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15

Es mochte Mittag sein, als sie vom Lande abstießen. Kalland ruderte, und Iwer saß hinten im Boot und steuerte. Gleichzeitig hatte er die Angelschnur ausgeworfen. Aber das Fischen langweilte ihn bald; er zog die Schnur ein und nahm zwei Ruder, damit es schneller ginge.

»Wir halten auf Nikkelsens Sjöbu zu,« sagte Kristian und sah sich um.

»Schön,« antwortete Iwer.

Und dann ruderten sie darauf los, ohne ein Wort zu sprechen.

Es war ein schöner Nachmittag, das ließ sich nicht leugnen. Die Sonne stand hinter einem dünnen Wolkenschleier, so daß sie ihnen nicht so sehr in die Augen stach. Im übrigen war der Himmel hoch und klar.

Als sie über die seichten Stellen kamen, konnten sie den Königsfisch und den Wittling dicht unter der Wasserfläche schwimmen sehen. Einmal kam sogar ein kleiner Königsfisch angeschwommen, steckte die Schnauze aus dem Wasser und schaute sich um.

Daß der Königsfisch sich so vergnügt umsehen konnte, war das nicht ein Wunder zu nennen, was? Wo waren die Seevögel? Das konnte er sich nicht alle Tage erlauben; denn die Möwe, die umherschweifte, hatte gute Augen, und pflegte wie der Blitz dazusein, wenn er sich nur an der Oberfläche zeigte.

Als sie aber bei der flachen Landzunge von Skarven vorbeikamen, schrie Iwer plötzlich lauter, als es sonst seine Art war:

»Sieh nur, Kristian!«

Ja, da gab's freilich etwas zu sehen. Eine ungeheure Menge von Seevögeln in voller Tätigkeit. Mußte wohl ein Heringsschwarm in seichtes Wasser geraten sein. Kristian konnte nicht langer still sitzen. Er vergaß alles andere darüber. Nein, es war doch zum Totärgern, daß man keinen Senkelstift hatte! Man hätte ja den ganzen Heringsschwarm fangen können, wie man Rahm abschöpft! Er wartete ja geradezu auf den Senkelstift! Jetzt flogen die Möwen mit dem Raub davon … sieh nur, die alte, dicke dort, wie sie hackt! Ach, wenn man doch einen Senkelstift hätte! Aber das Klagen konnte nichts nützen … und sie hatten ja auch ein anderes Ziel; – aber ärgerlich war es doch, all die Heringe zum Teufel fahren zu sehen.

Es ging nur langsam vorwärts. Die Uhr war sicher nach vier, als sie auf der Schwarzen Insel landeten. Gräff war nirgends am Strande zu erblicken. Als sie am Schuppen vorbeikamen, stand dieser offen. Sie traten ein und sahen das Boot, das der Exporteur bestellt hatte, halbfertig dastehen, fast noch so, wie vor ihrer Abreise. Aber auch hier war Gräff nicht. Um sicher zu gehen öffneten sie die Tür zu dem kleinen Nebenraum; er war leer. Trotzdem war da etwas, was sie zurückhielt. Der Topf mit dem Harz, der sonst immer seinen Platz in der einen Ecke gehabt hatte, stand jetzt gleich neben der Tür, und an seinem früheren Platz sahen sie ein metertiefes Loch in der Erde. Und nicht nur dort war gegraben. Nein, überall war der Boden aufgewühlt, und es konnten weder Ratten noch Maulwürfe sein, die hier ihr Unwesen getrieben hatten, das sah man auf den ersten Blick. Solche Gruben konnten nur Menschenhände gegraben haben. Aber seltsam war es, und es wurde ihnen beim Anblick dieser Löcher ganz traurig zumute.

