Timm Kröger
Eine stille Welt - Novellen
Timm Kröger

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Die Justiz auf Irrwegen

Wir hatten prächtig gegessen, sahen verjüngt, verschönt und satt, die meisten auch wohlgenährt aus, von heiterer Entschlossenheit, wie Männer, denen es auf einen Bissen nicht ankommt. Und aus unseren Augen leuchtete sonnig und mild das Funkelgold von Rüdesheimer Berg.

Bei Kaffee und Zigarre ebbte das Gespräch zu allgemeiner Unterhaltung ab und wendete sich einem Gegenstande zu, den man zur Zeit bei uns nicht fand: der Schüchternheit und Befangenheit.

Doktor M... trennte beide Begriffe mit scharfem Schnitt. Die Schüchternheit entspringe der Bescheidenheit, die Befangenheit, behauptete er, dem Selbstbewußtsein. Der Schüchterne sei geneigt, die eigene Persönlichkeit im Verhältnis zu fremden zu unterschätzen; der Befangene ermangele dagegen des seinem Selbstbewußtsein entsprechenden Selbstvertrauens. Er verliere die Sicherheit unter dem Drucke des Gefühls, daß er sich nicht auf der Höhe des von ihm selbst geforderten tadellosen Verhaltens, das er sich im allgemeinen beimesse, befinde.

Die Sätze erregten einen Wirbelwind von Debatten. Angegriffen, verteidigt, ihre Richtigkeit bedingt zugegeben, ihre Unrichtigkeit bedingt behauptet. Es fand sich nicht das › Quos ego‹ der überlegenen Persönlichkeit, aber man gruppierte sich um den Gerichtsrat:

 

Eine Geschichte darf ich sie kaum nennen, begann er, eigentlich ist es nur ein Unfall, der mir bei meinem ersten Ausflug, und ein Irrtum der der hohen Justiz begegnete. Aber vielleicht ist das kleine Abenteuer geeignet für unsere Frage ›schätzbares Material‹ zu liefern.

Ich greife in meine Jugend zurück, in die Zeit, als unsere gemeinschaftliche holsteinische Heimat unter der väterlichen Herrschaft des Dänenkönigs stand und ungemein wenig regiert wurde, auf jene ehrwürdige Zeit, wo unsere Amtmänner ihre Vorladungen erließen in dem Herrscherstil der Majestät:

»Ich, der Königl. Amtmann zu M., Freiherr Friedrich Theodor Bode v. Bodenstein, befehle und gebiete Dir hiermit, daß Du vor mir am dritten Juni dieses Jahres, vormittag elf Uhr, im Königl. Amthause hierselbst erscheinst, um zu vernehmen, was mit Dir zu reden.

Durch diese auf pergamentartigem Papier gedruckte Formel wurde ich als junger Knabe vorgeladen, Zeugnis abzulegen.

Die Sache hatte meinen Eltern viel Verdruß bereitet. An einem Sonntag nachmittag (Vater war im Kartenklub, Mutter auf Besuch, Mädchen und Knechte pürschten sich gegenseitig in Wald und Feld nach), da war der Sekretär in unserer Wohnstube erbrochen und, was vor den Augen lag, mitgenommen worden. Dunkle, verdächtige Äußerungen, die der übel beleumundete Franz Froböse mir gegenüber getan, führten auf die Spur des Täters. Im Besitz von Franz fand man die entwendeten Sachen – Uhr und Geld; er sah seiner Bestrafung im Amtsgefängnis entgegen.

Mit der Auszeichnung, die mir durch die Vorladung widerfuhr, begann für mich eine neue Ära. Schon die Zustellung durch den uniformierten Beamten machte gewaltigen Eindruck. Hans, Hans! Wenn schon der Glanz des Dieners dein Auge blendet, wird es das gleißende Gold des Amtmanns ertragen? Als ich die Empfangsbescheinigung vollzog, fühlte ich mich von einer großen Zukunft angeweht.

