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Achtes Kapitel.

In zitternder Aufregung hatte Grothof das Haus der Frau Preger verlassen. Der Zettel, den er gelesen hatte, die Handschrift seiner Braut und schließlich die von der Polizei gefundene Spur des verunglückten Bootes, – das alles wirbelte durch einander in seinem Kopf, ohne sich zum festen Ganzen zusammenschließen zu wollen. In dem Boote, von dem er mit eigenen Augen ein Stück gesehen hatte, war Erna Herterich verunglückt. Siemens hatte nach dem Zettel, der aller Wahrscheinlichkeit nach von ihm stammte, bei dieser geheimnisvollen Bootfahrt seine Hand im Spiele gehabt. Wie hatte Siemens wissen können, daß ein Unfall, wie der tatsächlich geschehene, seiner Braut begegnen würde?

Sein Haß gegen Siemens trieb den Maler immer wieder an, eine Lösung des Rätsels zu versuchen. Was konnte diese Wasserfahrt bedeuten? Ja, wenn Siemens mit im Boote gewesen wäre, dann hätte sich auf dem Flusse draußen schon die Gelegenheit für ein Verbrechen finden können. Aber nach der Angabe des Kapitäns hatte sich in dem von seinem Dampfer überfahrenen Boote nur eine weibliche Gestalt befunden. Höchstens eine Möglichkeit gab es noch: Wenn Erna Herterichs Verlobter sie in ihrem leidenschaftlichen Gefühle gekränkt und so zur Verzweiflung getrieben hätte, dann wäre die Bootfahrt vielleicht nur ein geschickt suggeriertes Mittel gewesen, um sie zum Selbstmorde zu bringen.

Aber was war es gewesen, womit Siemens die Braut so zur Verzweiflung brachte? Bei dieser Frage griff die Tragödie der beiden Beteiligten auf den Maler selbst hinüber. Wenn sein Verdacht richtig war, wenn Siemens wirklich Grothofs Braut nachstellte, dann wurde Berta Haverland wissentlich oder unwissentlich in dem furchtbaren Drama zur Mitspielerin. Und in diesem Lichte gewann der Brief mit ihrer Handschrift unter den Papieren der Frau Preger eine furchtbare Bedeutung für ihn selbst.

Von diesen Gedanken bedrängt, verbrachte der Maler die Nacht ohne Schlaf. Selten war ihm des Morgens erste Helle so willkommen gewesen wie heute. Ein erzwungen langsames Frühstück mußte die Zeit hinbringen helfen, bevor er fortgehen konnte. Sein erster Weg galt einem Freunde von auswärts, der für ein paar Tage hier im Hotel wohnte. Der sollte sein Helfer werden bei dem fingierten Verkaufe des mitgenommenen Pokals. Als lustiger und hilfsbereiter Mensch fand er großes Gefallen an der ihm zugedachten Rolle, sodaß er mit Vergnügen den Vorschlag des Malers begrüßte. Nachdem Grothof so seines Planes Ausführung vorbereitet hatte, ging er in aufgeregter Eile nach Frau Pregers Wohnung hinaus.

Da Grothof es klug vermied, von dem ihr offenbar sehr unangenehmen Besuche der Polizei zu sprechen, und gleich von dem kleinen Handelsgeschäfte begann, wurde die Frau zugängig. Er wickelte den Pokal aus und wies ihn ihr mit einem Lobe seiner Schönheit. Ihr aber war der Begriff der Schönheit offenbar nur insofern interessant, als er sich in Geld umsetzen ließ. Mit einem Anflug von Eifer fragte sie: »Was kann der wert sein?«

Der Maler nannte den Preis, den er mit seinem Freunde verabredet hatte, dann trieb er sie an, sich gleich zum Ausgehen fertigzumachen. Nachdem sie noch einen Augenblick nachgedacht hatte, sagte sie: »Fünfzehn Prozent, ja, dafür will ich es tun. Ich mache mich gleich fertig. Das Kind hat seine Milch gehabt, es wird ruhig schlafen.«

»Darf ich Sie hier erwarten?« fragte der Maler. »Es wäre vielleicht auch wegen des Kindes gut, wenn –«

Sie fiel ihm ins Wort, ohne Lebhaftigkeit aber mit bestimmter Kälte. »Nein, dazu kennen wir einander noch zu wenig. Wenn Sie wieder vorsprechen wollen –«

»Gewiß. Ich will noch einen Spaziergang machen und komme möglicherweise schon auf dem Rückwege vor. Aber unter dem angesetzten Preise dürfen Sie mir nicht verkaufen.«

»Das wird in meinem eigenen Interesse nicht geschehen.«

Während sie hinausging, sich Hut und Mantel zu holen, trat Grothof rasch ans Fenster heran, dessen Verschluß er öffnete, während er es im übrigen unverändert ließ. Schnell ging er dann wieder auf seinen Platz.