Sie verließen den Schuppen und gingen zum Haus hinauf. Gräff war sicher in der Kammer. Sie traten zusammen ein. Richtig, da saß er am Fenster. Er hatte sie wohl gesehen, bevor sie hereinkamen, denn er schien gar nicht überrascht. Er betrachtete sie von der Seite, sagte aber keine Silbe. In der Hand hielt er ein Stück grobes Brot, von dem er aß. Es war wohl so hart, wie Zwieback, denn es knackte und krachte jedesmal, wenn er davon abbiß. Kristian und Iwer atmeten erleichtert auf, als sie Gräff dort so ruhig sahen. Sie hatten sich alles mögliche Schreckliche vorgestellt, und nun saß er da ganz friedlich und aß.

»Na, guten Tag auch!« sagte Kristian laut, »hier sind wir wieder, sowohl ich wie Iwer. Wie steht's?«

Der Bootsbauer fuhr fort, sie von der Seite zu betrachten – unausgesetzt und mit einem wunderlichen Blick – aber er antwortete gar nichts. Saß nur da und kaute.

»Haben tüchtig auf dem Amerikaner geschuftet,« fuhr Kristian fort; »wir sehnten uns manchmal hierher, denn hier pflegt's ja gemächlicher zuzugehen, alles was recht ist.«

Jetzt gab Gräff einige Töne von sich, als ob er etwas sagen wolle, aber es war ganz unmöglich, auch nur ein Wort zu unterscheiden.

Kristian setzte sich auf die Ofenbank und stopfte seine Pfeife. Er sah Iwer kopfschüttelnd an, als meinte er, daß hier nicht alles zum besten stehe.

Iwer war auch nicht bei rosiger Laune. Er saß und druckste und wollte gern etwas sagen, aber es fiel ihm so ungewöhnlich schwer. Schließlich sagte er, daß er und auch andere erwartet hätten, Gräff in der Stadt zu sehen. Denn Kristen Olsen hätte doch geschrieben – nicht? … Kristen Olsen hätte doch geschrieben –

»Ja freilich,« half Kristian nach; »er schrieb einen langen Brief, und er wollte, daß Gräff mit dem ehesten hinüberkäme. Wer aber nicht kam, war Gräff. Und das ist Unrecht, denn so einem braven Mann wie Kristen Olsen, muß man zu Willen sein … Kristen Olsen, Gräff! … Ich kann mich noch auf ihn besinnen, wie er bei Krämer Karlsen war. Da gab's sowohl Rosinen wie Kandis, wenn ich ihnen half, das Mehl auf den Boden zu winden. Und ich war wohl mehr im Wege, als daß ich nützte.

Gräff saß eine Weile ganz still. Er hatte aufgehört, zu kauen und es sah aus, als versuche er, nachzudenken. Er kämpfte scheinbar mit etwas. Man konnte ihm ansehen, daß er gern etwas sagen wollte; denn es zuckte ihm so seltsam um Augen und Mundwinkel. Und schließlich brachte er stammelnd und undeutlich hervor:

»Kristen Olsen reiste zu seinem Verwandten … ja, er reiste nach Chicago zu seinem Verwandten.«

Die beiden anderen hofften, daß er noch mehr sagen würde, und saßen ganz still. Aber sie warteten vergebens. Es kam kein Wort mehr.

»Ja, das tat er, er reiste nach drüben,« sagte Kristian langsam und klar, »und jetzt will er, daß Gräff auch hinüberkommen soll, und dann wird noch alles gut.«

Gräff antwortete hierauf weder ja, noch nein. Er saß still wie eine Mauer.

Und auf dieselbe Weise blieb er bis zum Abend sitzen. Nur hin und wieder sagte er ein Wort, das man aber meistens nicht verstehen konnte, weil er es gar zu undeutlich aussprach …

Es war nur gut, daß Kristian und Iwer sich Nahrungsmittel mitgebracht hatten; denn als sie in der Schublade nachsahen, wo das Brot zu liegen pflegte, fanden sie nur ein alte Rinde, die grün von Schimmel war und hart wie Stein. Sie mußten sich daranmachen, das auszupacken, was sie an Tee und Brot mitgebracht hatten, und eine Mahlzeit bereiten. Und das taten sie denn auch mehr als gern, denn sie hatten ja seit mittag nichts gegessen und waren sehr hungrig.