›Hans Harms.‹ Diese Schriftzüge waren das Ergebnis einer Bemühung, worin ich das Beste meines Könnens niederlegte. Ich bezweifelte nicht, dadurch die Bewunderung des Amtmanns zu erregen. ›Welche Handschrift!‹ hörte ich sein staunendes Ah. Als ich das Papier dem Boten zurückgab, stand für jeden, der überhaupt nur lesen wollte, in meiner Miene geschrieben: ›Was sagt ihr zu dieser Leistung?‹ Aber der Beamte wollte nicht lesen, er prüfte geschäftlich die Handschrift und schob sie kühl in seine Mappe.

Die Ladung lautete an den »Herrn Hans Harms in Neudorf«. »Zu vernehmen, was mit dir zu reden«. Wie geheimnisvoll! Eine Unterredung des »Herrn« Hans Harms in Neudorf mit dem Königlichen Amtmann, Freiherrn Friedrich Theodor Bode v. Bodenstein, diese Unterredung ein Glied in der Kette zur Überführung eines Verbrechers. Wie hob mich dieser Glanz aus dem Dunkel, wie hoch über meine Mitschüler! Und in Zukunft wird Hans Harms bei dem Schulunterricht ein lebendiges Beispiel bei der Lehre vom gerichtlichen Zeugnis darstellen. ›Der Hans, der kennt die Pflichten eines gerichtlichen Zeugen‹, hörte ich den Lehrer erklären. Ja der Hans! Ich betrachtete mich im Spiegel und fand meine Stirn hoch, frei und bedeutend.

In den folgenden Nächten neckten mich lebhafte Träume. Die Szene wechselte wie die Gestalt des Amtmannes, er glich nacheinander meiner Großmutter, dem alten Schullehrer und unserem Hunde Waldmann, dann nahm er die Cäsarenzüge des großen Napoleon an. Der Ton einer Schalmei flatterte durch die Szene, aber über dem Ganzen schwebte mein eigenes, siegreiches, beredtes Wort. Das feste Gefüge meines, wie mir schien, gereimten Vortrags trug die Seele in köstlicher Selbstzufriedenheit empor. Zum ersten mal das Vollbringen dem Können entsprechend. Im Traume, im Traume, versteht sich, aber wenn auch nur im Traum: es war ein beglückendes Gefühl.

Ich machte häufig ein bißchen Ikarusflug. Wenn ich im grünen Gras auf dem Rücken lag, so flog ich durch sonnendurchflutete Himmelsräume, in meiner Seele erklangen die Weisen zukünftiger Gesänge. Aber zu anderen Zeiten beseelte mich mehr Entsagung als Ehrgeiz: nur einmal im städtischen Anzug von Hans Timm und Thöm bewundert werden, und dann, wenn es sein müßte, in Frieden zur ewigen Ruh.

Es läßt sich prachtvoll großtun, wenn man daheim ist bei Vater und Mutter in altgewohnter, lieber Umgebung, aber in der Fremde wurde es den Hänschen wie den Petern noch immer schwer ums Herz. So entsprach denn auch meine Haltung draußen dem Frohmute daheim keineswegs, und ich wußte mit der Welt so wenig anzufangen, wie die Welt mit Hans Harms. Ja, als die aufgehende Sonne des entscheidungsvollen Tages ihre Strahlen über meine junge Stirn ergoß, da pochte allgemach in meiner Seele die Angst.

Einigermaßen war ich aber noch in Fassung, als ich meinen schweren Gang begann; hegte ich doch in meiner Tasche einen Tröster, der über viele Erdensorgen hinweghebt: Geld. »Du bist schon groß«, hatte mein verständiger Vater gesagt, »nicht früh genug kann man seine Kraft erproben. Geh mit diesem treuen Helfer!« In meine Hand hatte sich etwas Hartes gesenkt, sechs Hamburger Schillinge waren darin. Sechs Hamburger Schillinge, die wogen manches Ungemach auf.

