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Eine Nacht war hingegangen, seit Erna den Weg ins Verderben gemacht hatte. Jetzt war wieder neues Licht in der Welt, und es fiel auch in das Amtsgemach des Kriminalrats Dr. Karl Berninger. Er saß an seinem Arbeitstisch, auf dem ein offenes Aktenheft vor ihm lag. Ein zur Protokollführung bestimmtes, ältliches Männchen mit einem klugen, kahlen Kopfe beugte sich über einen anderen in der Nähe stehenden Tisch und studierte im Strafgesetzbuch.
Jetzt richtete Berninger an seinen Adlatus Naumann eine Frage: »Haben Sie gesehen, ob unsere Plakate schon angeschlagen sind?«
»Jawohl, Herr Doktor! Die Leute stehen bereits in Haufen davor. Aber ob die Plakate diesmal mehr einbringen werden als falsche Bekundungen –«
»Wir müssen es abwarten. Die Haverland hat einen Vorsprung von ein paar Tagen; sie hat sich schon in Sicherheit bringen können. Ich bin eben dabei, den Fall van Berg nach Ihrem Protokoll noch einmal durchzugehen. Die Sache liegt anscheinend sehr einfach. Durch die Flucht hat sich diese Haverland eigentlich selbst schon ihr Urteil gesprochen.«
Herr Naumann antwortete nur mit einer Neigung des Kopfes, in der sich ein wenig Zweifel aussprach. Berninger aber wandte sich wieder seinem Aktenstudium zu.
Ja, so war es: Im Villenvorort Heide war vor drei Tagen abends Herr Christian van Berg mit Morphium vergiftet worden. Er war schon längere Zeit schwer leidend gewesen, wenn er auch seine – vielleicht nicht ganz einwandfreien Geldgeschäfte bis kurz vor seinem Tode vom Krankenlager aus fortgeführt hatte. Jeden Abend bekam er eine ziemlich starke Dosis Morphium in Wasser, um seine Schmerzen für die Nacht erträglich zu machen. Die Tropfen waren ihm bis vor einiger Zeit von seiner Frau Hilde, geborenen Urban, regelmäßig persönlich gereicht worden; seit ein paar Wochen hatte sie jedoch dieses Amt ihrer Gesellschafterin, Fräulein Berta Haverland, übertragen. Sie selbst hatte sich ihrer Angabe nach die Nerven durch die lange Krankenpflege völlig ruiniert, und so hatte sie begonnen, gegen Abend ausgedehnte Spaziergänge zu machen. Auch an dem Abend, als ihr Mann starb, war sie nicht zu Hause gewesen und erst wiedergekommen, als er schon tot war. Der Kranke hatte während ihres Fortseins Besuch von einer ihrer Verwandten, Fräulein Erna Herterich, gehabt. Beim Fortgehen Fräulein Herterichs hatte der Diener die Gesellschafterin rufen müssen, weil sie sich von ihr verabschieden wollte. Fräulein Haverland war im großen Gartenzimmer gewesen, als der Diener sie suchte; gerade hatte sie dort aus einem kleinen Wandschrank das Morphium-Fläschchen herausgenommen und neben einem Glas mit Wasser auf den Tisch gestellt. In Begleitung des Dieners war Fräulein Haverland auf den Flur hinausgegangen und hatte dort ein paar Minuten lang mit Erna Herterich gesprochen, die dann das Haus verlassen hatte.
Als Berninger so weit im Lesen gekommen war, machte Naumann eine der Bemerkungen, die den Vorgesetzten immer aufs neue überraschten.
»Die paar Minuten, in denen Fräulein Haverland mit Fräulein Herterich auf dem Flur draußen sprach, standen Wasserglas und Morphiumtropfen unbeaufsichtigt im Gartenzimmer.«
Berninger lachte. »Mein lieber Naumann, Sie zimmern sich wohl wieder einen Kriminalroman zusammen?«
»Ich denke nur an den Fall Winterstein, in dem die Sache ähnlich lag. Damals kam es gerade noch zu rechter Zeit heraus, daß ein scheinbar Unbeteiligter Gift in das ebenfalls unbeaufsichtigte Glas geschüttet hatte. Sonst hätte man leicht einen Unschuldigen geköpft.«
Ein wenig Mißbehagen war jetzt in Berningers Lachen, als er antwortete: »Die Nürnberger köpfen keinen, sie hätten ihn denn. Wer aber sollte den Mord verübt haben, wenn nicht Fräulein Haverland?«
»Herr Doktor, ich frage nur, wer außer ihr die zu große Dosis des Giftes in das Glas hineingetan haben könnte, bevor sie wieder ins Gartenzimmer kam und es holte?«
»Mein lieber Naumann, Sie werden heute wieder Herr Phantasus!« entgegnete Berninger.