Gräff aß nicht viel. Er saß meistens da und zerkrümelte das Brot zwischen den Fingern. Und wenn er einen Bissen genommen hatte, schluckte er ihn nicht hinunter, sondern kaute ihn eine Ewigkeit.

Dieser Abend war nun freilich anders, als der, den sie in der neuen Wirtschaft verbracht hatten, als sie von den Amerikanern Abschied nahmen. Es kam ihnen vor, als säßen sie in einer Krankenstube; sie sprachen leise miteinander und mußten hin und wieder innehalten, wenn Gräff zu sprechen anfing. Es war jetzt ganz zwecklos, zu versuchen, ihn zu verstehen; denn die Worte wurden mit dem Essen, das er im Munde hatte, zusammengeknetet und vergingen zwischen den Zähnen. Einmal aber schien er auf etwas achtzugeben, er lauschte; und dann sagte er leise, aber ziemlich deutlich:

»Jetzt ist er in die Wand hineingekommen. Er sitzt in der Wand. Er hat Haare auf dem Maul, wie ein Kater.«

Wieder und wieder versuchten Kristian und Iwer, ihn von dem verrückten Gedanken abzubringen. Iwer sagte mehr als einmal: »Nein, Gräff, so etwas mußt du nicht sagen!« und Kristian schwur, daß er der häßlichen Bestie mit den Haaren schon den Garaus machen wolle, und zwar sofort. Einmal sagte er zu Iwer, er möge mal hinausgehen und nachsehen, ob solch' Tier wirklich im Anzuge sei, und wenn er es sähe, möchte er es hereinbitten, denn er und Gräff hätten mit ihm zu reden, und vielleicht würden sie ihm auch den Kopf zerschmettern, darum solle es sich lieber gleich einen zur Hilfe mitbringen.

Als Kalland ausgeredet hatte, sagte Gräff plötzlich und unerwartet: »Ja,« ein tiefes Ja, das aus einem Keller zu kommen schien. Und kurz darauf begann er lauter und eifriger als sonst zu sprechen. Was er vorbrachte, waren meistens ganz verworrene Dinge, die selbst, wenn sie deutlicher gesprochen worden wären, keinen Sinn gehabt hätten. Am Tonfall aber konnte man merken, daß er sich verteidigte oder schimpfte. Er sprach wie ein Mensch, dem blutiges Unrecht widerfährt.

Und all dieses kam sozusagen aus der Brust – in tiefen, murmelnden Lauten, die sich nur schwer von der Zunge lösten. Die Worte schwankten hervor, als seien sie betrunken, und die meisten stürzten gleichsam hin, bevor sie halbwegs gesagt waren. Wenn man aber stundenlang zugehört hatte, begriff man, daß diesem Redefluß etwas zugrunde liegen mußte; dahinter versteckte sich etwas, vor dem er sich fürchtete. Und das war sicher ein Mensch. Es schien, als sei dieser Mensch vom Meere gekommen und als hielte er sich draußen auf und lauerte und hielte Wacht. Es war Gräff darum zu tun, daß der Mensch nicht hereinkam; denn schlüpfte er herein, so führte er Verderben mit sich.

Die Nacht verging ruhiger, als sie zu hoffen gewagt hatten. Hin und wieder hörten sie Gräff sprechen, und beim Morgengrauen, als Iwer eine Weile wach lag, sah er ihn aufrecht im Bett sitzen und zu ihnen hinstarren, als wundere es ihn sehr, sie dort liegen zu sehen. Aber am Morgen, als sie aufstanden, schlief er ganz ruhig.