Der junge Tag war schön. In der Dorfsgemarkung kannte ich jeden Arbeiter, der im taufrischen Felde die dampfende Pflugfurche zog. Alles arbeitete, als sei der Tag an dem Hans Harms mit dem Amtmann reden werde, ein Tag wie ein anderer, kein Tag, der gewissermaßen die Ordnung der Welt durchbrach. Das enttäuschte zwar, aber es beruhigte doch. Zunächst beherrschte mich noch mehr Aufregung als Befangenheit. Aber es war schon die Aufregung einer gesteigerten Tätigkeit meiner Nerven. Mein Interesse galt den gleichgültigsten Dingen. Und sie bewahrt mein Gedächtnis bis auf den heutigen Tag.

Bei Tete Tetens wurde gebacken. Der Bauer schob das Brot in den Ofen, in Hemdsärmeln, und ich bemerkte, daß die hintere Westenwand am linken Schulterknochen in Form eines verschobenen Rechtecks mit einem dunklen Stück geflickt war, das sich auf der gebleichten Westenwand scharf abhob. Merkwürdigerweise konnte ich nicht von dem Gedanken los, ob der Flicken wohl aus demselben Stück sei, wie die Westenwand. – Peter Ruge begegnete mir in blanker Jacke mit einem Leiterwagen, worauf ein halbgefüllter, vorschriftswidrig im Knoten anstatt in einer Schleife zugebundener Sack von zweifelhafter Reinlichkeit lag. Dem Handpferd fehlte das Beiband, ein Hufeisen klirrte. Erglänzte die Jacke in des Fettes blinkender Kruste oder in der Jugend strahlender Schöne?

Ich kam über eine Brücke: die ›krumme Au‹, ein rasches Gewässer, das ein grünes Wiesental durchfloß und die heimische Gemarkung begrenzte. Dann ging es lange durch Heide und Tannen. Nun erst war ich ein aus der Heimat gerissener Knabe. Dabei tiefe, beklemmende Stille einer unbarmherzigen Natur. Aus dem Rauschen des Windes entnahm ich die Mahnung, daß hienieden nicht alles Freude und Scherz sei, daß es vielmehr schrecklich ernste Sachen gebe, z. B. gerichtliche Verhöre, »zu vernehmen, was mit dir zu reden.« Schadenfroh bestätigten das unbekannte Schäker im Dickicht und auch die Grille gab notgedrungen, so zirpte sie, zu, daß das was für sich habe.

Ich weiß nicht, wie lange ich ging; es kamen Dörfer, Äcker kamen, es kam wieder Wald, und endlich tauchte die Stadt auf. Zuerst der lang aufgeschossene Turm, in dessen düsterem Antlitz ich eine Wiederholung der von Wind und Wald gehörten trüben Auffassung las, dann das hohe, graue, mit gebietender Gewalt hervortretende Amthaus, das mir das Blut in die trüben Augen trieb. Und als ich die Höhe der gewellten Ebene erreicht hatte, lag die Stadt frei vor meinem Blick. Wie betrübte mich der Dächer herzloser Wirrwarr, worin das Auge keinen Punkt fand, der zum Verweilen einlud! Die Dächer, wie waren sie rot und prächtig und eben deshalb abscheulich, wie blinkte es aus blitzenden Scheiben herüber: hier kommt man nicht durch mit bäurischem Benehmen, hier verlangt man seines Wesen und seine Manier.

Nur an der Küste des Häusermeeres blickten schlichte Strohdächer behäbig, gleichmütig ins freie Feld. Es erfrischte und stärkte mich ihr linder Trost. Es ist nicht so schlimm, grüßten sie zu mir herüber, ihr Menschen seid alle Gottes gleiche Kinder. Aber vor der Stadt klopfte mir doch wieder das bange, kleine Herz, und in den dort auslaufenden Promenaden ließ ich mich auf einer Bank nieder, mich zu sammeln.

