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Eines Nachmittages hatte er gerade ein neues Boot abgeliefert und eine Weile gestanden und ihm nachgesehen. Dann ging er aufs Geratewohl davon, und ehe er sich's versah, befand er sich auf der Nordseite des Schwarzen Berges. Während er weiterging, meinte er Stimmen in der Nähe zu hören. Er blieb stehen und schaute sich lange und aufmerksam um, wurde aber keines Menschen gewahr. Da sah er, daß die Klippenfläche, auf der er stand, sich etwas weiterhin stark nach unten senkte; vielleicht saß jemand darunter.
Er ging dorthin und reckte den Hals. Richtig, da saßen zwei Männer. Sie hatten wohl viel getrunken, denn sie sahen besoffen aus. Der eine hielt eine Flasche in der linken Hand und schwenkte sie beim Sprechen hin und her. Er schalt den anderen aus und gebrauchte grobe Worte.
Der andere erwiderte keine Silbe. Er saß geduldig mit gesenktem Haupte da, und ließ die ganze Salve über sich ergehen. Nur selten blinzelte er einmal so von der Seite zu dem anderen hinauf und dabei hatte sein Blick etwas Heimtückisches. Als aber der erste die Flasche aus der Hand setzte und den anderen zu rütteln und auf den Nacken zu prügeln begann, wobei er ihn fragte, ob er, trotz seiner Dummheit, begreifen könne, daß alles, was er täte, nur zu seinem eigenen Besten geschähe, da brachte er klagend hervor, »daß alles vom Karussell käme – daß er es aber nicht ändern könne«.
Gräff ging weiter. Es war zum ersten Mal in all der Zeit, die er hier gewohnt hatte, daß jemand so weit hinaufgeklettert war, wie diese beiden. Deshalb war er eine Weile stehen geblieben und hatte gelauscht. Jetzt hörte er den ersten wieder schelten. Das von dem »Karussell« hatte ihm wohl nicht gefallen. Die Worte konnte Gräff nicht verstehen, denn er war schon weit fort.
Später am Tage, als Gräff den Wetzstein holen wollte, der draußen im Spaltkeil stand, sah er den Mann, der die Schelte bekommen hatte, vor dem Schuppen sitzen. Als er Jons ansichtig wurde, stand er auf und sagte laut: »Guten Tag!« Jon gab ihm den Gruß zurück, er aber tat, als höre er es nicht, und rief nach einer Weile wieder und sehr laut: »Guten Tag!« »Guten Tag,« antwortete Jon Gräff, ging hinein und schloß die Tür hinter sich zu.
Am nächsten Tage kam der Mann wieder. Er schwatzte wunderliches Zeug, tat aber so ernsthaft dabei, daß man glauben konnte, es habe mit dem, was er erzählte, seine Richtigkeit, wenn es sich nicht so verrückt angehört hätte. So erzählte er z. B., daß er einmal vierzehn Tage lang auf dem Meeresgrunde gewandert sei, vom Leuchtturm bis zur Hanegalsschäre, und von Muscheln und Schnecken gelebt habe, bis er dorthin gekommen wäre, wo die Meerweiber wohnten. Dort habe er dann alles bekommen, was er nur verlangte, sowohl Bergilte wie Makrelen. Und Meerweibermilch habe er getrunken, die war' so fett gewesen, wie Rahm.
Die Meerweiber seien feine Frauenzimmer! noch besser als die Kreolinnen! Und daß die Meerweiber einen Fischschwanz hätten, sei nicht wahr, sie hätten sowohl Schenkel wie Waden! … Und eine spanische Polka könnten sie tanzen, heißa!
Die Zeit, die er bei den Meerweibern verbracht hätte, sei die beste seines Lebens. Wenn er sich nur gezeigt, seien sie wie toll hinter ihm her gewesen – – – denn außer ihm habe es ja keinen einzigen Mann auf dem Meeresgrunde gegeben.
Dann folgten einige Erzählungen von ihm selbst und den Meerweibern, die sehr unflätig waren. Besonders eine war schlimmer als schlimm. Sie handelte von ihm selbst und der Meerkönigin.
Diese Meerkönigin sei ein ganz geriebenes Frauenzimmer! …
Als sie abends in der Kammer saßen, sang er etwas, daß er das Meerweiberlied nannte, und tanzte spanische Polka: er chassierte in vollem Galopp durchs Zimmer, setzte sich in die Hucke und richtete sich steif auf, schlug mit der Faust auf den Schenkel und quietschte in den höchsten Tönen: heja – haa – oi – iii … denn so sangen die Meerweiber.