Es war wohl am besten, bis auf weiteres bei ihm zu bleiben und zu sehen, wie sich die Sache entwickeln würde. Inzwischen konnten sie ja das Boot des Exporteurs fertig machen, der lange genug gewartet hatte. Sie fingen gleich mit der Arbeit an und wärmten Bohlen, so daß es in dem Edeltannenholz knackte. Sie waren noch damit beschäftigt, als der Bootsbauer herauskam. Sie sahen ihn jetzt zuerst im vollen Tageslicht, und es verblüffte sie beide, daß er anders aussah, als sonst. Es war nicht leicht, zu sagen, woran es lag, aber etwas war sicherlich nicht in Ordnung. Er ging etwas entfernt von ihnen umher, mit den Händen in den Taschen, und tat, als ob sie gar nicht da wären. Kristian rief ihm mehrmals zu, er möge kommen und ihnen helfen, er aber sah gar nicht nach der Seite, wo sie standen. Mochten sie dort nur allein Tannenholz wärmen, ihn schien es nicht im geringsten zu interessieren. Sie hätten das Boot des Exporteurs gewiß so spitz wie ein Rasiermesser machen können, ohne daß er Mr. Havertons Ansicht in dieser Sache zum besten gegeben hätte.

Im Laufe des Nachmittags verloren sie ihn eine lange Weile aus den Augen. Sie hatten ihn nirgends hingehen sehen, aber er war doch verschwunden. Als sie aber einmal in den Schuppen kamen, um ein Werkzeug zu suchen, hörten sie jemand in dem dunklen Nebenraum sprechen, und als sie hineingingen, sahen sie ihn drinnen stehen und in der einen Ecke suchen und graben. Sie fragten mehrmals, was er suche, aber er antwortete nicht – fuhr nur fort, zu graben.

Später am Tage kam er heraus und begann neben der Tür zu graben. Er stand auch jetzt gebeugt und redete und brummte wie eine große, schwarze Biene.

Was suchte der Mann nur? Es war doch nicht wahrscheinlich, daß es etwas Ungewöhnliches hier auf der Schwarzen Insel zu finden gab?

Suchen aber tat er trotzdem jeden einzigen Tag, und zwar an den ausgefallensten Stellen. Ja, je merkwürdiger die Orte waren, desto verlockender schienen sie ihm zu sein. Oft lag er auf allen Vieren und flüsterte und murmelte in das dunkle Loch hinein, das er aufgegraben hatte. Jeden Klumpen Erde zerbröckelte er zwischen den Händen und durchsuchte ihn, als glaubte er etwas darin zu finden.

Einmal kam er zu Kristian und Iwer mit einer verrosteten Feile, die er gefunden hatte, und fragte sie, ob sie nicht einen bedeutenden Wert habe. Kristian wollte ihm nicht widersprechen, und antwortete, daß es nicht unmöglich sei; von außen sähe sie ja nicht sehr schön aus, aber man könne nicht wissen, ob sie nicht etwas in sich habe. Gräff stand und betrachtete sie eine Weile mit ratlosem Gesichtsausdruck, und dann sagte er: »Ja, man kann nicht wissen, ob sie nicht Geld enthält … Sie gehört mir nicht und ich will niemand unrecht tun; ich hab' nichts von ihr gewußt, bevor ich sie fand. Bei Gott, ich hab' nichts davon gewußt.«

Mit dieser Feile ging er den lieben, langen Tag in der Hand umher und wagte nicht, sie loszulassen. Als er am nächsten Tage einen runden Stein fand, so groß wie ein Ei, freute er sich zuerst damit; kurz darauf aber sagte er traurig: »Er ist doch nichts wert!« und des Abends fand Kalland den Stein in der Kammer auf der Erde. Die Feile aber hielt er in Ehren. Er hatte sie in ein Taschentuch gebunden und bat Kristian und Iwer inständig, ihm die Feile nicht wegzunehmen, denn sie sei nicht sein Eigentum, und wenn er sich mal verantworten müsse, sei es gut, sie zu haben.