Vergebliche Hoffnung! Es näherten sich leichtfüßige Stadtjungen. »Du«, vernahm ich, »den Rudolf kann man nicht mehr einladen. Denke dir, gestern steckte er in Gegenwart meiner Schwestern die Hand in die Hose.«

Meine Hände flogen mit raschem Ruck aus der Tiefe, wo sie verbotenerweise geruht. Erst hingen sie schlaff von der Achsel, dann kreuzte ich sie napoleonisch über die Brust, endlich faltete ich sie wie zum Gebet. Aber es war keine Andacht, was sich in der Tiefe meines Gemüts vorwurfsvoll regte. Weshalb, o schaffende Natur, verliehst du uns nicht ein Futteral für die Arme, wenn es unschicklich ist, sie in künstlichen Taschen zu hegen?

Die Knaben bewegten sich im städtischen Anzug an mir vorüber, mich streifte ein flüchtiger Blick, worin ich die Gesinnung vollständigster Wurstigkeit las. Wie edel dachten diese vornehmen Söhne, daß sie mich nicht verhöhnten, was ich, so schien mir, so vollauf verdiente! Ihr elastischer Schritt war mir eine hohe Leistung, die mich mit viel Bewunderung und etwas Neid erfüllte. Und wie leicht und luftig der Anzug! Ich steckte in schwarzer, schwerer Beiderwand, war in einen engen Rock von der Mutter mit Hilfe der Schwestern gezwängt, daß alle Nähte geknackt hatten. Und dann meine Stiefel! Die waren mit Fett getränkt. Über die Bestandteile dieses Fetts wagte ich nicht nachzudenken. Dahin mein Selbstvertrauen, und mein Mut dahin.

Und doch rechtfertigte die Bürgerschaft der Stadt, in die ich einzog, meine Beklommenheit eigentlich nicht, denn sie zeichnete sich wohl durch einen gewissen behäbigen Müßiggang, nicht aber durch seine Gewohnheiten aus, und Gestalten, die bestimmt schienen, ein Wässerchen in Karlsbad oder Marienbad zu trinken, sah man nicht selten. Sie zerfiel in zwei Klassen: die eine verschänkte Bier, die andere trank Bier; zur letzteren konnten auch die Honoratioren und die Handwerker gezählt werden. Ja, die Gastwirte selbst waren fleißige Kunden ihres eigenen Geschäfts und einiger benachbarter Wirtschaften, so daß die erste Klasse eigentlich zur zweiten gehörte, welcher Umstand meine Einteilung vollständig über den Haufen wirft. Wie mißlich ist es doch mit jedem System bestellt!

Einen Sechsling wollte ich verzehren und dafür ein Glas Bier, das im Dorf nicht mehr kostete, kaufen, aber die Auswahl des Lokals machte Schwierigkeiten, alle waren zu fein, keines entsprach dem Ideal der Schäbigkeit, die zu Beiderwand und Schmierstiefeln paßte. Zwei Kellerwirtschaften gingen allenfalls. Widerwärtig war aber die Bezeichnung ›Tunnel‹ und ›Halle‹, da solche Namen auf gleißnerisch verborgene Vornehmheit hindeuteten.

Ich entschied mich für den ›Tunnel‹. Aber wie fest auch mein Entschluß gewesen war: ich hatte nicht das Herz, als ich den Luxus von Kattungardinen an den Fenstern bemerkte. Das trieb mich zur ›Halle‹, aber – die ›Halle‹ hatte weiße Gardinen. So machte ich denn wieder kehrt; aber neue Hindernisse. Der Tunnelwirt tauschte soeben auf seiner Kellertreppe Verbeugungen mit einem vorübergehenden Herrn aus. Ich sah betroffen auf meine eigene dürftige Gestalt. Wenn man im ›Tunnel‹ solche Verbeugungen macht, dann passest du nicht hinein, Hans! Ich wandte zum letzten mal meinen Schritt und verschwand in der Tür der ›Halle‹.

Noch höre ich mit schrecklicher Deutlichkeit den hellen Klang der Haustürschelle, den tiefen Ton der Gaststubentür. So ungefähr muß wohl dem Delinquenten das Armesünderglöckchen läuten. Und das Gefühl, unglaublich vermessen zu sein, trug ich mit hinein.