Frau Preger kam eilig zurück, und gemeinsam verließen sie das Haus. Sobald sie draußen waren, verabschiedete sich Grothof und wandte sich nach der Seite, wo die Straße bald in freies Land hinausführte. Dorthin ging er dann wirklich eine Strecke weit.

Nach einiger Zeit wandte Grothof sich um und schaute zurück. Er hatte sich nicht verrechnet; Frau Preger war verschwunden, er durfte zur Ausführung seines Planes übergehen. Doch er zwang sich zum gemäßigten Spaziergangstempo. Nur sein Herz ging in raschem Takte. So kam er zu dem vor kurzem erst verlassenen Häuschen zurück. Voll erzwungener Behäbigkeit betrat Grothof den Garten und schaute sich suchend um. Wenn er sich nahe der hinteren Hauswand hielt, konnte er nicht gesehen werden. Dann trat er mit ein paar Schritten zum Küchenfenster, dessen Verschluß er vorher geöffnet hatte, drückte die Flügel nach innen und schwang sich leicht über die niedrige Brüstung in die Küche. Tief aufatmend fand er sich am ersehnten Ziel.

Der Küchentisch hatte keinen Verschluß, die Schublade ließ sich vorziehen. Was er zunächst bemerkte, war das Fehlen des Zettels, den er gestern in Händen gehabt hatte. Aber ein kleiner Packen anderer Schriftstücke war noch vorhanden, obenauf das Kontobüchlein der ordnungsliebenden Frau, und dann lag vor ihm der bisher nur flüchtig gesehene Briefumschlag, auf dem die vertraute Handschrift seiner verschwundenen Braut unleugbar zu ihm sprach.

An Frau Preger war der Brief gerichtet, ihr Name stand auf dem Umschlag. Grothof holte das darin verborgene Blatt hervor und las die wenigen Zeilen, die darauf geschrieben standen:

 

Liebe Frau Preger!

Ich schicke hier die nötige Summe für Evchens Pflege. Wie traurig war ich, als ich von ihrer Krankheit hörte. Sparen Sie nichts, damit nur der kleine Liebling wieder gesund wird; ich werde für alle Kosten aufkommen. Herr Doktor S., von dem Sie wissen, wie liebevoll er sich meiner annimmt, wird in den allernächsten Tagen persönlich einmal zu Ihnen kommen und mir berichten. Ich bitte Sie noch einmal, machen Sie mein Kind wieder gesund!

B. H.

 

Ein Gefühl, als ob der Boden unter seinen Füßen fortgezogen würde, kam über den Maler. Die Züge der Schrift verschwammen vor seinen Augen, die mit grausamem Nachdruck bestätigte, was er schon wußte: daß diese Worte von der über alles Geliebten stammten. Zwei von ihnen klangen mit mörderischer Schärfe hervor aus den übrigen, die vernichtenden Worte ›Mein Kind‹. Alles andere verging vor dieser Bestätigung von etwas unmöglich Erachtetem. Hier also war das Geheimnis verborgen, das immer hindernd vor sein Glück hingetreten war, wenn er nach ihm greifen wollte. Berta war die Mutter dieses Kindes!

Er mußte sich niedersetzen, seine Kräfte versagten unter dem furchtbaren Schlage. Erst nach und nach kämpften sich Gedanken und Vorstellungen wieder aus dem brausenden Dunkel hervor. Seine Braut wurde für ihn zum beklagenswerten Opfer eines übermächtigen Verführers. Und er wußte, wer dieser Verführer war. Der Mann, von dem sie geschrieben hatte, daß er sich ihrer ›so liebevoll annähme‹. Sehr liebevoll, in der Tat!

Gab es nicht etwa noch deutlichere Zeugnisse hier in diesem Versteck, die den Schändlichen vollends entlarvten? Grothof sprang wieder auf und begann, abermals unter den Papieren zu suchen. Aber kein weiterer Brief Bertas war zu finden. Dieser eine Brief aber genügte vollauf, um Grothofs Erbitterung auf Siemens hell wieder anzufachen.

Er barg mit einem letzten, schmerzlichen Blicke den Brief Bertas wieder in seiner Hülle, legte die Papiere zurück an ihren Platz und schaute vorsichtig zum Fenster hinaus. Menschenleer wie zuvor lagen die Gärten; er konnte die Fensterbrüstung wieder ungesehen übersteigen.