Kristian hoffte beständig, daß es besser mit Gräff werden würde. Es kam vor allem darauf an, daß er Menschen um sich hatte; denn wenn er allein war, nahm die Umnachtung unverkennbar mehr von ihm Besitz. Und sowie er klarer geworden war, sollte er umgehend zu Kristen Olsen geschickt werden, ob er wollte oder nicht. Er würde es ihm schon Dank wissen, wenn er erst mal drüben bei seinem Freund war und mit Menschen verkehrte, die ihn nicht scheel ansahen, so daß er sich freieren Sinnes fühlte. Ja, Kalland wollte darauf schwören, daß es anders würde; es war Gräff nicht an seiner Wiege gesungen worden, daß er als verrückter Mensch endigen würde – und der Kern in ihm war sicher noch gut.

Kristian hatte vor mehreren Tagen einen Brief an Kristen Olsen geschrieben und ihm erzählt, wie es um Gräff stand, damit er sich danach richten konnte. Der Brief war jetzt unterwegs, und das war ein angenehmes Bewußtsein.

Aber mit der Besserung ging es langsamer vorwärts, als Kristian sich gedacht hatte. Tagsüber grub er wie sonst, oder er saß im Boot und blickte übers Meer hinaus, als erwarte er jemand; im allgemeinen war er ziemlich still. Nur des Nachts war er oft unruhig, und Kalland mußte dann aufstehen und bei ihm sitzen und ihn zu beruhigen versuchen, indem er seine Hand in der seinen hielt.

Überhaupt war Kalland fürsorglich, teils weil der Mann ihm leid tat und teils, weil er sich Vorwürfe machte, daß er Gräff so lange allein gelassen hatte, ohne sich ein einziges Mal nach ihm umzusehen. Aber alles war ja drunter und drüber gegangen, während der Amerikaner da gewesen; tagsüber Arbeit, so daß man kaum Zeit hatte, sein Essen herunterzuschlingen, und nach Feierabend war es entschieden gemütlicher gewesen, in der neuen Wirtschaft zu sitzen und zu trinken und zu singen – und mit den Ausländern zu schwatzen, als nach der Schwarzen Insel hinauszurudern.

Jetzt aber sah er ein, daß es eine schlimme Zeit für Gräff gewesen sein mußte.

Eines Nachts wurde der Bootsbauer ganz wild und unregierlich. Weder Kristian noch Iwer konnten diese Nacht so leicht wieder vergessen. Sie versuchten zweimal, ihn zu halten; aber das hätten sie lieber bleiben lassen sollen, denn sie wurden zur Seite geschleudert, als wären sie aus Papier. Gräff war ganz verändert. Das war nicht mehr der gute, stille Mann. Wie er schwer und gebückt dastand, war er fürchterlich anzusehen. Zuerst setzte er sich zur Wehr, indem er den einen Arm vor den Kopf hielt und hin und wieder dahinter hervorschielte, plötzlich aber ging es wie ums Leben. Er teilte nach rechts und nach links Stöße aus, und mit einem Male griff er sich an die Brust und schrie: »Nimm ihn weg, sage ich, weg mit dem naßkalten Kopf, hebe ihn weg von mir, denn er würgt mich! er weckt mich des Nachts – du erwürgst mich ja, du schwedischer Teufel! Bin ich dein Lastträger? bin ich dein Lastträger?« Und dann fluchte er häßlich, etwas was Kristian noch nie von ihm gehört hatte – »der Teufel hole ihn – seht den Salzigen! die salzige Bestie … hu, hu, hu, – ist ja alles nur klebriges Salzwasser! nimm ihn weg, sage ich, er würgt mich … da ist er wieder – au – u – u!«

Er sprang einen Schritt rückwärts und starrte vor sich hin. Dann wandte er seinen Kopf langsam zur Seite, und seine Augen richteten sich auf Kalland. Sie waren blutunterlaufen und ganz wild. Es schien Kristian, als wolle der Mann sich auf ihn stürzen, und plötzlich fühlte er eine eisige Angst in sich aufsteigen und er lief zur Tür. Iwer folgte ihm. Gräff aber rührte sich nicht, solange sie im Zimmer waren; von draußen aber hörten sie ihn noch eine Weile herumtoben. Er hatte etwas Tiefes in der Stimme, das wie Klagen oder Tränen klang. Dann hörten sie einen schweren Fall und danach blieb alles still.