Der Anblick, der sich mir darbot, war auch kein tröstlicher, denn die äußere Einfachheit war nur das Aushängeschild geheuchelter Schäbigkeit gewesen, dazu bestimmt, so werte Gäste, wie Hans Harms aus Neudorf, ins Netz zu locken. Denn im Keller umgab mich – es war niederträchtig – eine beklemmende Feinheit. Blumig goldene Tapeten bedeckten die Wände, der Kronleuchter, einem ungeheuren Prachtfalter vergleichbar, senkte sich von der Decke; schwellende, weiche Sofas, Blitzen von Goldrahmen hinüber und herüber, und der Hallenwirt von überwältigender Vornehmheit, den jungen Gast mit gelassenem Staunen betrachtend. Aber indem vollen Klang seiner Stimme lag die großmütige Versicherung, daß er entschlossen sei, seine Überlegenheit nicht zu mißbrauchen. »Was steht zu Diensten?«

Ich wagte den feinen Mann wegen eines Sechslings nicht zu bemühen. »Zwei Glas Bier«, war meine Antwort.

»Sollen es Seidel sein?«

In der Dorfschenke wurde das übliche Braunbier in Gläsern verschenkt, und ich wußte nichts von Seideln, war daher in Verlegenheit. Ich zerschnitt den Knoten. »Ja«, antwortete ich.

Jetzt zollte der Wirt mir unverhohlen Bewunderung. Seine nächste Frage lautete: »Bayrisch?«

Neue Verlegenheit. Ich quälte hervor: »Ja.« In dem Augenblick hätte ich mir auch Strychnin gefallen lassen.

»Für dich allein?« Der Wirt brachte, ohne die Antwort abzuwarten, zwei schäumende Schoppen. »Du bist ein unternehmender Junge«, bemerkte er väterlich. »Wenn dir nur nichts passiert. Setz dich aufs Sofa!«

Ich setzte mich ins Sofa, denn es war selbstverständlich, daß ich einem so feinen Mann gehorchte. Aber mit Entsetzen sah ich die beiden Schoppen. Wie gern wär ich geflohen aus der schrecklichen ›Halle‹! Jedoch die Pflicht gebot, das schien mir wiederum selbstverständlich, beide Kelche zu leeren, und selbstverständlich war es, daß zwei so große Gläser Bier nicht bloß einen Schilling kosten könnten. Und beklommen fragte ich nach dem Preise.

»Vier Schillinge, mein Sohn.« Also der größte Teil meines Vermögens! Ich holte es aus der Tiefe der Tasche und zahlte.

Ich begann zu schlürfen und zu nippen und zu trinken, und es war merkwürdig, wie sich meine Vorstellung von der Umwelt änderte. Schon beim ersten Schoppen war die angestaunte Eleganz nicht mehr einwandsfrei. Ich bemerkte rauchgeschwärzte Zimmerdecken, abgetretene Fußböden, verschimmelte Tapeten. An Stuhl und Sofa hatte der Zahn der Zeit genagt. Der Anzug des eben noch bewunderten Wirts erweckte in mir eine ähnliche Betrachtung, wie die blanke Jacke des Peter Ruge heute früh, und seine Manier war die eines Schenkwirts. Ich erinnerte mich, daß der Ehrgeiz des Hans Harms über den Bierkrug eines Gastwirts hinausstrebe. Und was war denn schließlich auch Großes mit der bevorstehenden Vernehmung?

Wahrscheinlich gewann meine Stimmung neuen Aufschwung, als ich die etwas verwelkte Blüte des zweiten Schoppens brach. Denn die nachfolgenden Ereignisse blickten mich mit verschleierten Augen an. Ich erinnere Bruchstücke einer Unterhaltung, die ich mit dem Wirt führte, auch ist mir, als ob mir noch einmal der Strahl des Fasses gesummt hätte. Auch darin irre ich mich nicht, daß ich schließlich von dem freundlichen Vater der Herberge aus dem Lokal gedrängt wurde und das Unglück hatte, meine ganze Länge auf der Straße am Boden zu messen. Wie hätte mich dieser Unfall noch vor einer Stunde gedemütigt! Jetzt focht er mich nicht weiter an.