Daß ein erwachsener Mensch sich so gebärden konnte! Gräff sagte gar nichts; er saß und sah sich die Komödie an, bis es Zeit zum Schlafengehen war. Da nahm er einige Decken von seinem Bett und machte dem Mann ein Lager auf der Bank in der Ecke zurecht. Er selbst zog seine Jacke aus und legte sich zum Schlafen nieder. Er war gerade im Begriff, einzuschlummern, da erwachte er dadurch, daß der Mann von neuem mit seinem Meerweibgesang anfing und tanzte und um sich schlug. Gräff sprang mit einem Satz aus dem Bett und packte den Mann bei der Schulter:
»Jetzt will ich Ruhe haben, verstanden!«
Der Mann wand sich, als täte Gräff ihm weh, und sagte leise, man solle ihm nicht drohen, sondern ihm nur einen freundlichen Wink geben. Während er das sagte, kniff er das eine Auge zu und sah Jon so an, daß man nicht wußte, ob es im Guten oder im Bösen gemeint war.
Und kurz darauf sagte er: »Ich bin so vergnügt gewesen, weil ich ein freier Mann in einem freien Land bin … man braucht nicht immer andächtig zu sein und sich das Weinen zu verbeißen. Es ist ein starkes Verlangen, daß man stets die Augen verdrehen soll.«
Am nächsten Morgen war er fort.
Bevor er aber seines Weges gegangen war, hatte er sich über die Schublade hergemacht, wo Gräff seine Lebensmittel aufbewahrte. Hier hatte er tüchtig herumgewühlt, Brot geschnitten und es gegessen. Außerdem hatte er eine Flasche Branntwein ausgetrunken, die Gräff liegen gehabt, seit er sie vor fast einem Jahr von dem Heuerbasen bekommen, der ein neues Boot für seinen Sohn bestellt hatte.
Vier Tage darauf hörte Gräff am Abend, als er noch bei der Arbeit war, wie jemand ans Fenster klopfte. Als er aufblickte, fuhr er zusammen, denn er sah ein schauerliches Gesicht, mit weißen Augen und ausgestreckter Zunge, wie bei einem Erhängten. Es dauerte eine Weile, ehe er erkannte, daß es der Mann von neulich war, der eine Grimasse schnitt. Einen Augenblick übermannte ihn die Wut und er ging mit geballten Fäusten hinaus, als er aber den Mann genauer ansah, entdeckte er, daß dieser so betrunken war, daß er sich kaum aufrechthalten konnte. Er schwankte hin und her, spuckte viel und lachte leise vor sich hin, bis er plötzlich in die Knie sank und sich erbrach. Und schließlich fiel er hin so lang er war, mitten in seine eigene Schweinerei, und blieb wie ein Toter liegen.
Als Gräff am nächsten Morgen herauskam, sah er den Mann am Ufer stehen und sein Zeug waschen. Darauf breitete er es zum Trocknen aus. Als er später in den Bootschuppen kam, war er still und manierlich. Er fragte: »Wie steht's?« und wiederholte mehrere Male: »Nun, wie steht's?« – Den ganzen Tag über ging er Gräff zur Hand und machte sich nützlich. Und diesmal sprach er nicht von den Meerweibern.
Er blieb die Nacht über da, den folgenden Tag und die Nacht darauf. Er konnte wohl schwer Schlaf finden, denn er lag nie ruhig, warf sich beständig hin und her; ab und zu sah er zu Gräff hinüber. –
Dieser war von jeher gewohnt gewesen, allein zu sein und hatte stets nur das Unbewegliche vor Augen gehabt. Besonders des Nachts war alles ganz still gewesen. Daß sich jetzt etwas auf der Bank rührte, mißfiel ihm. Er hing darum eine Decke vors Fenster, so daß es ganz dunkel in der Kammer wurde.
Eines Nachts aber, lange nachdem sie sich schlafen gelegt hatten, hörte Gräff den Mann in der Kammer umherschleichen. Er lag wach und lauschte. Es klang, als suche er etwas. Kurz darauf raschelte es leise bei der Truhe; sie wurde bewegt, denn es knackte so fein in dem alten Holz. Dann fing das Umherschleichen wieder an. Das währte fort, bis Gräff, fast ohne es zu wissen, laut zu schelten begann und bei allen Teufeln fluchte, daß er dorthin zurückkehren möge, wo er hergekommen sei.