Sie öffneten die Tür und sahen Gräff der Länge nach auf dem Boden liegen. Da hoben sie ihn auf und legten ihn wieder aufs Bett, denn er war fast nackend. Es war eine lange Ohnmacht, von der er befallen war. Er bewegte sich nicht, was die beiden Männer auch mit ihm anstellen mochten. Eine Stunde oder zwei vergingen. Da öffnete er schließlich die Augen halb. Aber er war so schwach, daß Kalland ihm den Kopf stützen mußte, als er ihm Wasser gab. Er schien übrigens von nichts zu wissen und antwortete nicht, als er gefragt wurde, ob es ihm besser gehe. Nein, nicht den kleinsten Laut gab er von sich. Bis zum Morgen lag er so und sah mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. Als sie sich schließlich ganz schlossen, wußte man nicht, ob Schlaf oder Schwäche sie zugedrückt hatten.

Kalland sagte von Gräff, daß er in dieser Nacht »entzwei gegangen« sei, und wahrlich mußte man zugeben, daß es von da ab schlecht um ihn bestellt war. Er ging umher und schien etwas vorzuhaben; aber Gott im Himmel mochte wissen, was es war. Er suchte nicht mal mehr. Übrigens war er sanft und fügsam wie ein Lamm, aber das kam wohl daher, weil er gebrochen war. Auch der Kern in ihm schien jetzt angegriffen zu sein. Das zeigte sich darin, daß er unsauber und gleichgültig in allen Dingen war. Manchmal war er geradezu ekelhaft. Kristian und Iwer mußten sich mehr als einmal seiner annehmen, wie man sich kleiner Kinder annimmt.

Jeden Morgen wusch Kristian Gräffs Gesicht und Hände. Und bei diesem Geschäft merkte er, daß der Bootsbauer immer magerer wurde. Die Backenknochen traten scharf hervor, und die Haut wurde dunkelbraun. Sein Haar schien auch dünner als früher zu sein, und es war feucht und wirr. Gleichzeitig ergraute es stark an den Schläfen.

Etwas, was außerdem den Verfall zeigte, waren die Hände. Früher waren die Finger dick und fest gewesen, wie es sich für Bootsbauerfäuste geziemt. Kalland erinnerte sich noch, daß er Gräff einmal, während sie an Kapitän Dührendahls Kutter arbeiteten, aus Versehen mit dem Hammer auf die Finger gehauen hatte. Kristian schnalzte mit der Zunge und fand es bedauerlich; denn er wußte, daß der Hammer gut geführt worden war. Gräff aber sagte nur: »Das ist nicht so schlimm! die können schon einen Stoß vertragen!« – Jetzt konnten sie wohl keinen mehr vertragen; sie waren so mager und so lang, und sie sahen so seltsam aus – jeder einzelne hatte so etwas Menschliches an sich, fand Kristian, besonders der Daumen. Es war, als sähe man ein kleines Menschenkind; aber es war so schmal, ach, so schmal um die Taille.

Nicht selten kam Gräff zu Kristian und Iwer hin und betrachtete das Boot, an dem sie arbeiteten, und dann konnte er ganz vernünftig reden. Es waren die guten, alten Redensarten, die er manchesmal von sich gegeben, wenn er dagestanden und gearbeitet, und mit sich selbst oder mit dem Boot gesprochen hatte.