Sein Rückzug blieb unbemerkt wie sein Kommen, und als er die Fensterflügel sorgsam wieder angelehnt hatte, ging er um das Haus herum zur Straße zurück. Eine Sehnsucht nach einsamer Stille kam über ihn, und er wandte sich wieder dem Flußlaufe zu. Mit gesenkten Blicken ging er, vor sich hingrübelnd, ein paar Minuten lang dahin. Dann hob er den Kopf und sah nun in einiger Entfernung vor sich eine weibliche Gestalt. Bei ihrem Anblick durchfuhr ihn ein furchtbarer Schreck. Wuchs, Haltung, Kleidung, – vor allem die Kleidung, – Gott im Himmel, das war ja seine verschwundene Braut! In diesem violetten Kleide, in diesem grauen Mantel war sie noch am Tage vor der Bergschen Tragödie neben ihm gegangen.

Er verdoppelte seine Schritte, fing an zu laufen, rief: »Berta! Berta!« Nun wandte sie sich um und blieb stehen. Jetzt stand er vor ihr und – – taumelte zurück wie vor einer Spukerscheinung. Die da vor ihm war nicht seine Braut! Aber sie trug ihre Kleider. –

»Mein Fräulein, – Sie sind vielleicht erschrocken über mein Betragen. Ich habe Sie für meine Braut gehalten. Sie sind es nicht, aber Sie tragen ihre Kleider, und Sie müssen, – müssen mir Auskunft geben, wie dieser Mantel, dieses Kleid, in Ihren Besitz gekommen sind.«

Mehr und mehr hatte sich des Mädchens hübsches Gesicht zum Weinen verzogen, jetzt brachen die Tränen hervor. »O, bitte, bitte, machen Sie mich nicht unglücklich, verraten Sie mich nicht. Sie sollen alles wissen, – aber nicht hier draußen. Das da vor uns ist meiner Mutter Haus, bitte, bitte, kommen Sie mit mir herein.«

Er stimmte zu, und sie betraten zusammen das Häuschen der Mutter, einer in traurigen Hungertagen bleich und mager gewordenen Frau. – Verwirrt und ungeordnet beichtete diese, wie sie zu den Kleidern gekommen wäre, und trotz der Verwirrung machten ihre Worte den Eindruck der Wahrheit.

Die Mutter – das war der Kern ihrer Erzählung – hatte noch die Gewohnheit, auf einem gegenüberliegenden Grundstück im Flusse ihre Wäsche zu spülen. Dabei war ihr vor einigen Tagen ein auf und nieder schwankender Gegenstand im Wasser aufgefallen, den sie dann mit einem Haken ans Land gezogen hatte. Das in ein Tuch eingeknotete Bündel war durch Gottes Fügung, wie die Frau gemeint hatte, gerade hier neben ihrem Waschplatz am Nagel eines Pfahls im Wasser hängen geblieben. Eilig war sie damit ins Haus gelaufen und hatte ausgepackt, was ihr der Himmel beschert hatte. Sie hatte die Sachen sorgsam gereinigt und hergerichtet, und heute zum ersten Male hatte das junge Mädchen Kleid und Mantel getragen.

Grothof nahm fast ohne Vorwurf die Mitteilung der Frau auf, bat sie sogar, das aufgefundene Zeug vorläufig zu verwahren. Daß jenes vor seinen Augen ins Wasser geworfene Bündel es war, das hier so rasch neue Besitzer gefunden hatte, war ihm keinen Augenblick zweifelhaft. Aber er fürchtete sich vor neuen Enthüllungen.

Kurz nahm er Abschied von den beiden Frauen, deren Tränen immer aufs neue flossen, doch gab er ihnen das Versprechen, der Polizei fürs erste keine Nachricht von ihrem Funde zu geben. Taumelnd, mit unsicheren Schritten trat er auf die Straße hinaus und schlug fast willenlos den Weg zur Stadt hin ein. Erst bei Frau Pregers Haus kam ein erneutes Wirklichkeitsbewußtsein über ihn. Eine furchtbare Wut gegen Siemens packte den Maler wieder, indem er sich fragte, wie dieser Mensch in den Besitz von Bertas Kleidern gekommen sei. Diese Kleider hatte sie getragen bei der Flucht aus der Villa van Berg, nun waren sie im Wasser gefunden worden, von Frau Preger hineingeworfen auf Siemens' Befehl. War das nicht ein Beweis, daß auch Bertas Leben ihm zum Opfer gefallen war? Das phantastische Bild eines doppelten Mordes erschien auf einmal vor seiner aufgeregten Seele. Mit knirschenden Zähnen, mit geballten Fäusten ging er dahin; zischend sprach er eine wilde Drohung ins Leere hinein: »Hüte dich, – hüte dich vor mir!«


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