»Macht nichts. Der Herr Phantasus hat schon ein paarmal mit seinen Phantastereien recht behalten.«
»Soll nicht abgestritten werden! Aber wen haben Sie denn als Mörder in petto, wenn Fräulein Haverland unschuldig sein soll?«
»Noch keinen Bestimmten. Ich frage bisher nur, wer es außer ihr getan haben kann? Es waren, von ihr und Herrn van Berg abgesehen, an dem Abend unseres Wissens nur noch drei Personen im Hause; Frau van Berg war ausgegangen, Fräulein Herterich war fort. Blieben also: die Köchin, das Hausmädchen, der Diener, die aber meines Erachtens weniger in Frage kommen. Viel wahrscheinlicher ist mir, daß der Mörder von außen gekommen ist.«
»Von außen?«
»Jawohl, aus dem Garten. Wir kennen doch die Lage des kleinen Vorzimmers. Dann folgt ebenfalls nach dem Garten hinaus, neben dem Vorzimmer der geräumige Flur. Von ihm aus konnte niemand eindringen, weil hier Fräulein Herterich mit Fräulein Haverland sprach. Wohl aber von der anderen Seite des Gartenzimmers.«
»Dort läuft ein schmaler Korridor nach einem Seiteneingang für die Lieferanten.«
»Jawohl, jawohl!« Phantasus war in Feuer gekommen. »Diese Tür wurde nie vor neun Uhr abends geschlossen, wie der Diener bekundet hat. Wer die Gelegenheit genau kannte, für den war es das Werk von ein paar Minuten, hier einzudringen. Er konnte von außen sehen, ob das Gartenzimmer leer war, brauchte nur die Tür des Nebeneingangs aufzumachen und konnte mit einem Griff auch die nahe gelegene Zimmertür öffnen.«
»Das wäre doch ein höchst gefährliches Unternehmen gewesen! An die Sache kann ich nicht glauben, wenn ich sie selbst auch bereits in Betracht gezogen habe.«
Phantasus legte den Kopf auf die Seite: »Das Unternehmen war ziemlich ungefährlich, wenn der Eindringling in irgendeiner Beziehung zum Hause stand, also dort anstandslos aus- und eingehen konnte.«
Berninger lachte: »Ich merke schon, worauf Sie zielen. Ihre Vorbedingung trifft ganz ausgezeichnet auf Fräulein Herterich zu. Sie wußte genau dort Bescheid, konnte nach dem Gespräch mit Fräulein Haverland rasch durch den Garten gehen, die beiden Türen öffnen, das Gift in das Glas tun und so den Mann ihrer Kusine vergiften. So war es gemeint, nicht wahr?«
Naumann legte den Kopf noch ein wenig mehr auf die Seite. »Doch nicht so ganz, Herr Doktor. Der Fall ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Da könnten doch andere Leute noch eher in Frage kommen. Herr van Berg war ein reichlich dunkler Ehrenmann, und sein Tod bedeutet keinen Verlust für die Menschheit. Aber solch ein Mann hatte natürlich unter seinen sogenannten Freunden bittere Feinde.«
»Ach, Unsinn, Phantasus! Machen Sie mir den Kopf nicht wirr. Wir haben in der für eine Schuldlose völlig sinnwidrigen Flucht Fräulein Haverlands einen starken Beweis für ihre Schuld.«
Naumann machte mit Kopf und Schultern eine zweifelnde Bewegung. »Es war kaum wunderbar, wenn sie Besinnung und Überlegung verlor. Sie war von Frau van Berg als Giftmischerin beschuldigt worden. Sie selbst, sehr verehrter Herr Doktor, hatten eine Menge verdächtiger Indizien um sie aufgehäuft, – da muß ein junges Mädchen schon eine hübsche Summe gesunden Menschenverstandes haben, wenn es keine Dummheiten machen soll.«
»Ach was, darum braucht man doch nicht bei Nacht und Nebel zu verduften!«
»Man brauchte es nicht. Aber solche Torheiten können sehr menschlich sein, wenn man sich unschuldig verfolgt fühlt.«
»Unschuldig! – Wer sagt Ihnen denn, daß dies Fräulein Haverland unschuldig ist?«
»Mein Gefühl, Herr Doktor! Ich habe sie genau beobachtet und behaupte: so beträgt sich keine Schuldige.«
Berninger, der ärgerlich aufgesprungen war, ging ein paarmal überlegend auf und ab. Dann nahm er seinen Sitz wieder ein und sagte: »Na, schuldig oder unschuldig, die Person ist uns jedenfalls durch die Lappen gegangen, und wir werden –«
Ein Öffnen der Tür unterbrach ihn, und ein Schutzmann meldete –, daß die Schneiderin Minna Hilsenbeck eine Meldung in der Mordsache van Berg zu machen wünsche.