Der andere tat, als wenn ihn das alles gar nichts anginge. Er erklärte ruhig, daß er just in diesem Augenblick erwache, daß aber Gräff wohl recht habe. Vielleicht sei wirklich jemand hier gewesen. Es seien immer viele Wesen in der Luft, die nicht sichtbar wären. »Ihre Anzahl ist Legio; das sagt Martin Luther.«
Er erklärte nicht näher, was er meinte, und Gräff fragte ihn nicht aus. Aber er lag noch lange wach und sann darüber nach.
Ein Tag verging und ein anderer kam, und der Mann blieb. Ab und zu half er bei der Arbeit, häufiger lag er ganz in der Nähe und angelte nach kleinen Fischen, die er zum Abendessen briet. Gräff hörte ihn nicht mehr des Nachts umherschleichen, aber seine Gesellschaft behagte ihm darum nicht besser. Es war ganz unmöglich, aus ihm klug zu werden. Er hatte gewiß etwas Schlechtes im Sinne. Gleichzeitig schien er nicht ehrlich zu sein. Oder was sollte man sich dabei denken, daß drei Mark und etwas Kleingeld vom Tisch verschwunden waren, wo sie eine Weile gelegen hatten? Gräff überlegte lange; er wollte mit dem Fremden darüber sprechen, aber er brachte es nicht über die Lippen.
Als sie eines Tages im Schuppen standen und sägten, hielt der Mann inne und sagte: »Still!« Sie lauschten beide; dann sagte er: »Nein, er kommt doch noch nicht!«
Ein ander Mal flüsterte er Gräff ins Ohr: »Er wird schon kommen, denn er ist nicht tot … er ist auf eine ganz seltsame Weise am Leben geblieben. Er hat sich mit seinem Messer durchs Eis gebohrt.«
Und eines Abends, als sie gerade das Licht löschen wollten, bat er Gräff, er möge eine Rebe im Weinberg sein, so eine, von der der Prophet spräche; ja, er möge eine »Gott wohlgefällige Rebe im Weinberg« sein und das Geld zurückgeben, das er durch den unrechten Mammon erlangt habe. Er – der fremde Mann – wolle es entgegennehmen und dem rechtmäßigen Besitzer übergeben. Gräff solle wissen, daß er ein ernsthafter Mann sei, wenn er auch im ersten Augenblick einen leichtlebigen Eindruck mache. Und alles dies täte er für die Seligkeit eines Menschen, denn wenn das Geld nicht bezahlt würde, dann läge ein unschuldiger Mensch als Betrüger in seinem Grabe; derselbe könne aber nicht zur Ruh' kommen; er lebe ab und zu wieder auf.
Oft wenn er so sprach, konnte Gräff von Entsetzen ergriffen werden. Es war, als läge etwas Böses auf der Lauer. Und obgleich der Mann keine bestimmte Person nannte, war es ihm klar, daß er von dem toten Schweden sprach.
Eines Nachts rief er: »Bootsbauer, Bootsbauer, ich bin so glücklich! ich glaub', ich hab' eine Offenbarung bekommen! und hörst du das Geläute vom Meere her, hörst du es!«
Gräff richtete sich im Bett auf und lauschte angestrengt hinaus. Vielleicht kam das Geläute von einem Fahrzeug her, das des Nebels wegen vor Anker gegangen war. Aber er konnte nichts hören. Der Mann blieb trotzdem bei seiner Behauptung, bis Jon schließlich auch etwas klingen zu hören meinte. Deshalb öffnete er die Tür und sah hinaus; die Luft war hoch und sternenklar, kein Fahrzeug konnte im Nebel liegen und läuten.
»Nein, hier gibt's weder Schiff, noch Glockengeläute,« sagte Gräff und kroch wieder unter die Pelzdecke. Es ärgerte ihn, daß er umsonst in seiner Nachtruhe gestört worden war. Und es schien, als ob er sie so bald nicht wieder erlangen sollte, denn der Mann sprach noch lange von dem Glockengeläute und diesmal sagte er rein heraus, daß es der Schwede sei, der draußen säße und läutete. Er käme näher und näher; vor einigen Tagen sei er noch weit fortgewesen, jetzt wäre er aber bald da.
Es wurde Gräff ganz schlimm zumute bei dieser Rede. Er konnte im ersten Augenblick nichts zur Erwiderung finden, und als er endlich Worte fand, kamen sie stoßweise und überstürzten sich, so daß man ihren Sinn nicht verstehen konnte. Die Worte aber, die er fand, schrie er heraus, wie nur ein gereizter Mann schreien kann, und in tiefstem Baß, das einem Geknurr glich.