Eines Tages aber, als er bei ihnen stand und Kristian ihn fragte, was er zu dem Boot meinte, sagte er weder, daß es breitschnauzig, noch daß es seetüchtig sei, noch daß ein stumpfes Messer das Wasser ebenso gut schneidet, wie ein scharfes; sondern er redete ganz sinnloses Zeug und sagte schließlich, daß sie die Hobelspäne, die im Boot lägen, wegfegen sollten – und es lag nicht ein einziger darin. Kurz darauf begann er Maß zu nehmen und vorn und achter zu visieren. Als Kristian aber dieses seltsame Gebaren sah, wurde ihm ganz dick im Halse, und er blinzelte heftig mit den Augen und sagte, daß es traurig sei, wie wenig von einem Menschen übrig bliebe, wenn der Verstand fort wäre.

Die einzigen Menschen, deren Gräff sich erinnern konnte, waren Katrine und Kristen Olsen. Er nannte sie oft mit Namen, und wenn die Unruhe ihn überkam, wollte er entweder zu Katrine oder zu Kristen.

Wenn die Wolken sich zusammenzogen und das Wasser stieg, wenn das Unwetter auf dem Sprung war, loszubrechen, dann wurde Gräff unruhig. Denn er schien es im Gefühl zu haben, bevor es kam, und man konnte ihm anmerken, daß er sich davor fürchtete. Den ganzen Tag über ging er mit einem kläglichen Gesicht umher, und des Nachts schlief er wenig und unruhig.

Die beiden Männer hatten jetzt beschlossen, daß es so nicht weiter gehen solle. Sobald das neue Boot abgeliefert, und sie das Material und Werkzeug, samt Gräffs übrigem Besitz geordnet hatten, wollten sie mit ihm zu Kallands Tante reisen, die eine Meile weit landeinwärts wohnte. Dort würde Gräff es besser haben und sie würden ihm alles Gute antun, was es nur gab. Bezahlen konnte er ja von dem Geld, das er sich erspart hatte und für den Rest würde Kristen Olsen schon sorgen.

Einige Tage aber bevor sie der Schwarzen Insel den Rücken kehren wollten, ging Gräff umher und jammerte, denn jetzt käme »er« sicher. Er erklärte gleichzeitig, daß »er« ihn jede und jede Nacht mit Salz einschmierte.

Dabei sah er aus, als wäre er von einem Unheil betroffen worden.

Es war klar, daß Wetterveränderung bevorstand. Während einer Woche hatten sie herrliches Wetter gehabt und in dieser Zeit war Gräff ruhiger gewesen. Jetzt kam gewiß einer dieser Novemberstürme, die die Vorläufer des Winters sind.

Das Unwetter kam auch.

Aber am Tage, bevor es losbrach, stieg Gräff ins Boot und ruderte davon. Die beiden anderen merkten es erst, als er so weit vom Land gekommen war, daß Rufen nichts mehr nützte. »Er will vielleicht zu Katrine rudern,« sagte Iwer, und Kristian konnte nichts dagegen sagen, aber er fand es wenig glaubhaft …

– Beim Morgendämmern lag Kristian im Bett, wälzte sich hin und her und konnte wegen des Sturmes nicht recht schlafen. Zeitig stand er auf und sah, daß es der Südwind war, der sich aufgemacht hatte. Er ging an den Strand hinunter und blickte übers Meer, aber er wurde kein Boot gewahr. Der Gedanke tröstete ihn, daß, wenn Gräff nach Haage gerudert war, er lange, bevor das Unwetter losgebrochen, am Ziel gewesen sein mußte. Wie aber Kalland, der starke Mann, dort allein im Unwetter und Meeresbrausen stand, war es ihm, als ob er Gräff mitsamt seinen wilden Vorstellungen und Träumen nun besser verstände; und als er wieder hinaufging, sagte er wieder und wieder: »Ich glaub', das Meer hat ihn verrückt gemacht … ich glaub', das Meer hat ihn krank gemacht.«

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