Berninger gab Auftrag, sie hereinzuführen. »Da geht es los, das Gelaufe nach ausgeschriebenen Belohnungen. Wollen sehen, was diesmal dabei herauskommt!«
Fräulein Hilsenbeck ging mit kleinen Schritten auf Berninger zu: »Hier bin ich doch wohl am rechten Ort, um wegen der ausgeschriebenen Belohnung etwas auszusagen?«
»Allerdings. – Was haben Sie zu berichten?«
»Der Herr Doktor müssen mir gütigst gestatten, zunächst ein paar Worte von mir selbst zu sagen. Ich bin Schneiderin und arbeite für die reichsten Häuser der Stadt. Auch Frau van Berg darf ich zu meinen Kundinnen zählen.«
»Haben Sie für Fräulein Haverland auch gearbeitet?«
»Ich wollte darauf gerade kommen. Das eine muß ich nur noch bemerken, daß ich stets nur nach eigenen, selbstgezeichneten Modellen arbeite, deshalb auch kein Stück aus der Hand gebe, das ich nicht sofort auf den ersten Blick als meine Schöpfung wiedererkenne. – Vor kurzem nun hat Fräulein Haverland sich einen Mantel von mir machen lassen. –«
»Von welcher Farbe war dieser Mantel?«
»Von einem sehr feinen, ganz aparten, dunklen Grau, mit etwas Gelb gemischt. Und ein Besatz befand sich darauf, der einfach aber wirklich außerordentlich geschmackvoll war.«
»Solch ein Mantel wird in der Tat im Zimmer von Fräulein Haverland vermißt. Aber was haben Sie weiter über diesen Mantel zu sagen?«
Minna Hilsenbeck trat stolz ein paar Schritte vor. »Daß ich Fräulein Haverland mit meinen Augen gestern abend in ihm gesehen habe.«
»Gestern abend? Bedenken Sie, was Sie sagen!«
»Ich habe das bedacht, wieder und wieder, seit ich heute früh das Plakat angeschlagen sah. Fräulein Haverland war mir nämlich recht sympathisch, bevor sie dies furchtbare Verbrechen beging. Ich habe mich wohl hundertmal gefragt: Soll ich das Mädchen verderben? Aber ich habe mir dann auch wieder sagen müssen: Die Polizei würde keine so hohe Belohnung aussetzen, wenn sie nicht ihrer Sache gewiß wäre.«
»Wann und wo glauben Sie, Fräulein Haverland gestern gesehen zu haben?«
»Ganz nahe bei meiner Wohnung in der Steintorstraße. Ich war aus gewesen, um meine Freundin zu besuchen, und ging auf meiner Straßenseite. Da kam eine weibliche Gestalt gegenüber auf der anderen Seite hinter mir her und überholte mich. Und sobald sie von einer Laterne hell beleuchtet wurde, fiel mir ihr Mantel in die Augen, und ich hätte beinahe laut aufgeschrien: ›Das ist ja Fräulein Haverland!‹«
»Nach ihrer Schilderung haben Sie die Dame nur von hinten gesehen.«
»Das allerdings, aber es ist kein Zweifel möglich!«
»Sind Sie ihr nicht weiter nachgegangen?«
»Nein! Ich wußte ja damals noch nichts von der Belohnung; außerdem verschwand Fräulein Haverland gleich darauf in einem Hause mir gegenüber.«
»Wissen Sie, wer dort wohnt, und welche Nummer es hat?«
»Nummer 75 ist es, und es wohnen eine Menge Leute darin. Wenn ich aber eine Vermutung äußern darf, – ich glaube, daß Fräulein Haverland wahrscheinlich den Herrn Rechtsanwalt Siemens aufgesucht hat. Ich weiß, daß die beiden einander kennen.«
»Um welche Zeit haben Sie gestern das Fräulein gesehen?«
»Um welche Zeit? Ja, da muß ich mich erst einmal besinnen. Es kann so zwischen sieben und acht Uhr gewesen sein, vielleicht auch schon acht Uhr, – genau kann ich es nicht sagen.«
»Das ist sehr schade. Besinnen Sie sich nur zu Hause noch einmal genau. Für heute will ich Sie nicht mehr weiter bemühen.«
»Kann ich die Belohnung nun gleich mitnehmen?«
»So rasch geht es damit nicht. Nur wenn wir auf Grund Ihrer Angaben die Spur von Fräulein Haverland aufgefunden haben, läßt sich weiter darüber sprechen.«
»Ach so!« Die Schneiderin zeigte den Ausdruck deutlichen Mißvergnügens und empfahl sich, nachdem ihre Wohnung notiert worden war.
