten Jahres wußte man es: das Geschlecht der Dorfschmiede scheint gesichert: die junge Frau ist guter Hoffnung. Und als der Frühling kam, da faßte sich die geheime Trägerin der Schmiedszukunft ein Herz, fiel ihrem Peter um den Hals und sprach in ihrem rheinisch-plattdeutschen Kauderwelsch: »Peterchen« (so etwa sagte sie), »Peterchen, wenn ich mein Muttchen und den Vater und 's Fritzchen in diesem Leben noch wiedersehen soll, dann wirds Zeit. Den Dorfschmied kriegen wir! Ja, ich hoffe, es wird noch eine tüchtige Reihe junger Schmiedsgesellen nachkommen. Kindermütter können nicht mehr fort, jetzt kann ichs noch, aber es muß gleich sein. Gell? Wenn Peterchen mir Urlaub gäbe? Nit wahr? Er hat seine Kathinka lieb, er wirds tun. Mit Midde hab ich gesprochen, die will nach dem Rechten sehen, so lange ich weg bin.«
»Ja«, erwiderte Peter, alles schön. Aber's Geld. Sollen wir gleich von der Sparkasse wieder nehmen, was wir erst hingebracht haben?«
»'s Geld?« frohlockte die Rheintochter. »Hast gar nit gsehn? Der Postbote hats gebracht. Sieh her! Das hat guts Mütterchen geschickt.« Sie schlug mit einem artig klingenden Beutelchen auf den Tisch, »'s Mütterchen sehnt sich nach Kathinka; deshalb hat sies geschickt. Sie hat ein Zicklein verkauft. Und's Fritzchen hat auch dazu gegeben, was er beim Sägemüller verdient hat. Denn auch er sehnt sich gar viel. Und der Vater – nun, der sagt grad nit viel, aber nach Kathinka bangen tut er auch.«
Da war Peter gefangen. »Denn helpt dat jo wull ni«, sagte der brave Schmied. »Dann muß ich wohl Ja und Amen sagen. Aber, Frau, das mache ich zur Bedingung, den Dorfschmied bringst mir heil nach Haus! Das soll ein Hiesiger und kein rheinischer Windhund werden.«
Jakob Johannsen nahm sie mit nach dem Bahnhof. Peter war unabkömmlich, er konnte sie nicht begleiten. Des Bauern vierjähriger blonder Klaus stieg zu ihr auf den Wagenstuhl. Die Pferde prusteten, aber noch standen sie. Jakob war nicht parat.
132 »Bringst mi wat mit, Fransche?« fragte der kleine Klaus.
Fransche Stolten fing an zu erzählen, was sie alles mitbringen wolle: Wein und Reben und Bilder, Bilder von Bergen und Burgen ... Und dann ... Sie lachte und wiegte ein erdichtetes Wickelkind auf den Armen. »Vielleicht so was. Da kannst du mit spielen, Klaus!«
»Kinder bringt Storch Swartfoot«, erwiderte Klaus altklug. »Und Swartfoot ist hier und nicht da, wo du hingehst.« Swartfoot war wirklich zur Stelle. Er war vor kurzem aus Ägypten angelangt, stand auf dem Kuhhaus, wichtig und mit einem Gesicht... mit einer Würde...na!
Die Luft voller Lerchenjubel, die Wiesen voller Brutgesänge der Sumpf- und Watvögel. Wie fuhr sie so fröhlich dahin, die Fransche Kathinka, die Fransche Stolten! Und sollte doch das Dorf und die Wiesen nicht wiedersehen.
Kurz vor der Chaussee windet sich der Weg aus hohen Knicken heraus (es geht über die sogenannte Windberger Höhe) und fällt dann scharf auf die Kunststraße. Da! Kathinka wurde blaß und griff nach dem Herzen. »O«, rief sie... »guts Peterchen, ich glaub, ich komm nit wieder. Mir wirds halt nit gut geh«. Mir steht was bevor.«
Von Jakob Johannsens Lippen rollte ein scharfes »Brr!«, er straffte die Zügel. So brachte er den Wagen zum Stehen. Und hielt. Wortlos. Aber der Kleine rief einmal über das andere: »Was ist das?« Man wäre auf ein Haar in einen Leichenzug hineingefahren. Ein über und über mit Blumen und Kränzen bedeckter Sarg. Dahinter eine Schule mit dünnem Chorgesang: »Begrabt den Leib in seiner Gruft«. Der Geistliche ...Die Leidtragenden ... Und dahinter Gefolge zu Fuß ... Wagen ... Ein langer Zug.
Seit Fransche Stoltens Reise waren wenige Wochen verflossen. Da sah man Schneider Storm, der in dem Postort wohnte, durchs Dorf nach der Schmiede gehen. Schneider Storm war der Telegramm- und Expreßbote.
Gleich darauf eilte Peter Stolten zu Jakob Johannsen und bat um etwas Geld. Er hatte es nicht gleich im Hause, mußte aber sofort reisen. Es seien schlechte Nachrichten von Kathinka eingelaufen.
Vierzehn Tage blieb er weg, kam dann ohne seine Frau und mit einem Wickelkind im Arm. Er hatte sie noch lebend getroffen; sie hatte ihn auch noch erkannt.
Peter und die Sterbende in der kleinen Kammer. Nur das Rauschen des Gebirgsbaches... das Brausen der Sägemühle durchs Fensterchen quellend.
»O, du guts Peterchen«, hat sie gesagt, »du mußt's Kindchen gar arg lieb haben!«
»Ja«, hat Peter geantwortet.
»Und darfst ihm nit nachtragen, weils ein kleins Mädchen und ka Schmied ist.«
»Ich werde es lieben wie mein Leben«, hat Peter wiederholt.
»Sie ist braun, wie ich, und lustig wird sie auch, Peter.«
»Um so mehr will ich sie lieben, wie dich«, hat Peter beteuert.
Er saß an ihrem Lager wie ein rechter Holste, wortlos, tränenlos. Der Strom sprach an seiner statt, vom Mühlenrad tropfte das Weinen seines Grams. Fluß und Sägemühle vergruben all sein Weh.
Nun kam er mit dem Kind zurück. Der Alte gab seine Pachtung auf und zog wieder nach der Schmiede. Midde wollte den Hausstand führen und dem armen Würmchen Mutter sein. Von Anfang an lag es wie Lachen um die wundervoll aufgeblühte Kinderschnippe.
Ein grober Schmied im Lederschurz, und solche Verstellung! Wie ein Hauptgeselle der Unterirdischen, wie ein in den Feuerschlünden wohnender Dämon, ja, wie der alte Donnergott selbst, so tobte und schlug und hämmerte und formte Peter vor der glühenden Esse das in Glut gebändigte Eisen. Die schweren Hämmer warf er, wie nur je ein feuerschnaubender Schmied getan. Und die nackten, harten Muskeln waren der Gewalt und Vernichtung froh.
Wo aber waren Lederschurz und Härte, wo waren Zorn und Eifer, wo, mit einem Wort, der Grobe, wenn er sein Kindchen auf Schmiedsarme nahm! In der Linken trug er sie über die Schwelle der Schmiede, in die Rechte nahm er den kleinsten, den feinsten, den hellsten Hammer und machte das ›Pincke-panck!‹ auf eisernem Block.
Das Kindchen spitzte die Ohren, als vernehme es ein schon oft gehörtes Lied. Und Peter selbst war ganz in Andacht versunken. Dieser scharfe, springende Ton war es gewesen, der ihr Herz und Zunge gelöst hatte.
›Pincke-panck!‹ Er hatte sie nicht mehr, aber ihr Abbild hielt er im Arm.