Und im Amthause?

Das Gesicht des Franz taucht vor mir auf und die würdige Gestalt des alten Amtmanns, Freiherrn Friedrich Theodor Bode v. Bodenstein. Es schläft in mir die Vorstellung, als ob Franz barsch, ich aber freundlich behandelt worden sei, daß ich über Verdienst gelobt worden, in glücklicher Stimmung und Mittelpunkt des Interesses gewesen.

Aber dann kam das Elend, kamen Jammer und Not! Im tiefsten Unglück schwang sich mein Denken zur Andacht auf. Aber wenn die Not am höchsten, ist die Hilfe am nächsten. Ich erhielt Erleichterung, ein bleierner, tiefer Schlaf nahm mein Bewußtsein hinweg; ein Wiegen, Rollen, Schütteln, das Geräusch eines mich forttragenden Gefährts – Erwachen in Neudorf. Dort wurde ich aus einer Mietskutsche in die Arme meiner besorgten Eltern gehoben.

Der Amtmann lasse grüßen, bestellte der Fuhrmann, die Hitze und die Aufregung hätten den Knaben unwohl gemacht, aber es habe nichts auf sich.

Und es hatte nichts auf sich. Einen ganzen Tag im wunderschönen Monat Juni ließ mich die Mutter nicht aus dem warmen Wandbett. Zu dem Jammer meiner Lage häufte sich das Weh warmer Decken, diese mit Federn achtbarer Gänse bis zum Platzen gestopft. Es gab Fliedertee, soviel ich nur mochte, aber ich mochte nicht viel.

Es vergingen, ich weiß nicht, wie viele Jahre. Da arbeitete ich als Gerichtsassessor bei dem Kreisgericht, dem das Archiv des Amtshauses, seiner Ladungsformulare und Akten zur Aufbewahrung überwiesen worden waren.

Wollte ich die Akten des berühmten Falles Froböse noch einsehen, so wurde es Zeit. So ganz einfach war es zwar nicht, aber mit Hilfe des alten Sekretärs fand ich ein staubiges, vergilbtes Aktenstück: ›Untersuchungsakten wider den Dienstjungen Franz Froböse in Neudorf wegen Einbruchsdiebstahls.‹

Nun konnte ich mich von der Sorge befreien, ob ich etwa im Verhör ›Dummheiten‹ gemacht. Das war nun zwar nicht der Fall, aber ich fand doch etwas Überraschendes – den Begleitbericht des Amtmannes bei Übersendung der Akten an das Obergericht.

»Es sei gestattet«, las ich, »auf die Wichtigkeit der Aussage des Hans Harms hinzuweisen. Mußte das Zeugnis auch wegen Eidesunmündigkeit des Komparenten unbeschworen bleiben, so ist es doch mit einer solchen Klarheit und Festigkeit erstattet, daß sie bei dieser Jugend und Unerfahrenheit überraschen muß. Daher ist es ein sehr beachtenswertes Beweismittel. Bei dem Inkulpaten dürfte der Grundsatz › Malitia supplet aetatem‹ Platz greifen, bei dem Zeugen Hans Harms aber der andere, daß sachliche Glaubwürdigkeit Eid und Eidesmündigkeit ersetzt. Dabei darf ein sehr charakteristischer Umstand nicht verschwiegen bleiben. Hans Harms war von den heiligen Pflichten eines Zeugen so hingerissen, daß er nach dem Abschluß des Verhörs einem von Erbrechen begleiteten Unwohlsein unterlag. Das Übel trat so heftig auf, daß er durch Mietfuhrwerk nach seiner Heimat Neudorf geschafft werden mußte. Indem wir die von uns berichtigte Fuhrkostenrechnung im Betrage von sieben Kurant Mark und acht Schillingen anschließen, bitten wir pflichtgemäß, unserer Kasse diesen Betrag aus der Rezeptur des königlichen Obergerichtes zum Fonds der Zeugengebühren zu erstatten«.


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