»Das ist eine tolle Sache!« rief Berninger, als er mit Naumann wieder allein war. »Die Haverland ist uns vor drei Tagen durchgegangen, und nun ist sie gestern abend noch hier umhergelaufen, hat anscheinend sogar meinem Freund Siemens einen Besuch gemacht. Wie denken Sie darüber, Phantasus?«
»Ich denke, daß ausgeschriebene Belohnungen merkwürdige Resultate zeitigen.«
Ein erneutes Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Auf sein »Herein!« erschien Rechtsanwalt Siemens auf der Schwelle, schwarz gekleidet, mit bleichem aber beherrschtem Gesichte.
»Das ist famos!« rief Berninger und stand auf, um seinen Freund zu begrüßen. »Ich hätte Sie zwei Minuten später telephonisch angerufen, Siemens. Sie bringen mir Nachricht von der Vermißten?«
Erstaunen in den Blicken, schaute Siemens ihn an. »Sie wissen schon? Ich komme her, um Nachricht von Ihnen zu hören, wenn es möglich ist.«
»Aber sie war doch gestern abend in Ihrem Büro?«
»Von wem sprechen Sie denn?«
»Von dem uns entkommenen Fräulein Haverland.«
»Von ihr weiß ich nichts. Früher allerdings war sie tatsächlich ein paarmal bei mir wegen eines juristischen Rates, aber wenn sie wirklich gestern abend wieder bei mir gewesen sein sollte, so war sie vergeblich dort. Ich war von sieben bis neun Uhr in einer Sitzung. Nein, ich bin hier in einer mich persönlich sehr nahe berührenden Angelegenheit. Meine Braut, Fräulein Herterich wird seit gestern abend vermißt. Ich habe sie gestern vormittag zuletzt gesehen. Abends hat sie dem alten Fräulein, das ihr den Haushalt führt, Urlaub erteilt, weil sie selbst ihrer Angabe nach eingeladen war. Mir hat sie von einer solchen Einladung nichts gesagt. Als die Haushälterin sie heute morgen wecken will, findet sie Bett und Schlafzimmer leer. Sie ist dann gleich zu mir gestürzt, und ich bin hier, um die Hilfe der Polizei zu erbitten.«
Berninger schüttelte voll Erstaunen den Kopf. »Da hätten wir ja zwei Vermißte, Verschwundene zu gleicher Zeit! – Verzeihen Sie, lieber Siemens, wenn dieser Gedanke zuerst in mein amtliches Gehirn kommt. Für Sie tut mir die Sache natürlich furchtbar leid. Ich sprach Ihr Fräulein Braut ja noch vorgestern bei der Vernehmung in der Sache van Berg. Nicht wahr, Fräulein Herterich ist eine Kusine von Frau van Berg?«
»Allerdings, ihre Väter waren wenigstens Vettern.«
»Und Sie haben gar keinen Anhalt für das Verschwinden Ihrer Braut?«
»Gar keinen!«
»Ich denke, die Sache klärt sich vielleicht noch ganz harmlos auf. Fräulein Herterich kann sich verspätet haben, kann unpäßlich geworden sein –«
In seinen Trostesworten wurde Berninger wieder unterbrochen; diesmal war es das Telephon. Er ging zum Apparat, sprach, hörte, hing den Hörer an seinen Haken zurück und wandte sich dann langsam um. Nun sprach er:
»Mein lieber Siemens –«
»Was ist? Warum sprechen Sie nicht weiter?«
»Mir ist eben eine traurige Nachricht zugegangen. Man hat Ihr Fräulein Braut gefunden, aber –«
»Aber?«
»Nicht mehr am Leben. Aus dem Flusse hat man ihre Leiche gezogen. Der Körper muß unter einen der ausfahrenden Dampfer gekommen sein. Ein Paß in der Tasche des Mantels aber und auch die Kleider selbst lassen über die Persönlichkeit leider keinen Zweifel.«
»Tot!« sagte Siemens mit gesenktem jedoch merkwürdig unbewegtem Gesicht. So stand er einen Augenblick schweigend, um dann den Kopf rasch zu heben. »Ich möchte sie sehen. Wo ist sie?«
»Ich gehe sofort selbst mit Ihnen. Kommen Sie.«
Nach einem flüchtigen Gruß zu Naumann hinüber folgte Siemens dem voranschreitenden Berninger. Drinnen aber hielt Phantasus einen kleinen Monolog. »Donnerwetter! An zuviel Gefühlswärme leidet unser Herr Siemens nicht. Kalt wie 'ne Hundeschnauze!«