Als er sich dann beruhigte, hatte er gar nicht das gesagt, was er eigentlich sagen wollte. Ja, er konnte sich kaum entsinnen, was ihm in der Eile entschlüpft war.
Der andere lag ganz still da und redete ihm gütlich zu wie ein Vater. Gräff müsse doch begreifen, daß das, was er sage, gar nicht aus ihm selbst käme; er hätte eine Offenbarung bekommen. Es sei Tau vom Himmelreich.
Der fremde Mann war heimtückisch. Er merkte, daß er die Oberhand gewann, denn er wurde immer sicherer und ernster. Er sang nie mehr das Meerweiberlied und tanzte keine spanische Polka mehr. Oft war seine Rede sogar gottlos und drohend: man fühlte sich nie auf sicherem Boden. Wenn er mit seinen Erinnerungen kam, geschah es nie in klaren Worten – oft hielt er auf halbem Wege inne. Man konnte sich versucht fühlen, ihm zuzurufen, daß er sich aussprechen solle; wenn aber Gräff ihn dazu aufforderte, tat er, als wenn er es nicht höre und fuhr auf seine Art fort.
Einmal aber, als Gräff im Begriff war, Kiefernhölzer zu schneiden, hielt er plötzlich in seiner Beschäftigung inne und stand eine Zeitlang ganz unbeweglich da. Etwas arbeitete in ihm, er suchte und suchte und langsam wurde ihm etwas klar. Wie ein Blitz durchfuhr es ihn dann, was der fremde Mann eigentlich wollte.
Ja, was wollte er? Was hatte er hier zu suchen? Was schlich er umher und durchsuchte die Truhe in der Nacht? Weshalb wollte er, daß Jon ihm Geld für den schwedischen Schiffer geben sollte, der tot und verwest war … Ha, er wollte es selbst haben … er wollte es selbst haben, der versoffene Kerl, der totgeschlagen, der unschädlich gemacht werden müßte …
Ein wilder Zorn ergriff Jon. Lust, ihn zu zerreißen. Er knurrte tief mit zusammengebissenen Zähnen. Er mußte ihn finden und Hand an ihn legen, sonst würde er verrückt werden. Messer und Kiefernhölzer flogen jedes nach einer anderen Seite und Jon stürzte hinaus, gerade auf den Mann los, der auf den Schuppen zu kam. Als dieser den Bootsbauer so ungewöhnlich rasch herankommen sah, blieb er stehen, als er aber Jon näher anschaute, stieß er vor Entsetzen ein langgezogenes: ai…i…i…! aus, machte kehrt und eilte wie der Blitz auf sein Boot zu. Hastig löste er das Tau; im selben Augenblick aber erreichte Gräff ihn und versetzte ihm einen Schlag in den Rücken, so daß der Mann aufschrie, als gälte es das Leben. Gleichzeitig ergriff er das Ruder und schlug mit aller Macht nach Gräff, stieß das Boot ab und ruderte aufrechtstehend davon. Von dem Augenblick an, da Gräff ihm den Schlag versetzt hatte, gab er ununterbrochen häßliche Schreie von sich, und damit fuhr er noch fort, als er schon ein weites Stück aufs Meer hinausgekommen war – während Gräff auf dem Felsenabhang zurückblieb und wie ein Wilder drohte und knurrte.
Von dem Tage an, blieb Gräff allein, denn der Mann kam nicht wieder. Aber er hielt sich wohl in der Nähe auf, denn als einst Leute aus Skarven kamen, erzählten sie von einem Mann, den Gräff zu kennen meinte. Dieser sollte voller Erzählungen über Meerweiber stecken und gleichzeitig habe er gesagt, daß er eine Zeitlang auf dem Meeresgrunde gewandert sei. Diesmal war es nicht vom Leuchtturm bis zur Hanegalschäre, sondern von Hölingen bis Skarven. Und etwas anderes, was auch neu war: auf dieser Reise sei er über und über mit Aalen und Krabben bedeckt gewesen, die sich an ihm festgebissen hätten. Letzteres schien die Leute besonders zu belustigen, denn sie lachten sehr, als sie es erzählten.
Im übrigen schienen sie ihn nicht sonderlich zu schätzen, denn sie warfen den Kopf in den Nacken und nannten ihn einen Landstreicher.